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Ausgabe:

März/2010

Spalte:

327-330

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Wallraff, Martin, u. Rudolf Brändle [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Chrysostomosbilder in 1600 Jahren. Facetten der Wirkungsgeschichte eines Kirchenvaters.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2008. X, 466 S. m. Abb. gr.8° = Arbeiten zur Kirchengeschichte, 105. Lw. EUR 128,00. ISBN 978-3-11-019824-9.

Rezensent:

Andreas Heiser

Der Band geht auf die internationale Fachtagung zu Johannes Chrysostomus zurück, die vom 25. bis 27. Januar in Castelen bei Basel zur Eröffnung des Chrysostomusjahres 2007 stattfand. Um die Wirkung des Lebens und Werkes auf die Nachwelt zu erklären, genügt der Rückgriff auf die Lebensbeschreibungen und des Chrysostomus eigene Schriften allein nicht. In den Beiträgen wird das »Chrysostomusbild« nach dem Tod des Protagonisten zum Gegenstand eigener historischer Reflexion gemacht. Die Besprechung kann (wie der Band selbst) kein Chrysostomusbild unter systematischen Gesichtspunkten entwerfen, sondern lediglich die Facetten von Chrysostomusbildern, die von Forschern aus unterschiedlichen Kontexten, Nationen und Disziplinen aufgezeigt wurden, nachzeichnen. Die Rezension soll jedoch anhand von acht Schwerpunkten hervorheben, wie weit die Erforschung der Wirkungsgeschichte des bedeutenden Kirchenvaters heute entwickelt ist und wo Anknüpfungspunkte für weitere Forschungen liegen.
1. Die Predigten des Johannes Chrysostomus sind in ihrem spezifischen historischen Kontext wahrzunehmen. Meisterhaft liest F. Graf (3–22) die Predigten des Chrysostomus gegen die Kalenden aus den Jahren nach 389 als subtilen Protest gegen jene kaiserliche Entscheidung vom 7.8.389, die Gerichtsferien für allgemeine Feiertage (neben Ostern und Sonntag eben auch für die Kalendae Ianuariae) festlegte.
2. Der Einfluss der pro-Chrysostomischen Bewegung, der sog. Johanniten, auf die frühe Hagiographie bietet ein noch frisches Forschungsfeld. M. Wallraff (23–37) stellt die kanonisch gewordenen Schriften zur Biographie (Pseudo Martyrius, Panegyricus und Palladius, Dialagus) als gezielte johannitische Propaganda dar. Die Johanniten machten sich die Überlieferung des Chrysostomischen Schriftgutes und die Produktion von Pseudo-Chrysostomica zu eigen. Der Versuch, diese »Bewegung von unten« (36) mit Namen zu verbinden, führt auf Proclus und Philippus von Side, deren Rolle in der johannitischen Opposition ein Feld für weitere Forschung öffnet (erste Hinweise: 37, Fn. 51). Die Gründe für die Durchsetzung eines pro-johannitischen Bildes liegen nach W. Mayer (53–59) in der Aufnahme des Chrysostomus in die Diptychen unter Atticus (406–425 n. Chr.) und in seiner Rehabilitation unter Theodosius II. In der Zeit zwischen 430–451 führten Auseinandersetzungen um die Christologie zur Zementierung des Bildes von »John the Saint« (51). Werden historisch die Johanniten als Trägerkreis der Pseudo-Chrysostomica plausibel gemacht, so bietet S. J. Voicu (61–96) 13 Kriterien, die der Bestimmung verschiedener Modi von Pseudo-Chry­sos­tomica dienen. An vier »casi esemplari« werden die Kriterien erprobt, die auch in Zukunft die Erhellung von Chrysostomusbildern in diesem Textcorpus fördern werden.
3. Allein die Überlieferungsgeschichte der Chrysostomustexte legt eine Erforschung der Wirkungsgeschichte des Chrysostomus aus der Perspektive der Ostkirchenkunde nahe. K. Pinggéra (193–211) skizziert drei Facetten des Chrysostomusbildes der ostsyrischen Kirche. M. Illert (213–222) zeigt anhand ausgewählter Texte aus der altbulgarischen Literatur, wie die Zaren ein homogenes Chrysostomusbild favorisierten und auf die »integrative Funktion bei der Herausbildung der orthodoxen Staatskirche in Bulgarien« (222) setzten. Die Wirkung des Chrysostomus in äthiopischer Literatur ist bislang so gut wie gar nicht erforscht. Dass hier zukünftig ertragreich gearbeitet werden kann, zeigt W. Witakowski (223–231), der die äthiopische Vita Zena Yohannes Afä Wärq, die meist als Einführung in die hom. in Hebr. positioniert ist, auf genuin äthiopische Quellen zurückführt.
4. Die Perspektive der »klassischen« Traditions- und Rezeptionsgeschichte richtet sich auf das Fortwirken von Texten. Dass Texte des Chrysostomus in späterer Zeit durchaus entgegen ihrer ur­sprünglichen Absicht verwendet werden, zeigen R. Brändle/W. Pradels (235–254). Während der Hauptansprechpartner des Chrysostomus in den acht Reden Adversus Iudaeos die »nicht judaisierenden« Glieder seiner Gemeinde seien und die direkte Polemik gegen Juden Nebenaussagen seien, nährten die Reden in einer Gemeinschaft, »die nicht mehr von der inneren Spaltung bedroht war, die bei der Abfassung ausschlaggebend war« (240), die feindselige Haltung der Kirche gegenüber der jüdischen Gemeinschaft. Dieser »antisemitische Mißbrauch« (Ritter) wird an den Erotapokriteis des Pseudo Kaisarios, an Werken des Erasmus, Theophylakt von Ohrid und Johann Andreas Cramer exemplifiziert. Dass das Diktum einer »Chrysostomosvergessenheit oder auch -verdrossenheit« (349) auf das Luthertum nicht zutreffe, exemplifiziert A. M. Ritter (347–372) an Antonius Corvinus, Andreas Musculus, der Formula Concordiae und an Johann Gerhard. Während Philipp Jakob Spener Chrysostomus jedoch kaum rezipiere, verrate das Werk von Johann Gottfried Arnold »große weite und intime Kenntnis« (355). Nicht zuletzt wird an Bengels Ausgabe von De sacerdotio (März 1725) entfaltet, wie er »gerade auch in Chrysostomos einen Geistesverwandten entdeckt, ohne mit seinen reformatorischen Überzeugungen zu brechen« (372). Die Rezeptionsgeschichtliche Forschung birgt jedoch auch die Gefahr, Abhängigkeiten zu behaupten, wo lediglich ähnliche Phänomene vorliegen. Bei K. Bosinis (111–138), der Nachwirkungen der Kanzelreden des Chrysostomos in der byzantinischen politischen Philosophie untersucht, bleibt m. E. bei solch allgemeinen spätantiken Axiomen wie τὸ φοβερὸν βῆμα ἀκοίμητον ὅμμα Θεοὖ und Ausformung von Herrschaft als μίμησις Θεοῦ fraglich, inwiefern ein materialer Bezug der untersuchten Fürstenspiegel auf Chrysos­tomus plausibel gemacht werden kann.
5. Was verrät die Editionsarbeit über das Bild, das Editoren von den Autoren der edierten Schriften haben und verbreiten? Eine wichtige Vorarbeit für diese Forschungsperspektive liefert U. Dill (255–265) mit einer Übersicht über Baseler Chrysostomusdrucke. Exemplarisch nimmt J. L. Quantin (267–346) die Perspektive für die Untersuchung der theologiegeschichtlichen Bedeutung der ausschließlich griechischen Text bietenden Etoner Edition von Henry Savile ein. Nach einem Überblick über Chrysostomusausgaben vor 1588 (268–277) und zur Zeit der katholischen Reform (277–289) stellt Quantin mit Blick auf die Korrespondenz David Hoeschels die Frage, inwiefern der Friede von Augsburg 1555 auch ein »patristischer« gewesen sei (289–300). Erst durch die Konturen konfessioneller Vereinnahmung werde der Erfolg der Savile-Ausgabe transparent. Seine Ausgabe schaffe und fixiere das griechische Corpus Chrysostomicum, während die Grenzen des lateinischen Corpus bis zur Edition der Mauriner (1679–1690) fließend seien. Saviles Arbeit überwinde das alte Ideal der Christenheit und etabliere mit der Ausrichtung auf Europa eine neue Offenheit gegenüber einem »esprit de parti« (339). Doch auch wenn philologisches Vorgehen und freundlicher Austausch zunehmend aus einem polemischen Umgang mit Vätern befreie, bleibe trotz der Arbeit der »Republique des Lettres« die doppelte Logik der griechischen und der lateinischen Chrysostomuseditionen erhalten. Quantin spricht von einem »doppelten Spiel«, wenn er feststellt, dass auch Savile nicht ohne protestantische Hintergedanken war, wenn er Anfang des 17. Jh.s eine griechische Gesamtausgabe schuf, wohlwissend, sich mit der Ausgabe zwischen den Klammern konfessioneller Spaltungen zu positionieren.
6. Die Erforschung der Chrysostomusliturgie bildet heute einen eigenständigen Zweig. Das wird beispielsweise darin deutlich, dass die maßgebende Chrysostomusbibliographie von W. Mayer (http://www.cecs.acu.edu.au/chrysostombibliography.htm) dieses Forschungsfeld bewusst ausspart. Wie fruchtbringend aber die Kooperation von Liturgiewissenschaft und Kirchengeschichte an dieser Stelle ist, zeigt G. Philias (99–109) mit seiner Frage nach der Authentizität eucharistischer Gebete. Während von den spätan­tiken Quellen lediglich Pseudo Proclus (434–446 n. Chr.) in dem Tractatus de traditione divinae missae eine ganze Liturgie des Chrysostomus erwähne (102), sei zunächst nur ein einziges Gebet der Proskomodie, das der Anaphora vorausgeht, mit dem Namen des Chrysostomus verbunden gewesen. Von dort sei der Name auf das Gebet der Katechumenen und auf das Trisagion übertragen worden. Chrysostomus als Urheber der gesamten Liturgie sei akzeptiert worden, als man im 11. Jh. begann, sie aufgrund häufigeren Gebrauchs vor die Liturgie des Basilius zu setzen.
7. Seit der bahnbrechenden Arbeit von M. M. Mitchell (s. A. M. Ritter, ThLZ 128 [2003],173–180) gehört die kunstgeschichtliche Perspektive fest in den Kanon der Methoden zur Erforschung der Wirkungsgeschichte des Chrysostomus. Die Frucht solcher Arbeit bringt K. Krause (139–167) ein, wenn sie beobachtet, wie sich mit 300-jähriger Verzögerung die »biographische Kernszene« (149) der Inspiration aus der Chrysostomusvita des Georg von Alexandrien nicht zufällig im 11. Jh. zum standardisierten Bildformular etabliert. Das Bild sei durch das Menologion des Metaphrasten, in dem die Autorisierung des Goldmundes durch Paulus zur Titelillustration der Chrysostomusvita avancierte, verbreitet worden. Ebenso nutzbringend nimmt B. Schellewald (169–192) die kunsthistorische Perspektive ein. Sie stellt das Ohrider Bildprogramm als Spiegel der kirchenpolitischen Debatten zwischen Erzbischof Leon (1037–1056) und der römischen Kirche im sog. Azymen-Streit vor. Ziel des Programmes sei es, Chrysostomus körperlich von Gottes Weisheit erfüllt zu zeigen. Bei grundsätzlichen Fragen zur byzantinischen Liturgie – so die Kernaussage des Bildprogramms – seien die Autoren beider Liturgieformulare, Basilius und Chrysostomus, gefragt.
8. Die Chrysostomusforschung ist heute gut vernetzt, was gerade an den drei internationalen und überkonfessionellen Tagungen (Castelen, Rom, Istanbul) des Chrysostomusjahres 2007 deutlich wurde. Zur Vernetzung gehört auch, Sprachbarrieren zu überwinden. Das schafft G. D. Dragas (373–409), wenn er die griechischsprachige Forschung der Jahre 1907–2007 untersucht und eine in ihrem Wert kaum zu ermessende Bibliographie erstellt.
Indizes der Bibelstellen sowie griechischer und lateinischer Autoren (411–420), ein Autorenverzeichnis (421 f.) und 44 überwiegend farbige Abbildungen zu den Beiträgen von Krause und Schellewald (422–466) runden den in der gewohnten Qualität der Reihe publizierten Tagungsband ab, der die Erforschung der Chrysostomusrezeption auf Jahre befruchten wird.