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Ausgabe:

März/2010

Spalte:

312-314

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Allen, David M.

Titel/Untertitel:

Deuteronomy and Exhortation in Hebrews. A Study in Narrative Re-presentation.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2008. IX, 277 S. gr.8° = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 238. Kart. EUR 54,00. ISBN 978-3-16-149566-3.

Rezensent:

Georg Gäbel

»Das angeredete Gottesvolk« – so ließe sich das Grundmotiv des Hebräerbriefes fassen: Gottes Reden führt zur Rede von Gott, und diese entwirft der Hebr als Auslegung des Redens Gottes in der Schrift. So begibt sich D. M. Allen mit seiner Edinburgher Dissertation (Betreuer: T. Lim) auf ein Feld der Hebr-Exegese, das die Forschung immer wieder beschäftigt (von F. Schierse, Der Verfasser des Hebräerbriefes als Schriftausleger, 1968, bis S. Docherty, The Use of the Old Testament in Hebr, 2009) und in das verstärkt Impulse aus der intensivierten Beschäftigung mit der LXX und ihrer Textgeschichte eingehen.
Seine eigenen Akzente setzt A. mit der Wahl der bisher wenig untersuchten Dtn-Rezeption des Hebr und mit einem Verständnis von Intertextualität, das, im Anschluss an D. F. Watson, über die Auswertung von Zitaten, Anspielungen und Echos hinaus Themen, Motive und rhetorische Strategien einschließt (1. Kapitel). Das Moselied Dtn 32, aus dem etwa die Hälfte der von ihm ausgemachten 21 Dtn-Zitate, -Anspielungen und -Echos im Hebr stammen, liest A. im Rahmen des Dtn und insbesondere des näheren Kontexts Dtn 31–34 als Ermahnung Israels auf der Schwelle zum verheißenen Land. Die »narrative re-presentation« – die Vergegenwärtigung jener Schwellensituation – wird der Generalschlüssel zum Verständnis der Schriftaneignung, ja des ganzen Hebr (der weithin auf seine paränetischen Anteile beschränkt wird). Das setzt den narrativen Rahmen des Gesamt-Dtn voraus, obwohl Dtn 32, wie A. zeigt, im antiken Judentum auch separat, ohne den kanonisch gewordenen Kontext, rezipiert wurde (2. Kapitel). So interessiert A. denn auch die Textgeschichte vorrangig zum Nachweis der Herkunft von Schriftbezügen aus dem Dtn.
Die Exegese von Hebr 1,6/Dtn 32,43LXX, die etwa die Hälfte des 3. Kapitels einnimmt, mag A.s Vorgehen illustrieren. A. entscheidet sich für Dtn 32,43 in einer postulierten, von Wevers’ Rekonstruktion abweichenden Textform als Vorlage. Die Textform von Od 2,43, die der im Hebr zitierten nähersteht, wird doch wohl zurückgestellt, weil sonst der gewählte Verstehenshorizont in Frage stünde. Inhaltlich konzentriert sich A. auf die dem Zitat im Hebr voranstehende Einleitung ὅταν δὲ πάλιν εἰσαγάγῃ τὸν πρωτότοκον εἰς τὴν οἰκουμένην, die er auf die Erhöhung Christi deutet: Als neuer Josua nehme Jesus das verheißene (himmlische) Land für die Seinen in Besitz. Dem entspreche die narrative Rahmung des Moseliedes im Dtn (Übernahme der Führung durch Josua und bevorstehende Landnahme) als Deutungshorizont. Dagegen bleibt die Funktion des ad vocem »Engel« ausgewählten Zitats im Rahmen der Verhältnisbestimmung von Sohn, Söhnen/Kindern und Engeln Hebr 1,1–2,16 unbeachtet, obwohl gerade die Differenz der Lesarten υἱοὶ θεοῦ/ἄγγελοι θεοῦ das hermeneutische Potential des Prätextes für Hebr 1 f. in rezeptionsgeschichtlicher Perspektive vor Augen führen könnte. Schließlich wird auch die These der vorauszusetzenden Schwellensituation kaum am übergreifenden Argumentationsgefälle der Hebr-Passage bewährt. Der narrative Rahmen des Dtn als postulierter Herkunftskontext bestimmt die Auslegung.
Wenn auch nicht alle Beanspruchungen von Dtn-Prätexten gleichermaßen überzeugen, kann A. doch zeigen, wie dicht das Sprachmaterial biblischer Vorlagen in die Argumentation des Hebr verwoben, wie gesättigt dessen Sprache, über klar abgrenzbare Zitate hinaus, von der Sprache der Schrift ist. Beachtung verdient auch der Hinweis auf die häufige Verwendung von Dtn 32. Doch die These, der Hebr greife Dtn-Bezüge um der Aktualisierung der Schwellensituation vor der Landnahme willen auf, scheint weniger überprüft als vorausgesetzt zu werden, und den Anspruch, die Aufnahme weitgreifender Zitatkontexte, u. a. im Rekurs auf von R. B. Hays entwickelte Kriterien, exegetisch aufzuweisen, löst A. selten und nur ansatzweise ein.
Entsprechendes gilt für die Ausführungen des 4. bis 5. Kapitels, die nach thematischen Gemeinsamkeiten (Bund, Segen und Fluch und verheißenes Land) und nach rhetorischen und gattungsspezifischen Übereinstimmungen von Dtn und Hebr fragen: Der Hebr spreche wie Dtn von der Übergabe der Leitung von Mose an einen Ἰησοῦς und stehe darin der Testamentenliteratur nahe, mit der er wesentliche formale Merkmale teile.
Über vieles möchte man mit A. diskutieren. Neben dem kaum überzeugenden Nachweis für die Nähe des Hebr zur Testamentenliteratur seien drei Punkte herausgegriffen. 1. Zugunsten des Dtn vernachlässigt A. andere Prätexte. So soll der Bundesschluss von Dtn 29 hinter der Rede des Hebr vom Neuen Bund stehen; tatsächlich greift der Hebr Jer 31,(31 f.)33 f. auf und führt diese Stelle in bedeutsamer Rahmung des kulttheologischen Mittelteils (Hebr 8,8–12/10,16 f.) zweimal an. 2. Frühjüdische Rezeptionshorizonte treten zurück; mit ihnen etwa beim Thema des Landes der breit vorgegebene, für den Hebr zentrale Zu­sam­menhang von Landgabe, Heiligtumsgründung und Kultinauguration, der nicht primär auf Dtn zurückverweist. 3. Die pauschale Berufung auf die »Schwellensituation« der Adressaten hindert die differenzierte Wahrnehmung der Eschatologie des Hebr, der den endzeitlichen Eingang in die himmlische κατάπαυσις vom gegenwärtigen Zugang zum himmlischen Heiligtum und Kult unterscheidet. Dieser ist kein unmittelbar bevorstehender Eintritt in die himmlische πατρίς, sondern der gegenwärtige Anteil an künftiger Heilsvollendung.
Schließlich will A. im 6. Kapitel nachweisen, dass die narrative Repräsentation des Dtn im Hebr weitreichende Gemeinsamkeiten mit dem von H. Najman (Seconding Sinai, 2003) sog. »Mosaic Dis­course« habe.
Als Mosaic Discourse beschreibt Najman Texte, die Gesetzes- bzw. Auslegungstraditionen bearbeiten, erweitern und interpretieren und sich darin auf Mose zurückführen bzw. sich als die von ihm am Sinai empfangene Offenbarung geben. Die Argumente, die A. für seine Sicht anführt (der Hebr beanspruche implizit Tora-ähnlichen Status; der Bundesschluss am Sinai werde in der Schilderung des himmlischen Zion narrativ repräsentiert; schon Mose habe um Christi Leiden gewusst), überfordern zum Teil die beanspruchten Belege und unterschätzen den Anspruch des Hebr, von einem neuen, gegenüber der mosaisch-aaronitischen Gründung qualitativ andersartigen Kult zu sprechen.
Der Hebr greife Traditionen Israels auf und bearbeite sie in christologischer Perspektive. So schreibe er das Dtn fort, sei gar ein neues Dtn, das die Vorherrschaft des ersten in Frage stelle. Indem er vor »Apostasie« warne, stelle er seine Adressaten vor die Wahl zwischen Leben und Tod. Doch die Alternative bleibt zeitlos-unbestimmt. Auf welche konkreten Adressaten, welche konkrete Situation die Aktualisierung der Schrift im Hebr zielt, erfahren wir nicht.
So richtig es m. E. ist, den Hebr in die Kontexte frühjüdischer Schrift­auslegung einzuzeichnen, und so dankenswert es ist, auf die Aufnahme von Dtn-Bezügen, besonders des Moseliedes, im Hebr aufmerksam gemacht zu haben, wird deren Bedeutung doch mit der Bezeichnung des Hebr als neues Dtn überschätzt, und das zugrunde gelegte Modell von Intertextualität löst sich oft und weit von konkreten, nachprüfbaren Bezügen.
Wer zur Rezeption des Dtn im Hebr und im Neuen Testament arbeitet, wird A.s Exegesen bedenken und sich durch seine Thesen zu Zustimmung und Widerspruch anregen lassen. Hätte ich ferner Wünsche frei für die weitere Diskussion, so wären es vor allem die nach konsensfähigen Kriterien für Identifikation und Beschreibung von Intertextualität sowie nach breiterer Berücksichtigung textgeschichtlicher Evidenz und frühjüdischer Schriftrezeption.