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Ausgabe:

Februar/1999

Spalte:

217–219

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Grimminger, Michael

Titel/Untertitel:

Revolution und Resignation. Sozialphilosophie und die geschichtliche Krise im 20. Jahrhundert bei Max Horkheimer und Hans Freyer.

Verlag:

Berlin: Duncker & Humblot 1997. 299 S. gr.8 = Philosophische Schriften, 19. Kart. DM 92,-. ISBN 3-428-08778-X.

Rezensent:

Andreas Arndt

Grimmingers Dissertation (entstanden bei Günter Rohrmoser an der Universität Hohenheim) versteht sich als Beitrag zu einer Diagnose der "spätbürgerlichen Kultur" im Anschluß an Max Weber und Karl Marx (vgl. 34-49), und zwar ausdrücklich auch "im Rahmen einer Theorie der Gegenwart" (25), kehrt doch - nach der Überzeugung des Vf.s - mit der erneuten "Krise des Liberalismus" nach dem voreilig proklamierten "Ende der Geschichte" (Fukuyama) auch "das lange Zeit verdrängte Thema der Dialektik der Aufklärung wieder auf die Tagesordnung der politischen und philosophischen Diskussion zurück" (18).

Diese Dialektik möchte G. durch eine vergleichende Interpretation der politischen Antipoden Max Horkheimer und Hans Freyer erschließen, die beide in der Tradition der "Selbstkritik der bürgerlichen Kultur" seit dem Ende des 18. Jh.s stünden. Diese Kultur sei durch den Grundbegriff der "Entfremdung" charakterisiert, wobei G. zwei Formen unterscheidet (26): erstens die "kognitive Entfremdung", worunter er einen moralischen und geistigen Orientierungsverlust versteht, der durch die zunehmend fehlende religiöse Verankerung und einen instrumentalistischen Wissenschaftsbegriff bewirkt sei, und zweitens die lebensweltliche Entfremdung, nämlich den Selbstlauf von Wissenschaft, Technik und (kapitalistischer) Ökonomie. Der Linkshegelianer Horkheimer und der Rechtshegelianer Freyer - beide in ihrem Denken gleichermaßen von Hegel und Marx geprägt - kämen, im Unterschied zu den Liberalen, darin überein, eine "negative Dialektik der bürgerlichen Kultur" (27) für möglich zu halten, in der die Entfremdung total wird. Auf diesen, von ihnen übereinstimmend diagnostizierten, drohenden Verlust menschlicher Selbstbestimmung reagierte Horkheimer mit der Wendung zum Historischen Materialismus und zur sozialen Revolution, Freyer mit der Wendung zu einer völkischen "Revolution von rechts", so der Titel seiner 1931 erschienenen Kampfschrift.

Hierbei, so die These der Arbeit, handle es sich jedoch nur um entgegengesetzte politische Optionen gleichsam auf der Oberfläche der Theorie, nicht um tiefgreifende theoretische Gegensätze. Um dies zu belegen, zeichnet G. sorgfältig (wenngleich auch oft mit umständlichen Wiederholungen) die Denkwege des frühen Horkheimer und des frühen Freyer nach, die ihn zu dem Ergebnis führt, daß "Freyers rechtshegelianischer Ansatz ... das Komplement für das Horkheimersche Projekt einer materialistischen Kulturtheorie" bilde (267). Beide kämen darin überein, die von Hegel in spekulativer Absicht zum Leitfaden der Geschichte gemachte Einheit von Vernunft und Geschichte unter postmetaphysischen Bedingungen empirisch zu reformulieren: Horkheimer durch sein Konzept des "Historischen Materialismus", Freyer durch sein Konzept der "Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft". Diese "hegelmarxistische" Transforma tion philosophischer Problemstellungen in empirisch-einzelwissenschaftliche erfolge bei beiden letztlich auf dem Boden einer Lebensphilosophie und ziele daher auch auf eine Einheit von Wissenschaft und "Leben", von Theorie und Praxis.

Den theoretischen Unterschied beider Positionen, der sich dann auch in unterschiedlichen politischen Tendenzen niederschlage, macht G. im Wirklichkeitsverständnis beider Autoren aus, denn für ihn kommt Freyer "zu einem völlig anderen Begriff von Wirklichkeit als Horkheimer" (145), weshalb seine Kritik der spätbürgerlichen Gesellschaft auch "tiefer" ansetze (190). Während Horkheimer die spätbürgerliche Kultur letztlich im Rückgang auf die ökonomischen Verhältnisse und die Klassenstruktur der Gesellschaft kritisieren wolle, sei Wirklichkeit für Freyer "nicht nur die Welt der Ökonomie, sondern auch die Welt der geschichtlich gewachsenen Kultur," (163) die er - im kritischen Anschluß an Wilhelm Dilthey - als "Individualität" begreife. Demgemäß ziele seine Kritik an der Entfremdung in der spätbürgerlichen Kultur nicht nur auf die Aufhebung entfremdeter Arbeit und der Klassenstruktur überhaupt, sondern vor allem auf die Wiedergewinnung der von der Geschichtslosigkeit des Spätkapitalismus bedrohten historischen Identität, deren Träger nicht eine Klasse, sondern das "Volk" sei. Angesichts der "völkischen" Revolution in Deutschland, zu der sich Freyer "nicht als Ideologe, sondern als Sozialwissenschaftler" affirmativ verhalten habe (194), sei seine Diagnose auch historisch gerechtfertigt worden.

So sehr es G. als Verdienst anzurechnen ist, sich Freyer ohne politisch motivierte Berührungsängste nähern und einen wichtigen sozialphilosophischen Ansatz wieder in die Diskussion bringen zu wollen, so wenig kann dieses Urteil überzeugen, denn die Selbstzuschreibung einer Bewegung als "völkisch" macht das "Volk" so wenig zum realen Subjekt von Geschichte wie die einer Bewegung als "proletarisch" das "Proletariat". Hier hätte - im Blick auf Freyer wie auf Horkheimer - die jeweilige Gesellschaftstheorie einer empirisch-wissenschaftlichen Kritik bedurft. G. ist jedoch geneigt, die empirischen Ansprüche beider Autoren mit einer (mit Ausnahme des Dilthey-Bezugs bei Freyer) eher vage bleibenden "Lebensphilosophie" zu identifizieren (hinzu kommt noch eine ebenso diffus bleibende Rede von "Existentialismus"; vgl. 112 ff.; 209 ff.). Dies mag auch daran liegen, daß der Vf. grundsätzlich an dem Programm einer Überwindung der Entfremdung festhalten möchte und daher in der Tat identitätsstiftende Subjekte in der Wirklichkeit fingieren muß. Ihm entgeht, daß Freyer und Horkheimer vor allem gerade in ihrer Entfremdungsromantik übereinkommen und dieser blinde Fleck in der Analyse der gesellschaftlichen Wirklichkeit die politischen Optionen bis zu einem gewissen Grade als austauschbar erscheinen läßt.

Dagegen sieht G. das Problematische dieser Optionen anders begründet: Die von beiden Autoren projektierte Einheit von Theorie und Praxis müsse scheitern, weil sowohl Horkheimers Begriff des "wahren Interesses" (80 ff.) als auch Freyers Begriff des "wahren Willens" (195 ff.) eines der geschichtlichen Relativität enthobenen Maßstabs von Wahrheit entbehrten und daher nur dezisionistisch eingeholt werden könnten. Als die eigentliche Ursache ihres Scheiterns erscheint somit die eingangs erwähnte "kognitive Entfremdung"; genauer gesagt: der Versuch, die lebensweltliche Entfremdung im Beharren auf der kognitiven Entfremdung aufheben zu wollen. Hieran scheiterten auch die theoretischen Revisionen nach den fälligen Enttäuschungen durch das Ausbleiben einer wahrhaft proletarischen Revolution im Falle Horkheimers bzw. durch das wahre Gesicht der "völkischen Revolution" im Falle Freyers. Der Umschlag von revolutionärem Enthusiasmus in Resignation, auf den auch der Titel der Untersuchung anspielt, wird nicht als Konsequenz der Entfremdungsromantik angesehen, sondern als Konsequenz einer fortdauernden Entfremdung von einer letztlich nur theologisch begründbaren Wahrheit.

Mit dieser These, die G. von seinem akademischen Lehrer übernimmt, verspielt er jedoch zum Teil seine Intention, die Dialektik der Aufklärung als Thema zurückzugewinnen. Die Stärke und Aktualität der von ihm behandelten Positionen liegt ja gerade darin, daß sie sich dem Problem der geschichtlichen Relativierung von Vernunft gestellt haben und ihm nicht pragmatisch ausgewichen sind. Die ihnen anempfohlene Rückkehr zu geschichtsunabhängigen Maßstäben der Vernunft (z. B. 242, 277 f.) erscheint dagegen als reichlich naiv, zumal sie mit massiven historischen Fehlurteilen einhergeht. Daß bei Hegel eine "theologisch begründete [!] objektive Vernunft" (231) vorliege, wird man gerade dem Denker kaum unterstellen dürfen, für den die theologischen Gehalte in den allein philosophisch zu begründenden und zu verantwortenden Begriff aufzuheben sind; und ebensowenig wird man Hegel unterstellen dürfen, er betrachte das Christentum in einem spezifisch philosophischen Sinne als "Ermöglichung" der spekulativen, "aufbewahrenden" Seite seiner Dialektik (231).

Wenn jede "Rede von der wahren Geschichte" (bzw. von der geschichtlichen Wahrheit) ohne eine "möglicherweise nur theologisch faßbare Metaebene ... bloße Rhetorik" bliebe, wie G. annimmt (277), so gäbe es im Blick auf die geschichtliche Wirklichkeit der Moderne gar keine wirklichen philosophischen Probleme, sondern nur ein Problem mit der Philosophie, sofern sie sich gegenüber der theologischen Wahrheit verschlossen habe. Glücklicherweise aber nimmt G. seine Autoren dann doch ernst genug, um an ihnen fundamentale gesellschaftliche Probleme aufzuweisen, auf die eine philosophische Antwort jenseits aller abgelebten Gewißheiten noch immer aussteht.