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Ausgabe:

März/2010

Spalte:

299-300

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Kratz, Reinhard G., u. Hermann Spieckermann [Eds.]

Titel/Untertitel:

Divine Wrath and Divine Mercy in the World of Antiquity.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2008. VIII, 279 S. gr.8° = Forschungen zum Alten Testament. 2. Reihe, 33. Kart. EUR 59,00. ISBN 978-3-16-149820-6.

Rezensent:

Jörg Jeremias

Der Aufsatzband dokumentiert Vorträge eines Symposions in Göttingen vom November 2006 im Kontext des Forschungsprojekts »Concepts of the Divine – Concepts of the World. Polytheism and Monotheism in the World of Antiquity«. Wie in solchen Bänden üb­lich, sind Qualität und Ertrag der Beiträge höchst unterschiedlich.
Aufgebaut ist der Band so, dass nach einer einleitenden Be­trachtung durch H. Spieckermann, die Mesopotamien und das Alte Testament betrifft, zunächst der Vordere Orient (Ägypten: L. Gestermann; Mesopotamien: M. Krebernik; Hethiter und Hurriter: B. J. Collins; Ugarit und Israel: P. K. McCarter; Moab und Israel: R. G. Kratz; der Psalter: K. W. Weyde), dann die klassische Antike (Plato: M. Bordt; die antike Epik: P. Schenk; Sirach: M. Witte; Neues Testament: J. Frey) und zuletzt die Spätantike (Rabbinische Theologie: A. Shemesh; frühchristliche Stimmen: G. Hällström; der Koran: T. Lawson) das Thema bestimmen.
Das Hauptproblem des Bandes ist sein umfassendes Thema. Zudem »gehören Zorn und Barmherzigkeit zwei verschiedenen Kategorien an«, wie der Philosoph M. Bordt mit Recht bemerkt: Ersterer ist ein Affekt, Letztere eine Eigenschaft oder doch zumindest eine »dauerhafte Handlung« (143). Es ist daher keineswegs zufällig, dass sich zahlreiche Beiträge schwerpunktmäßig einem der beiden in sich schon komplexen Aspekte des Doppelthemas zuwenden. Es ist genauso wenig zufällig, dass die Mehrzahl dieser Beiträge sich dem göttlichen Zorn widmet, ist doch in den meisten der zuvor genannten religiösen Bereiche weit häufiger über die göttliche »Gnade« bzw. »Barmherzigkeit« als über den göttlichen Zorn gearbeitet worden.
Um die Komplexität des Themas aufzuweisen, wähle ich zwei Beispiele. In seinem Aufsatz zum Zorn der Götter in Mesopotamien nennt M. Krebernik nicht weniger als 24 Wurzeln für das Phänomen, das wir im Deutschen »Zorn« nennen, die großenteils noch einmal zu mehreren Begriffsbildungen geführt haben (im biblischen Hebräisch ist immerhin ungefähr die Hälfte dieser Vielfalt erhalten). Angesichts der Fülle seines Materials entscheidet sich Krebernik (nach kurzen allgemeinen Charakterisierungen) für eine (sehr interessante) exemplarische Interpretation des Erra-Mythos, in dem Erras Wut temporär Marduks kosmische Ordnung ersetzt, weil sie ihm mehr zum Thema zu erbringen scheint als eine generelle Übersicht. – R. G. Kratz geht den umgekehrten Weg. Den Zorn des Gottes Kamosch über sein Volk in der Inschrift des Königs Mescha von Moab vergleicht er mit der prophetischen Gerichtsverkündigung im Alten Testament generell, ohne dabei zwischen Propheten (wie Amos und Micha) zu unterscheiden, die ohne das Konzept des Zornes Gottes auskommen, und anderen (wie Hosea und Jeremia), bei denen es eine zentrale Rolle spielt. Zudem lässt er unbeachtet, dass alle Erwähnungen des Zornes einer Gottheit in der Geschichte in den zahlreichen Belegen Mesopotamiens genauso wie in der Mescha-Inschrift ausschließlich aus der Retrospektive erfolgen, d. h. stets abgeschlossen zurückliegende Epochen charakterisieren, während die exilische Prophetie, von der Kratz die Unheilsbotschaft der klassischen Propheten gegen Israel als Kollektiv pauschal ableitet, gerade die eigene Gegenwart vom Zorn Gottes her erklären möchte.
Die Mehrzahl der Aufsätze müht sich um einen Mittelweg zwischen exemplarischer Darstellung und generellen Aussagen. Den Anfang macht H. Spieckermann, der die Undurchschaubarkeit des göttlichen Handelns – teils im Zorn, teils aus Güte – im akkadischen Weisheitstext Ludlul bēl nēmeqi mit Aussagen des Alten Testaments konfrontiert, die Gottes Güte bzw. Gnade als unvergleichlich weitreichender als den (stets zeitlich begrenzten) göttlichen Zorn beschreiben und für die Zukunft eine Zeit ohne göttlichen Zorn erwarten.
Für Ägypten möchte L. Gestermann »einige grundlegende Struk­turen und Konstellationen der altägyptischen Kultur« (19) erheben; sie behandelt schwerpunktmäßig die wild/milde Doppelnatur der Göttinnen Tefnut und Hathor sowie die neue Gottesbeziehung des Einzelnen, die mit dem Neuen Reich einsetzte. B. J. Collins konzentriert sich für das Gebiet der Hethitologie auf Rituale zur Besänftigung zürnender Gottheiten und besonders auf Gebete. – P. K. McCarter beschreibt, wie die ugaritischen Mythen die Wut der Götter, insbesondere der Göttin Anat, als gefährlichen Verlust von Selbstkontrolle, ja als »Krankheit« darstellen, und konfrontiert damit die Tendenz alttestamentlicher Texte, Jahwe von seinem Zorn zu trennen, der geradezu zur »hypostatic or quasi-independent identity« (87) wird.
Demgegenüber arbeitet P. Schenk heraus, wie bei Homer und in der folgenden Epik »der Zorn des Zeus … Ausdruck seiner überlegenen Gewalt und Macht über die anderen Götter« ist (156) und den Zorn anderer Götter in der Wirkung weit übertrifft. Auslöser des göttlichen Zorns sind überwiegend Fragen der Ehre bzw. des Ehrverlusts. Den entscheidenden Wandel dieses Verständnisses bietet Vergil, bei dem der Zorn »zusammen mit den Göttern … Bestandteil einer Symbolsprache« wird (174). – Dagegen geht M. Bordt der grundsätzlichen Frage nach, wieweit man nach Plato den Göttern überhaupt Emotionen zuschreiben könne.
M. Witte beschreibt in einer sehr sorgsamen Textanalyse das Buch Sirach als »Kompendium biblischer Theologie« (177), in dem die Aussagen des Alten Testaments zu Zorn und Barmherzigkeit Gottes mit einer Tendenz zur Universalisierung und Generalisierung systematisiert aufgenommen und aktualisiert werden.
Im Schlussteil des Bandes stellt G. Hällström die Schwierigkeiten der frühen Kirche mit dem Konzept des göttlichen Zorns dar, während T. Lawson den Zorn Gottes für den Islam als »an absence of clemency and mercy« (251), die im Zentrum der Texte des Koran stehen, beschreibt.

Eine gewisse Sonderrolle spielt die sehr kenntnisreiche und differenzierte Analyse der »Liebe Gottes« im johanneischen Schrifttum und in deren Traditionen durch J. Frey. Eher ärgerlich ist, dass von den Herausgebern zwei Aufsätze integriert wurden, die mit dem Tagungsthema so gut wie nichts zu tun haben: K. W. Weydes Ge­danken zum elohistischen Psalter und A. Shemeshs Analyse der rabbinischen Haltung zur Strafe der Geißelung. – Insgesamt liegt ein bunter Blumenstrauß vor, dessen Reiz in vielen Einzelbeobachtungen liegt, die eine Rezension nicht angemessen würdigen kann.