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Ausgabe:

März/2010

Spalte:

293-295

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Horst, Pieter W. van der, and Judith H. Newman

Titel/Untertitel:

Early Jewish Prayers in Greek.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2008. XVI, 298 S. gr.8° = Commentaries on Early Jewish Literature. Lw. EUR 84,00. ISBN 978-3-11-020503-9.

Rezensent:

Karl-Heinrich Ostmeyer

»The Netherlands Institute for Advanced Study« bot 2006/7 Pieter W. van der Horst (Utrecht) und Judith H. Newman (Toronto) den Rahmen für die Arbeit an dem vorzustellenden Band. Gemeinsam widmen sich beide in sieben Kapiteln der Darstellung und Analyse von zwölf in griechischer Sprache überlieferten antiken jüdischen Gebeten. Hinzu kommt als Appendix die Oratio Josephi (8. Kapitel, 247–258), mit deren Hilfe Newman zentrale Aspekte der zuvor behandelten Oratio Jacobi (215–246) illustriert. Während bei Newman über die genannten Kapitel hinaus die Verantwortung für die Gebete Manasses (145–180) und Azarias (181–214) liegt, übernimmt van der Horst die hellenistischen Synagogengebete der Apostolischen Konstitutionen (1–93), ein Gemeindegebet (Pap. Egerton 5; 95–122), ein Schutzgebet gegen unreine Geister (Pap. Fouad 203; 123–133) und das Rachegebet von Rheneia (135–143).
Ein Auswahlkriterium für die Aufnahme der Texte in die Ge­betssammlung war deren eigenständige (liturgische) Verwendung. Der Sammelband – erschienen in der von van der Horst mit herausgegebenen Reihe »Commentaries on Early Jewish Literature« (CEJL)– möchte einen Einblick bieten in das Spektrum des antiken jüdischen Gebetslebens der griechischsprachigen Diaspora (2. Jh. v.–4. Jh. n. Chr.). Für jedes der behandelten Gebete (bzw. das Corpus der Gebete) werden zunächst Einleitungsfragen besprochen, es folgen eine Bibliographie, eine Übersetzung ins Englische und eine Kommentierung der Einzelverse.
Im ersten und umfangreichsten Kapitel (1–93) behandelt van der Horst sechs Gebete aus Ap.Const VII,33–38. Der Anteil an Fragmenten genuin jüdischer Gebete innerhalb der christlichen Schrift wird unterschiedlich beurteilt. In Anlehnung an die Ergebnisse D. A. Fiensys entscheidet sich van der Horst für eine minimalistische Lösung. Dass der jüdische Anteil umfangreicher war, ist wahrscheinlich, jedoch nicht mit ausreichender Gewissheit begründbar (27 f.). Unterschiedliche Drucktypen markieren die eindeutig als jüdisch (Fettdruck) oder als christlich (kursiv) identifizierten Textpassagen. Die abwägende Diskussion der jüdischen Gebetsbestandteile der Ap.Const, ihre Darstellung und Kommentierung würden auch einer eigenständigen Monographie Ehre machen.
Gegenstand der beiden folgenden Kapitel (95–122 und 123–133) sind zwei bisher wenig beachtete Papyri. Abgesehen von Publikationen van der Horsts vom Ende der 1990er Jahre zum Papyrus Egerton 5 (bekannt seit 1935) sind alle sonstigen Veröffentlichungen zu den beiden Texten mehr als 50 Jahre alt. Mit guten Gründen hält van der Horst den von ihm auf die Wende vom 4. zum 5. Jh. datierten Pap. Egerton 5 für ein Blatt aus einem jüdischen Gebetsbuch – die möglicherweise älteste erhaltene Vorform der Amida (110). Auf textliche Unsicherheiten geht van der Horst im Einzelkommentar ein (z. B. 114.116). Eine Autopsie dieses, wie auch der anderen behandelten Papyri des Bandes, ist aus der Untersuchung nicht erkennbar.
Die 16-seitige und bisher einzige Darstellung und Abhandlung über das »Gebet zum Schutz gegen unreine Geister« (Pap. Fouad 203) von P. Benoit entstammt dem Jahre 1952. Nach Gewichtung der Argumente erachtet van der Horst auch hier einen jüdischen Ursprung als wahrscheinlich, ohne jedoch eine christliche Herkunft per se auszuschließen (als Inventarnummer des Papyrus lies auf S. 125, Anm. 2: »4436« statt »443«). Er beschließt seinen Anteil an der Sammlung mit der Besprechung einer der beiden Grabstelen auf Rheneia. Den Text datiert er für die unverheiratet verstorbene Jüdin Heraclea auf die Wende zum 1. Jh. v. Chr. Mit der Aufnahme dieses Gebetes unterstreicht der Band seinen Anspruch auf die Präsentation der Vielfalt jüdischen Betens in der Antike – inhaltlich und materialiter. Schön wäre eine Reproduktion des bei A. Deissmann (Licht vom Osten) abgebildeten Grabsteins gewesen.
Newman beginnt ihren Part mit zwei Gebeten aus den Apokryphen der LXX. Ausführlich setzt sie sich mit der Überlieferungsgeschichte und Kontextualisierung des Manasse-Gebetes (145–180), seinen Parallelen in Qumran und im frühchristlichen griechischen und syrischen Schrifttum auseinander. Das Gebet des Manasse erweise beispielhaft die Wirksamkeit der Buße und Umkehr selbst des schlimmsten Sünders (155). Newman hält es für denkbar, dass das von ihr im 1./2. Jh. verortete Gebet des Manasse seinen ur­sprünglichen Platz in der jüdischen Liturgie des Versöhnungstages in der syrischen Synagoge hatte (155) und von Christen übernommen wurde (157).
Das Gebet des Azaria (181–214) stellt Newman dem anderen Gebet in den Zusätzen zu Daniel 3 gegenüber, dem der drei Männer. Sie erörtert die textlichen Grundlagen der Gebete und ihre un­terschiedliche Beziehung zum Tempel (190). Newman hält eine zeitversetzte Entstehung beider für wahrscheinlich (186) und be­schreibt das Azariagebet als ein sich spontan gebendes, verschriftlichtes Gebet und als Muster für das Beten gläubiger Juden (191). In ihrer Präsentation des englischen Textes der Oratio Jacobi (215–246) übernimmt Newman die Zeilenmarkierungen der Vorlage, ordnet ihn jedoch in Anlehnung an J. H. Charlesworth unter syntaktischen Gesichtspunkten (230 f.). Mit Recht erachtet Newman die Nennung der voces mysticae als wichtig für eine Einordnung des Textes. Sie verzichtet jedoch auf die Markierung des Umfangs der in der Preisendanz-Ausgabe gekennzeichneten Lü­cken und der nicht sicher lesbaren Buchstaben (224 f.). Newman zieht andere Jakob-Texte zum Vergleich heran und vermutet einen öffentlichen Gebrauch der Oratio, deren Original sie dem Besitz eines Magie-Experten zurechnet (221). Im Einzelkommentar be­schreibt Newman eine Reihe von Wendungen der Oratio Jacobi, die zwar be­zogen auf ihre Einzelelemente jüdisch klingen, in ihrer Zusam­mensetzung aber zumindest ungewöhnlich sind. Gewicht legt Newman auf den Schluss des Textes und die Verbindung des Beters mit einem Engel bzw. seine Transformation und Unsterblichkeit (244 f.).
Mit ihrer Erörterung der sog. Oratio Josephi (249–258) knüpft Newman im Abschlusskapitel an die Oratio Jacobi an. Bei dem aus fragmentarischen Zitaten rekonstruierten Text handelt es sich um kein Gebet, sondern um die Rede Jakobs, der als unsterblicher Engel gezeichnet wird. Der Appendix dient der Verdeutlichung der Engelmetaphorik in der Oratio Jacobi (254–258). In der Behandlung Newmans erhält die Parallelisierung Jakobs und des Engels einen Schwerpunkt, dessen Berechtigung weiterer Untersuchung bedarf. Basis der Besprechung Newmans wie auch aller anderen Publikationen über die Oratio Jacobi ist die bei Karl Preisendanz gebotene Wiedergabe einer Transkription der ersten Lesung des Papyrus von Wilhelm Schubart. Problematisch ist dabei u. a. die nicht als unsicher kenntlich gemachte Lesung des Namens »Jakob« zu Beginn und am Ende des Gebetes.
Beide Autoren des Kommentarbandes verwenden sowohl griechische und hebräische Drucktypen als auch deren Umschrift. Eine Vereinheitlichung würde Fehler vermeiden helfen. Ansonsten ist der Band übersichtlich gestaltet, die Auswahl der Gebete nachvollziehbar – gerade in ihrer Konzentration auf zwölf Einzelgebete als Vertreter verschiedener Epochen, Kontexte und Materialien er­weist sich die Sammlung als Gewinn. Als Ganzes ist er geeignet, ein Schlaglicht auf die Komplexität jüdischen Betens in der griechischsprachigen Diaspora der Antike zu werfen. Register zu Stellen, Namen, Sachen und Autoren (259–298) ermöglichen gezieltes Su­chen und übergreifende Vergleiche. Nutzende, die sich für einzelne Gebete interessieren, erhalten in den separat lesbaren Kapiteln profunde und weiterführende Auskunft.
Ob van der Horsts Zwischenfazit: »Nothing is impossible in the religious world of late antiquity« (111) in dieser umfassenden Form zutrifft, sei dahingestellt; der Sammelband jedenfalls erlaubt einen Blick auf die erstaunliche Fülle des Praktizierten in der antiken jüdischen Welt.