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Ausgabe:

März/2010

Spalte:

291-293

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Hogan, Karina Martin

Titel/Untertitel:

Theologies in Conflict in 4 Ezra. Wisdom Debate and Apocalyptic Solution.

Verlag:

Leiden-Boston: Brill 2008. XV, 271 S. gr.8° = Supplements to the Journal for the Study of Judaism, 130. Lw. EUR 95,00. ISBN 978-90-04-12969-6.

Rezensent:

Stefan Krauter

Das 4. Esrabuch gehört sicherlich zu den interessantesten und bewegendsten Zeugnissen der Verarbeitung der Tempelzerstörung von 70 n. Chr., wenn nicht zu den theologisch bedeutendsten Schriften des antiken Judentums überhaupt. Daher ist es vergleichsweise gut erforscht; es liegen mehrere Kommentare und vielfältige Untersuchungen zu ihm vor. Die Aufgabe, die sich K. M. Hogan für ihren Beitrag stellt, ist es, die zwei wichtigsten Auslegungsmodelle des 4. Esrabuches aus der jüngeren Forschungsgeschichte zu einer Synthese zu führen: einerseits das Modell von Egon Brandenburger und Wolfgang Harnisch, 4Esra als theologische Auseinandersetzung zu verstehen, andererseits das vor allem von Michael Stone in seinem großen Kommentar vertretene Mo­dell, 4Esra als Zeugnis einer psychologischen Entwicklung zu lesen. Das dritte, vor allem in der Anfangsphase der Erforschung von 4Esra bedeutsame Modell, die literarkritische Suche nach Quellen, tritt demgegenüber ganz in den Hintergrund.
Nach einem Kapitel, das die Forschungsgeschichte zu 4Esra in hervorragender Übersichtlichkeit nachvollzieht und aus ihr die genannte Aufgabe plausibel ableitet (1–40), folgt die luzide Darstellung der beiden theologischen Positionen, die nach H.s Ansicht in 4Esra in ein »Streitgespräch« treten: »eschatological wisdom«, wie sie etwa in 4QInstruction zu finden ist, und »covenantal wisdom«, repräsentiert von Sirach und Baruch (41–100). Hervorzuheben ist, dass diese Texte nicht einfach als »Vergleichsmaterial« flächig dargestellt werden, sondern dass H. auch hier die teilweise kontroverse Forschungsdiskussion einbezieht und eine gründliche Analyse bietet.
Das nun folgende Kapitel (101–157) bringt eine eingehende Auslegung der ersten drei Abschnitte von 4Esra, d. h. der Dialoge zwischen Uriel und Esra. H. zeigt auf, dass sich Uriels Position als »eschatological wisdom« einordnen lässt, Esras Position hingegen als durch die Tempelzerstörung in eine tiefe Krise geratene »covenantal wisdom«. Besonders positiv zu bemerken ist, dass diese Einordnung nicht der Gefahr des Schematismus erliegt: H. nennt auch diejenigen Punkte, an denen sich 4Esra von 4QInstruction bzw. Sirach und Baruch unterscheidet, in großer Klarheit.
Kapitel 4 (159–204) versucht auf dieser Grundlage eine Interpretation der Abschnitte 4–6, d. h. der drei Visionen. Das Gespräch mit der trauernden Frau, das in die Vision des himmlischen Zion mündet, wird als Wendepunkt von 4Esra herausgearbeitet. Die folgenden zwei Visionen bieten laut H. eine Art Lösung für das ergebnislos verlaufene Streitgespräch zwischen den durch Uriel und Esra repräsentierten theologischen Positionen: keine rationale Lösung, die die offen gebliebenen Fragen beantwortete, sondern eine Lö­sung im Sinne einer tröstenden Bestärkung des religiösen Symbolsystems, indem die Wiederaufrichtung Israels durch den Messias als nahe bevorstehend in Aussicht gestellt wird. Diese »apocalyptic solution« ist als dritte theologische Position von den Positionen Uriels und Esras klar zu unterscheiden, wie H. in Abgrenzung von manchen früheren, zu undifferenzierten Auslegungen zeigt. Zwar lässt sich die messianische Eschatologie der Visionen mit der auf das Gericht über jeden Einzelnen zentrierten Eschatologie Uriels vereinbaren: Das zeitlich begrenzte Reich des Messias ist dem eigentlichen Endgericht vorgeschaltet. Dennoch wird gegenüber Uriels Position ein anderer Akzent gesetzt, nämlich auf die Wiederherstellung Israels. Damit wird die Position Esras in ihr Recht gesetzt, zumindest wird (manchen) Einwänden Esras gegen Uriel Rechnung getragen.
Das letzte Kapitel (205–236) widmet sich dem oft vernachlässigten Schlussabschnitt von 4Esra. H. argumentiert plausibel, dass er keineswegs ein leicht unpassender Anhang ist, vielmehr der Schlüssel zur literatursoziologischen und religionsgeschichtlichen Einordnung von 4Esra. In ihm ordnet der Autor sein eigenes Werk den 70 verborgenen Büchern zu, die nur für die »Weisen« bestimmt sind, d. h. für die schriftgelehrten Zirkel, in denen die Zulänglichkeit verschiedener Weisheitstheologien nach der Katastrophe von 70 n. Chr. debattiert wurde. Ihnen entstammt der Autor wohl selbst, und ihnen hat er mit den fünf inspirierten Schreibern des Esra sozusagen ein Denkmal in seinem Buch gesetzt. Für das Volk hingegen sind nur die 24 »kanonischen« Schriften bestimmt. Esras Rede an das Volk verrät nichts von den theologischen Debatten und auch nichts von den Visionen im Vorangehenden.
Ein beispielhaft klarer zusammenfassender Schlussabschnitt bündelt die Ergebnisse und wagt auch den Schritt zu der aktualisierenden Frage, was die bleibende theologische Bedeutung von 4Esra für heutige Leser ausmachen könnte. M. E. zutreffend sieht H. die theologische Stärke von 4Esra vor allem in den Dialogen zwischen Esra und Uriel, die verschiedene Denkmodelle in ein Streitgespräch bringen und dabei auch vor noch so radikalen Fragen an sie nicht zurückschrecken.
H.s Buch verbindet sorgfältige Textinterpretation, scharfsinnige Argumentation und umfassende Kenntnis der Forschung (sowie fairen Umgang mit abweichenden Forschungspositionen). Nicht nur die englischsprachige, auch deutsche und französische Forschung werden wahrgenommen, wie das umfangreiche Literaturverzeichnis zeigt. Es ist ein wichtiger Beitrag zur weiteren Erschließung von 4Esra als einem faszinierenden theologischen Text des antiken Judentums. Ihm sind viele Leser zu wünschen, die auf ihm aufbauend die Diskussion weiterführen.