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Ausgabe:

März/2010

Spalte:

286-288

Kategorie:

Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Schweidler, Walter [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Postsäkulare Gesellschaft. Perspektiven interdisziplinärer Forschung.

Verlag:

Freiburg-München: Alber 2007. 437 S. 8°. Kart. EUR 39,00. ISBN 978-3-495-48287-2.

Rezensent:

Hartmut Kreß

In den letzten Jahren ist das Wort »postsäkular« in einem Maß zum Leitbegriff öffentlicher Debatten aufgestiegen, dass es die Rede von der Postmoderne geradezu verdrängt hat. Der Terminus »postsäkular« ist indessen so vieldeutig und unscharf, dass sich auf einen interdisziplinären Band, so wie er hier vorliegt, die Erwartung der definitorischen und sachlichen Klärung richtet. Der Herausgeber Walter Schweidler, Vertreter der Praktischen Philosophie in Bo­chum und in seiner akademischen Biographie dem Philosophen Robert Spaemann verbunden, eröffnet das Buch mit Erwägungen über die »Dialektik der Säkularisierung«. Hierzu entfaltet er ein Krisenszenario. Die säkularisierte Gegenwartsgesellschaft sei hoch­gradig ideologieanfällig. In die »ehemalige Position der transzendenten Mächte« seien neue Mächte getreten, z. B. Gesundheit (16). Zu den Verfallsphänomenen gehöre der Bologna-Prozess, den der Herausgeber »mit dem Prozess der Säkularisierung« sogar »in eine intentionale [!] Beziehung bringt« (17). Im säkularisierten Staat sei aber immerhin ein »Unantastbares« erhalten geblieben, nämlich die Würde des Menschen. Letztlich bleibe die Religion selbst für die heutige Gesellschaft unverzichtbar. Sogar in seiner »Substanz« hänge der säkularisierte Staat »auch und wesentlich von dem religiösen Bürger« ab (19).
Den letzteren, freilich unklar bleibenden Gedanken – ist hier »auch« oder ist »wesentlich« vom religiösen Bürger die Rede? – nehmen zahlreiche Beiträge des Buches auf. Unter »Religion« verstehen sie faktisch oft das römisch-katholische Christentum. Daher läuft das Sammelwerk weitgehend auf eine katholisch-apologetische Position hinaus. Es ist in sechs Abschnitte eingeteilt: »Das Unabstimmbare«; »Postsäkulare Gesellschaft«; »Menschenwürde und Säkularisierung«; »Die anthropologische Perspektive«; »Säkularisiertes Europa«; »Islam und Säkularisierung«. Insgesamt zeigt sich, dass es sehr schwerfällt, den im Buchtitel enthaltenen Begriff »post­säkular« als schlüssige, sachlich erhellende und definitorisch hin­reichend präzise Deutungskategorie zu nutzen. Die Aufsätze des Kapitels »Säkularisiertes Europa«, die für sich genommen in vielem interessant sind, berichten u. a. über die Korrelation von Nation, Na­tionalismus und Religion in Osteuropa. Im Kapitel »Islam und Säkularisierung« wird dargelegt, dass westliche säkulare und menschenrechtliche Standards auf islamischer Seite nur langsam rezipiert werden. Unklar bleibt, in welcher systematischen Hinsicht dies alles jeweils unter die Kategorie »postsäkular« zu subsumieren ist.
Davon abgesehen bietet der Band mit seinen 26 Autoren zum Themenspektrum von Religion und Säkularisierung viele Impressionen und Analysen. Einen inhaltlichen Schwerpunkt stellt die Idee der Menschenwürde dar, die W. Schweidler als modernen Ersatz für die alte religiöse Rede vom Heiligen ansieht (18). Eine Zuspitzung nimmt Robert Spaemann vor. Er vertritt die Auffassung,­ dass »die Menschenwürde göttlichen Ursprungs ist«. Würde man die Idee der Menschenwürde sowie die Menschenrechte nur für kulturell bedingt halten und nähme man für sie bestimmte geschichtliche Ursprünge an, käme eine »Tyrannei der Toten über die Lebenden« zustande. Daher sei es wünschenswert, wenn der Gottesbegriff, der die Menschenwürde legitimiere, in staatlichen Verfassungen verankert werde (72).
Dies Letztere vertreten auch andere Beiträge des Sammelbandes. Sie knüpfen an die Kontroversen an, die über die Aufnahme eines Gottesbezugs in den Verfassungsvertrag der Europäischen Union geführt worden sind. Dabei wird sogar die These vertreten, die Entscheidung der EU, auf eine Nennung Gottes in der Präambel des Vertragswerks zu verzichten, sei keineswegs nur ein Ausdruck religiös-weltanschaulicher Neutralität. Es handele sich vielmehr um eine Stellungnahme, die das Christentum dezidiert negiere, um ein »donnerndes Schweigen«, ja um »Christophobie« (so Roberto de Mattei, 275, unter Bezug auf den katholischen Verfassungsrechtler Joseph Weiler). Die Marginalisierung des Christentums durch die EU werde zudem daran deutlich, dass das Vertragswerk mit einem Thukydides-Zitat eingeleitet werde, welches die Demokratie in Athen rühmt (280). An dieser Stelle zeigt sich freilich, dass Aussagen des Buches weit über das Ziel hinausschießen. Sogar sachliche Unrichtigkeit bzw. Verkürzung wird in Kauf genommen. Das Thukydides-Zitat ist in der Tat durchaus missverständlich, allerdings aus einem anderen Grund als dem von R. de Mattei genannten. Daher hatte die EU-Regierungskonferenz es bereits im Jahr 2004 aus dem Verfassungsentwurf herausgestrichen.
Andere Beiträge des Bandes argumentieren differenzierter. Dennoch bleibt die Feststellung zu schlagwortartig, das säkulare Gemeinwesen sei »religionsbedürftig«, weil es auf soziale Initia­tiven oder Einrichtungen der Kirchen angewiesen sei. Die Religionsgemeinschaften bzw. Kirchen besäßen zudem eine »handfeste Entlastungsfunktion …: damit sich nicht unerfüllbare Heilserwartungen an die Adresse des Staates richten« (Matthias Jestaedt, 288) und damit die Staatsverfassung vor »Verabsolutierung« ge­schützt wird (so Peter Wick, 250). Diese Argumentation ist als staatstheoretischer Relevanzerweis der Religion jedoch ungeeignet, schon allein in Anbetracht des heutigen Pluralismus der Religionen und der nichtreligiösen humanistischen Weltanschauungen. Zudem ist sie realitätsfern. Inzwischen hat in Europa ein so pragmatisches, er­nüchtertes sowie skeptisches Staatsverständnis Einzug gehalten, dass auf den Staat durchweg keine »Heils«projektionen gerichtet werden.
Um die katholisch-apologetische Argumentation abzustützen, greifen Robert Spaemann und andere Autoren wiederholt auf, dass Jürgen Habermas vor einer Ausgrenzung religiöser Bürger aus dem gesellschaftlichen Diskurs gewarnt hat. Sie kritisieren allerdings, Habermas habe die Binnenperspektive von Religion vernachlässigt. Zudem sei neben dem rational transformierbaren Gehalt der Religion, auf den Habermas hinwies, auch ihr Überschusspotential zu beachten, das sich säkular nicht übersetzen lasse (vgl. z. B. Klaus Thomalla, 119 ff.). Erläuterungsbedürftig bleibt dann aber, welche Inhalte im Einzelnen gemeint sind und welcher konstruktive Ertrag für Staat und Gesellschaft von ihnen erwartet wird.
Neben den religiös-apologetisch angelegten Beiträgen enthält das Buch einige anders gelagerte Artikel. Mit präziser Argumentation widerspricht Tatjana Hörnle der These, der Begriff der Menschenwürde sei historisch sowie systematisch so einlinig auf das Christentum zurückzuführen, dass die abnehmende gesellschaftliche Bedeutung von Christentum oder Kirchen zugleich zu einer Erosion in der Akzeptanz der Menschenwürde führe (177). Schlüssig kritisiert sie das vielzitierte sog. Böckenförde-Diktum (170). Sie macht u. a. darauf aufmerksam, dass die Idee der Menschenwürde erst dann zum menschen- und verfassungsrechtlichen Leitmotiv aufgestiegen ist, als die herkömmlichen Bindungen der europäischen Gesellschaften an das Christentum nachließen. Die Menschenwürde lässt sich im Übrigen auch im Licht ostasiatischer konfuzianischer Lehren auslegen (vgl. Heiner Roetz, 190 ff.). Einen markanten Akzent setzt Winfried Hassemer, der zum Zeitpunkt des dem Band zugrunde liegenden Bochumer Symposiums Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts war. Er unterstreicht, dass die Pflege der Rechtskultur unerlässlich ist, um die Stabilität eines Gemeinwesens und des Rechtsstaates aufrechtzuerhalten. Die Rechtskultur und das überpositive Recht sind dabei in ihrem Gewordensein und in ihrer Wandelbarkeit zu betrachten (56). Gegenüber Spaemanns theonomer Fundierung von Menschenwürde und Menschenrechten und der These, sogar Agnostiker müssten an einem Gottesbezug in der Verfassung interessiert sein (72), ist hiermit ein wichtiger Kontrapunkt gesetzt worden. Die Rechtsethik und auch die theologische Ethik sollten die von Hassemer genannten Gesichtspunkte nicht vernachlässigen.