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Ausgabe:

März/2010

Spalte:

284-286

Kategorie:

Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Polke, Christian

Titel/Untertitel:

Öffentliche Religion in der Demokratie. Eine Untersuchung zur weltanschaulichen Neutralität des Staates.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2009. 334 S. gr.8° = Öffentliche Theologie, 24. Kart. EUR 38,00. ISBN 978-3-374-02692-0.

Rezensent:

Michael Coors

Die in Heidelberg von W. Härle betreute theologische Dissertation über das Konzept der weltanschaulichen Neutralität des Staates besticht durch eine umfassende Kenntnis der philosophischen, juristischen und soziologischen Diskussion zu Fragen der politischen Theorie und Ethik. Beeindruckend an diesem Buch, das sich als ein Kapitel politischer Ethik des Christentums versteht, ist insbesondere die Verschränkung verschiedener disziplinärer Perspektiven auf das Thema. P. macht sich dabei seine eigene Mehrfachqualifikation als studierter Theologe, Philosoph und Jurist zu­nutze. Entsprechend gliedert sich das Buch in mehrere Teile:
Auf eine Darstellung der religionssoziologischen Situation folgt zunächst eine luzide recherchierte begriffsgeschichtliche Studie zu den Begriffen der Weltanschauung und der Neutralität. Daran schließt sich eine Auseinandersetzung mit den einschlägigen deutschen Gesetzestexten und der juristischen Diskussion des Neutralitätsgrundsatzes an. Der vierte Teil widmet sich dann der theologischen Bearbeitung der Neutralitätsproblematik, indem er die theologische Rezeption des politik- und gesellschaftstheoretischen Diskurses in den Arbeiten von St. Grotefeld und vor allem von E. Herms thematisiert. In diesem Zusammenhang finden auch die philosophischen Positionen von J. Rawls und J. Habermas und die sich daran anschließende Debatte ihren Ort. Der fünfte Teil, das eigentliche Herzstück des Buches, entwickelt eine dezidiert christliche Theorie der weltanschaulichen Neutralität. Der Aufbau dieses Teils orientiert sich an politiktheoretischen Begriffen (Menschenwürde, Toleranz, rechtliche Norm, politische Aufgabe, sozialer Friede). Inhaltlich geben grundlegende Kategorien der lutherischen Tradition wie die Zwei-Reiche-Lehre oder die anthropologische Definition hominem iustificare fidei den Ton an. Abgeschlossen wird die Arbeit durch ein eigenes Kapitel zum Status des Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen, in dem die zentralen Thesen der Arbeit noch einmal exemplarisch vertieft werden.
Dass diese Thesen gerade wegen ihrer klaren Profilierung zur kritischen Diskussion in der Sache herausfordern, unterstreicht eher die Qualität dieses Buches, denn dass es sie in Frage stellt. Das gilt sowohl im Blick auf den Inhalt als auch im Blick auf die Me­thodik der Begründung. Die methodisch stärksten Passagen des Bu­ches sind eine knappe Interpretation von Luthers Freiheitstraktat (198 ff.) und einige zum Teil sehr dichte Interpretationen von Rechtstexten. Solche Textinterpretationen, in denen die Gedankengänge der Arbeit interpretativ aus Quellen entwickelt werden, finden sich aber leider eher selten. Dadurch bleibt die Argumentation in einer eigentümlichen Schwebe: Nicht immer wird klar, woher die Argumente eigentlich gewonnen wurden, sie entwickeln sich vielmehr aus dem Dickicht der Argumentation. Dabei setzt P., zu­mindest für das Verständnis des Rezensenten, oft zu selbstverständlich voraus, was theologisch über die behandelten Themen zu sagen ist. Hier würde man sich intensivere Diskussionen der theologischen Fragen wünschen. Die methodische Entscheidung, ob man seine Gedanken eher interpretativ aus Texten heraus entwi­ckelt oder ob man eine überblicksartige Analyse der Debatte zur Grundlage der eigenen Argumentation macht, kann und muss jeder Autor ganz für sich fällen. Beides hat seine Vor- und Nachteile. Die Fallstricke und Gefahren der zweiten Variante allerdings werden in dieser Arbeit durchaus deutlich.
Inhaltlich wäre eine ganze Reihe von Entscheidungen zu diskutieren, die, das sei frei heraus zugestanden, immer auch eine Frage der theologischen Positionierung sind. Zentral für die Position von P. sind u. a. der Begriffe der Zivilreligion (Schieder) und das Konzept des »prinzipiellen Pluralismus« (Herms). Dieses Konzept von Herms wird von P. trotz wichtiger Kritikpunkte (129) positiv aufgenommen: Weltanschauliche Perspektivität sei unhintergehbar – auch für eine Theorie der weltanschaulichen Neutralität des Staates, weil, nach Herms, allem Handeln eine weltanschauliche Perspektivität innewohne. Die Theorie der Neutralität könne also selbst nicht noch einmal weltanschaulich neutral sein. Stimmt man dem zu, dann ergeben sich allerdings im Blick auf den Theoriestatus der Pluralismustheorie von Herms, die mit starken anthropologischen und ontologischen Voraussetzungen arbeitet, grundsätzliche Fragen: Nimmt sie nicht für sich in Anspruch, was sie anderen Deutungen bestreitet, nämlich eine Objektivität in der Beschreibung der anthropologischen und handlungstheoretischen Grundlagen des Pluralismus? Herms würde das wohl rundum ablehnen, und auch P., der diese Kritik selbst anführt, sieht hier »weniger eine grundsätzliche Kritik am Unternehmen von Herms« (130) und reiht sich darum mit seinem Programm in diese Denk­tradition ein. Dabei läuft er dann – auf anderer Ebene, aber doch ganz analog – in ähnliche Aporien wie die Hermssche Pluralismustheorie, indem er den Pluralismus am Ende auf der Ebene der Reflexion und des religions politischen Programms m. E. unterläuft – allerdings weniger mit ontologischen Kategorien als vielmehr durch die religionspolitische Kategorie der Zivilreligion, der freilich auch eine fundamentalanthropologische These entspricht (sc. dass der Mensch immer in irgendeiner Weise religiös sei). Nun kann man angesichts des Pluralismus kaum jemandem verwehren, an diesen anthropologischen Voraussetzungen zu zweifeln. Und das wirft die Frage auf, ob hier nicht ein recht zahnloser Begriff des weltanschaulichen Pluralismus vertreten wird und ob die Vorstellung, es könne eine einheitliche Zivilreligion geben, die es erlaubte, weltanschauliche Perspektiven der christlichen Tradition latent normativ – unter Verweis auf den Einfluss der christlichen Weltanschauung auf die Entstehung der Werte unserer Gesellschaft (Joas) – in den öffentlichen Diskurs einzuspeisen, nicht christliches Wunschdenken ist, das an der Radikalität des weltanschaulichen Pluralismus, in dem wir leben, vorbeigeht.
Von dieser Position ausgehend, zielt P. methodisch darauf, Analogien und Differenzen zwischen der christlichen Deutung des (weltanschaulich neutralen) Rechtsstaates und entsprechenden philosophischen Deutungen aufzuzeigen (144). Die theologische Position ist dabei stark von einer Interpretation Luthers in der Tradition liberaler Theologie geprägt – das wird schon an der starken Betonung der Individualität des Religiösen bei Luther deutlich. Dass das Buch mit einem Zitat von Ernst Troeltsch endet, ist schwerlich Zufall.
Religionspolitisch resultiert aus all dem die Forderung nach einer aktiven Religionspolitik, die darin besteht, die unterschiedlichen religiösen Weltanschauungsgemeinschaften zu unterstützen und zu fördern (214 ff.). Bei aller Sympathie für diese religionspolitische Forderung stellt sich mir doch die Frage, ob die Beschreibung von Kirchen und Religionsgemeinschaften als »Schulen der Zivilgesellschaft« (299 f.) den Kirchen nicht eine bedenklich angepasste Rolle in der Demokratie zuschreibt: Kirche als eine (eschatologische) Gegen- oder Protest-Öffentlichkeit, und gerade darin als Motor politischer Veränderungsprozesse (man denke z. B. an 1989), kommt so kaum in den Blick. P. setzt nicht nur einen sehr einheitlichen Begriff von Öffentlichkeit, sondern auch einen stark konsensorientierten Begriff des Politischen voraus. Beides ließe sich mit guten Gründen politik-theoretisch und theologisch hinterfragen: Wäre es nicht angemessen, von politischen Öffentlichkeiten im Plural zu sprechen und das agonale Moment (Mouffe) der Demokratie stärker hervorzuheben? Zu Recht verschiebt P. den Fokus von der einseitigen Verengung auf die staatliche Öffentlichkeit bei Rawls weg, hin zur zivilpolitischen Öffentlichkeit. Statt dann aber vom Begriff der Zivil religion auszugehen, wäre es m. E. theologisch weiterführender, zunächst einmal die Frage nach der zivilpolitischen Wirksamkeit christlichen und kirchlichen Handelns zu stellen. Dafür allerdings wäre eine theologische Beschreibung der politischen Dimension der aus dem Evangelium geborenen Öffentlichkeit des christlichen Glaubens unabdingbar.
Fazit: Das Buch fordert auf hohem Niveau zum theologischen Widerspruch und zur Diskussion heraus – und gerade darum ist es lesenswert!