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Ausgabe:

Dezember/1996

Spalte:

1208–1211

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Müller-Simon, Manfred

Titel/Untertitel:

Von der Rechtstheologie zur Theorie des Kirchenrechts. Die Verbindung von juristischen und theologischen Themen im Werk von Hans Dombois

Verlag:

Frankfurt/M.-Berlin-Bern-New York-Paris-Wien: Lang 1994. 283 S. 8° = Beiträge zur rationalen Theologie, 4. Kart. DM 84,­. ISBN 3-631-44673-X.

Rezensent:

Karl Schwarz

Man hat die Klagen noch im Ohr, die der seinerzeit an der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft in Heidelberg wirkende Rechtstheologe Hans Adolf Dombois im Munde führte, wenn er die Rezeptionsbarrieren beschrieb, die seinem großen Werk "Das Recht der Gnade" (Bde. 1-2: 1961-1974) namentlich von seiten der Theologen in den Weg gestellt wurden. Sie gipfelten in der bitteren Bemerkung, daß die evangelische Theologie an einer endemischen Rechtsneurose leide (in: Theologie ­ was ist das?, Stuttgart-Berlin 1977, 261). Der 1983 erschienene dritte Band des Rechts der Gnade markierte einen Wendepunkt, denn er wurde von der Fachwelt, von Juristen und Theologen gleichermaßen, dankbar aufgenommen, sein Vf. aber, der darin die Bilanz eines lebenslangen Nachdenkens über "Ordnung und Unordnung der Kirche" zog, wurde dafür in mehreren wissenschaftlichen Symposien (Heidelberg 1982, Hofgeismar 1984, Heidelberg 1987) von Juristen und Theologen bedankt und geehrt und sein Werk in den fächer-übergreifenden Diskurs gestellt.

An tiefschürfenden Interpreten bestand nunmehr kein Mangel. Der Jurist Wilhelm Steinmüller war schon zuvor einer der ersten gewesen, der in seiner Münchener Habilitationsschrift (Evangelische Rechtstheologie, Köln-Graz 1968) einen erhellenden Kommentar zu Dombois verfaßt hat ­ und zwar als katholischer Jurist vor dem Hintergrund der katholischen Rechtstheologie der Münchener Schule; dessen besondere Pointe lag wohl, wie er in der Festschrift für das Münchener Schulhaupt Klaus Mörsdorf "Ius Sacrum" (1969) ausführte, in seiner konfessionsübergreifenden Perspektive und interdisziplinären Methodik (Rechtstheologie als theologische Disziplin mit juristischer Methode). Weiter wären auf juristischer Seite Ralf Dreier und Peter Landau zu nennen, die Interpretationshilfen zum Gnadenrecht lieferten, auf theologischer Seite Christian Link und Wolfgang Lienemann, um zwei Namen zu nennen, die im Literaturverzeichnis der rezensierten Studie nicht aufscheinen.

Das gesteigerte Interesse an Dombois´ Rechtstheologie wurde aber nicht nur an den jubiläumsbedingten Festheften der Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht (erstmals ZevKR 1978/1, sodann 1987/3) deutlich, sondern zuletzt an dem Umstand, daß sich gleichzeitig zwei theologische Dissertationen unabhängig voneinander dem Gesamtwerk von Dombois widmeten: der römisch-katholische Theologe Severin J. Lederhilger [o.pracm.], der mit der Arbeit "Das ´ius divinum´ bei Hans Dombois" (veröffentlicht in der Reihe "Kirche und Recht" 20, Wien 1994) 1991 in Rom promovierte, und der evangelische Theologe Manfred Müller-Simon, dessen vorliegende und anzuzeigende Dissertation vom ehemals Münchner Professor Falk Wagner angeregt und betreut und 1990 in Wien zum Abschluß gebracht wurde (veröffentlicht ebenfalls 1994).

Die Arbeit umfaßt knapp 150 Textseiten, hinzu kommen 93 Seiten Anmerkungen, in denen sich der Vf. mit der Literatur auseinandersetzt; sie sind leider nicht auf die jeweilige Textseite gebracht, so daß die Lektüre sehr erschwert wird; ein 39-seitiges "Verzeichnis der zitierten Literatur" (keine umfassende Bibliographie der Sekundärliteratur zu Dombois) schließt das Buch ab. Der 1990 in Heidelberg erschienene Kommentarband "Zugänge zum ,Recht der Gnade´", hrsg. von Horst Folkers (= Texte und Materialien der FEST Nr. 33) wurde beispielsweise von Müller-Simon nicht benützt und bei der Drucklegung auch nicht mehr eingearbeitet.

Das Buch ist in acht unterschiedlich lange Kapitel gegliedert, sein Schwerpunkt liegt in der Auseinandersetzung mit Dombois´ Theorie des Kirchenrechts in den Kapiteln 3-5. Nach der bereits in der Einleitung erfolgten Abrechnung mit dem Begriff "Rechtstheologie", den er namentlich in seiner von Steinmüller proklamierten Emphase (1968) strikte zurückweist, deutet der Titel der Arbeit eine Entwicklungslinie an, die von der Rechtstheologie zur Theorie des Kirchenrechts führt. Ob sich diese Entwicklungslinie wissenschaftsgeschichtlich an Dombois verifizieren läßt, scheint mir fraglich.

Doch dem Vf. geht es nicht um Wissenschaftsgeschichte, sondern um eine ausschließlich systematisch-theologische Analyse des Rechts der Gnade von Dombois, genauerhin um den Nachweis, daß eine kommunikationsfähige Theorie der christlichen Religion eines rechtstheologischen Brückenbaus zur Rechtswissenschaft gar nicht bedarf, sondern seit der Emanzipation des Rechts von der Religion einen "neutralen" Anknüpfungspunkt benötigt, "um die neuzeitliche Ausdifferenzierung von Recht und Religion... denkerisch zu bewältigen" (4).

Die Einleitung setzt bei der engen Kooperation von Theologie und Jurisprudenz nach 1945 ein, bei der Naturrechtsrenaissance, die wiederum eine Folge der Unrechtserfahrungen während des NS-Regimes gewesen ist. Sie erbrachte auf evangelischer Seite unterschiedliche Versuche einer theologischen Rechtsbegründung, für die sich der vom Vf. abgelehnte Begriff der Rechtstheologie eingebürgert hat. Freilich geht der Begriff hierin nicht auf. Diese naturrechtliche Gegenbewegung bildete nur eine kurze Episode, in einem ausdifferenzierten Verhältnis von Recht und Religion wurde Rechtstheologie in der Sicht des Vf.s zum Anachronismus. Sie "schmolz zur Kirchenrechtslehre zusammen" (9) ­ man könnte auch sagen: zur Rechtstheologie im engeren Sinn (Ralf Dreier).

Was den persönlichen Ausgangspunkt von Dombois betrifft, so benennt Müller-Simon (10) "die Erschütterungen des Zusammenbruchs von 1945", sodann die Mitarbeit in der 1950 gegründeten Eherechtskommission der EKD. Ich vermisse einen Hinweis auf Dombois´ Mitgliedschaft in der Michaelsbruderschaft, die für seine rechtstheologische Ausgangsposition und für sein radikal universalkirchliches Problembewußtsein eine ganz außerordentliche Rolle spielte. Wenn man von einer Formulierung in der Stiftungsurkunde der Bruderschaft (Marburg 1931) ausgeht, in der Barmen III vorwegnehmend die Kirchenverfassung als Medium des Christuszeugnisses reklamiert wird ("In allem, worin die Kirche erscheint, es sei ihre Verkündigung, ihr Gebet und Sakrament, ihr Liebeswerk oder ihre Verfassung, will Christus bezeugt werden."), wird auch ein weiteres ganz wichtiges Motiv deutlich, das ihn zur Überwindung des überkommenen, im Banne Rudolph Sohms stehenden Kirchenrechts führte.

Im 2. Kap. untersucht der Vf. zunächst jene Themen, die Dombois vor seiner Beschäftigung mit dem Kirchenrecht ­ richtiger müßte es heißen: vor "Recht der Gnade" I (1961) ­ behandelt hat, denn mit dem Methodenproblem in der ev. Kirchenrechtslehre befaßt sich ein wichtiger Aufsatz im ersten Jahrgang der Zeitschrift für ev. Kirchenrecht 1951. Es sind Themen aus den Bereichen Staatslehre (hier ist auf die bei Rudolf Smend erarbeitete Dissertation "Strukturelle Staatslehre" zu verweisen) und Strafrecht, um mit der Institutionenlehre (18-44) zum engeren Bereich des Kirchenrechts überzuleiten. Dieser Übergang ist sehr anschaulich: Vor dem Hintergrund der juristischen (M. Hauriou) und soziologischen Variante (H. Schelsky) der Institutionenlehre fand Dombois über den Rechtsvorgang der Eheschließung zum Thema der Institution, die den rechtstheologischen Diskurs der 50er Jahre und der unternommenen transzendenten Verankerung des Rechts bestimmte. Müller-Simon konstatiert eine Aporie, denn diese postulierte Transzendierung des Rechts könne "gerade der modernen Rechtsphilosophie nicht einleuchten" (37).

Nun unterstellt er Dombois, aus der Not "später im ´Recht der Gnade´ eine Tugend (ge)macht zu haben" (43), indem er zwei Rechtsformenkreise unterschied: einen normativen Formenkreis des Gerechtigkeitsrechts und einen statusrechtlichen, institutionellen Formenkreis des Gnadenrechts und letzteres auf das Kirchenrecht bezog. Hier aber mit Dombois entgegenzuhalten, daß das Kirchenrecht zwar ein Paradefall des Gnadenrechts ist, daß dieses Stück vorrationale Rechtsdenken aber auch in anderen Rechtsinstituten (Begnadigung, Schenkung, testamentarische Erbeinsetzung, Ehe und Adoption) mindestens phänomenologisch erkennbar wird, trägt nichts aus. Denn das läßt der Vf. nicht gelten (63): Solche "Reservate gnadenrechtlicher Provenienz" könne es "neben dem modernen Rechtssystem" "nicht geben". Und: "Es gibt kein Gnadenrecht unter den Bedingungen des modernen Rechtsverkehrs" (64). Hier folgt er also nicht Dombois, sondern unterwirft diesen seiner systematischen Vorentscheidung. Müller-Simon führt ein scheinbar illustrierendes Zitat von Dombois als Beleg an, demzufolge "der Gnadenbegriff... außerhalb der Theologie... nicht festgehalten werden" könne (65), woraus sich nach seiner Meinung "eine relativ eindeutige Trennung von göttlichem und menschlichen Recht" (ebd.) ergebe. Jedenfalls sieht der Vf. als gegeben an, daß "über den Gnadenbegriff die Verzahnung von Rechts- und Gotteslehre" erfolgt. Er rekonstruiert dies anhand der Gotteslehre, der Christologie und der Anthropologie (66-74), ehe er in einem 5. Kapitel die Kirchenrechtstheorie in ihren ekklesiologischen, gottesdienstrechtlich-liturgischen und pneumatologischen Bezügen entfaltet und Dombois´ Affinität zu Barths Postulat eines liturgischen und bekennenden Kirchenrechts (84, 206) untersucht. Das gottesdienstliche Handeln ist nach Dombois "Grundmaß und Ausgangspunkt" (zit. Anm. 527) allen Kirchenrechts, eine Vorstellung, die der Vf.mit dem Neukantianismus eines Hans Kelsen abweist. Auch dies ist Konsequenz seines systematischen Ansatzes, mit der reinen Rechtslehre zu operieren. Trifft er damit Dombois? Selbst im Kirchenrecht wäre jener Satz vom Gottesdienst als Grundmaß und Ausgangspunkt unakzeptierbar, "denn Rechtsnormen können nicht aus faktischen Handlungen abgeleitet werden" (87) ­ einmal davon abgesehen, daß der Gottesdienst "die Begegnung des Geistes mit dem Geist" (91.93) ist.

Tauchen schon bei der Bestimmung der Grundelemente der Kirchenverfassung nach Dombois mit den Kategorien Repräsentation und Identität (95) zwei Begriffe der Staatslehre auf, denen in der Schule von Carl Schmitt besondere Beachtung geschenkt wurde, so ist es folgerichtig, daß der Vf. das Verhältnis Schmitt-Dombois exkursartig aufschlüsselt (103-109) und dabei nachweist, wie verblüffend ähnlich die Ergebnisse, der wechselseitige Bezug von Repräsentation und Identität, von hierarchischen und demokratischen Elementen, bei beiden ist, wobei der "Akteur", der dieses relativierende und "gewaltenteilende" Moment erzielt, "der Geist Gottes selbst" ist (104). Und pneumatologisch zugespitzt kann der Vf. dann als das oberste Prinzip der Kirchenverfassung den Imperativ benennen: "der Geist erkenne den Geist" (107.109).

Als den wichtigsten theologischen Gewährsmann für Dombois bezeichnet der Vf. Karl Barth, dessen "Rechtstheologie" im 6. Kap. einer systematischen Analyse unterworfen wird. "Rechtfertigung und Recht" (1938) begegnet als Prototyp rechtstheologischen Argumentierens, dem das Recht der Gnade korrespondiert, allerdings in charakteristischer Reduktion vom allgemeinen Recht zum Kirchenrecht, von der Rechtsbegründung bei Barth zur theologischen Kirchenrechtsbegründung bei Dombois, ein, wie der Vf. meint, "aus der Erfahrung einer Frustration" (132) geborener Themawechsel, der sich schon bei Ernst Wolf ankündigt (231 Anm. 811 ­ der Zitathinweis muß mit Peregrinatio II berichtigt werden). Allerdings bleibt er einen schlüssigen Nachweis schuldig, daß sich die Rechtstheologen erst infolge ihrer Aporie dem Kirchenrecht zuwenden, einem "partikularen Rechtsgebiet", in dem "allein noch eine theologische Begründung naheliegt" (132), denn der Hinweis auf Barths "Ordnung der Gemeinde" als Ausweis dieses Themenwechsels dürfte wohl nicht genügen.

Im 7. Kapitel geht der Vf. den Bezügen Dombois´ zur Staatsrechtslehre, insbesondere der Integrationslehre Smends nach (135-146), um jenen Punkt zu ermitteln, "wo ein interdisziplinärer Dialog zwischen der zur Kirchenrechtswissenschaft gewordenen Rechtstheologie und der allgemeinen Rechtswissenschaft heute ansetzen muß" (135). Er gelangt zu interessanten Übereinstimmungen, so weist er nach, daß sich Dombois der geisteswissenschaftlichen Methode Smends bedient, aber auch die Smendsche "Integration" als Vermittlungsschema (143) kehrt im Recht der Gnade wieder. Lediglich die "Wertlehre" wird von Dombois ausgeblendet, aber diese Nichtübereinstimmung (144) wird vom Vf. gut begründet und überzeugend aufgelöst. Ein Ausblick (147-149) versucht die Entwicklung zwischen Barth 1938 und Dombois sehr pointiert als "geordneten" Rückzug (148) der Theologie von Rechtstheologie und Rechtstheorie hin zur Theorie des Kirchenrechts kenntlich zu machen.

Es ist eine steil systematische Studie, die der Vf. vorlegt, sie enttäuscht den Leser, der eine rechtstheologische Untersuchung zu Dombois erwartet; wem es beim Lesen um diese "Verflechtung und Kombination" von Jus und Theologie geht, die der Begriff "Rechtstheologie" auf den Punkt bringt, der wird belehrt, daß es unter den Bedingungen der Kantschen Rechts- und Religionsphilosophie ein solches mixtum nicht geben könne (234 Anm. 827). Für einen, der das Kirchenrecht als theologische Disziplin zu verstehen gelernt hat, der das Kirchenrecht im Sinne der reformierten Tradition zur "Gottesgelehrtheit" zählt, war die Lektüre äußerst ernüchternd, weil so mancher geläufige Gedankengang vom Vf. radikal zerpflückt wird. Sie war streckenweise packend und aufregend, der Stil ist knapp und präzise, er entspricht so gar nicht dem Recht der Gnade in seiner Vielschichtigkeit und mit seinen vielen gedanklichen Zwischenexkursen. Freilich so etwas wie einen theologischen Kompaß zum großen Lebenswerk des Querdenkers Dombois, den man unter diesem Titel vielleicht erwarten möchte, kann und will diese Arbeit des Vf.s nicht bieten, man wird ihr auch nicht gerecht, wenn man sie in diesem Lichte betrachtet. Sie ist zweifellos ein origineller Beitrag zur rationalen Theologie, aber ob sie das letzte Wort zu Dombois sein wird, darf bezweifelt werden.