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Ausgabe:

Februar/2010

Spalte:

259-261

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Spielberg, Bernhard

Titel/Untertitel:

Kann Kirche noch Gemeinde sein? Praxis, Probleme und Perspektiven der Kirche vor Ort.

Verlag:

Würzburg: Echter 2008. 461 S. m. Abb. gr.8° = Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge, 73. Kart. EUR 42,00. ISBN 978-3-429-02999-9.

Rezensent:

Uta Pohl-Patalong

Diese im Wintersemester 2007/2008 von der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Würzburg als Dissertation angenommene Studie widmet sich den aktuellen Strukturreformen in der katholischen Kirche. Sie ist einerseits deskriptiv ausgerichtet, indem sie eine umfassende Bestandsaufnahme bisheriger Veränderungen vorlegt, andererseits normativ orientiert, indem sie konstruktive Vorschläge zur zukünftigen Gestalt und Gestaltung der kirchlichen Organisation formuliert. Heuristisch leitend ist der Begriff der »Krise«, die genauer als Krise der Sozialform, der Strukturen und der Exkulturation bestimmt wird. Der Fokus der Studie liegt auf der Frage nach der Gemeinde, in der S. einerseits die Kumulation der Krise wahrnimmt, andererseits aber auch den Ort für ihre Lösung sieht.
Die Studie gliedert sich in vier klar konturierte Teile. Das erste Kapitel stellt zunächst Rahmenbedingungen der aktuellen Strukturdebatten in Deutschland vor: die Mitgliederzahlen der katholischen Kirche, der statistische Befund zur Teilnahme an Taufe, Firmung und Erstkommunion, Trauung sowie Bestattung, der Besuch des katholischen Gottesdienstes und schließlich die Entwicklung der Zahlen der Personen im pastoralen Dienst. Anschließend werden die zentralen Ergebnisse der Sinus-Milieustudie referiert. Beide Perspektiven erscheinen durchaus sinnvoll gewählt, insofern sie Wesentliches über die gegenwärtige »Krise« der Kirche aussagen. Allerdings liegt der Schwerpunkt stärker auf der breiten und detailgenauen Darstellung der Zahlen und Fakten als auf ihrer eigenständigen Interpretation in Hinblick auf die Fragestellung. Zudem werden sie im weiteren Verlauf der Untersuchung nur recht allgemein wieder aufgenommen, so dass das Potential dieses Schrittes nicht vollständig genutzt wird. Als aktuelle Herausforderung werden aus diesen Wahrnehmungen drei Schritte formuliert: eine »ehrliche Auseinandersetzung« mit den bislang kirchlich marginalisierten Milieus, ein »mutiges Widerstehen« gegenüber den Versuchungen zur Kontinuitätsfiktion, zum Rückzug und zum Aktionismus und eine »kreative Konfrontation« zwischen Evangelium und gegenwärtiger Kultur.
Fasst dieser Teil im Wesentlichen bekannte Daten zusammen, bietet das zweite Kapitel in dieser Form ein Novum: Die bisherigen Strukturmaßnahmen von zehn deutschen Diözesen werden erhoben und überblicksartig dargestellt. Methodisch erweist sich be­sonders die doppelte Fragerichtung als ergiebig, die sowohl nach den in der Problemanalyse Wahrgenommenen als auch nach dem jeweils nicht Wahrgenommenen fragt. Die zusammenfassende Auswertung greift die genannten Herausforderungen auf und stellt deutliche Defizite fest. Statt einer »ehrlichen Auseinandersetzung« mit der gesellschaftlichen Gegenwart stehen binnenkirchliche Probleme im Vordergrund, was dazu führt, dass die Strukturreformen nicht tief genug greifen. Es besteht die Gefahr, dass Menschen in den Pfarreien nicht mehr zur Veränderung ihrer Lebenspraxis aufgrund des Kontakts zum Evangelium gelangen. Damit kommt die Analyse zu einem klaren Ergebnis, das in sich schlüssig ist und sich in den gegenwärtigen Diskurs um die Zu­kunft der Kirche(n) einfügt. Wünschenswert wäre allerdings eine eingehendere Reflexion der Grundentscheidung, den Fokus der Studie auf die Pfarrei als lokale Größe von Kirche zu setzen, denn damit werden entscheidende Weichen bereits gestellt, ohne Alternativen diskutiert zu haben und zu einer schlüssigen Begründung der Entscheidung gelangt zu sein.
Den erarbeiteten Defiziten bisheriger Reformprozesse möchte S. mit einer Weitung des Horizonts begegnen, indem er mit dem »Asian Integral Pastoral Approach« einen Ansatz aus einem anderen kulturellen Kontext in den Diskussionsprozess einspielt. So werden im dritten Kapitel Geschichte und Kontext des »Asian Integral Pastoral Approach« ausführlich geschildert. Dieses Modell kleiner christlicher Gemeinschaften mit einer hohen Verantwortlichkeit von Laien auf der Grundlage des »Bibel-Teilens« entstand ur­sprünglich im südafrikanischen Kontext und wurde dann in einigen Kirchen Asiens in mehreren Schritten eingeführt. Konkretisiert wird die Vorstellung des Ansatzes am Beispiel von Malaysia, das S. aus eigener Anschauung kennt, wobei auch Schwierigkeiten und Enttäuschungen nicht verschwiegen werden. Hermeneutisch möchte er diesen Ansatz jedoch nicht als schlicht zu übernehmende »Frischzellenkur für die alte europäische Kirche« (277) verwenden, was zum einen als vereinnahmend, zum anderen als nicht sinnvoll reflektiert wird. Stattdessen möchte er die eigene Theologie und Praxis von diesem Ansatz anfragen und sich von ihm inspirieren lassen, sich mit den »Zeichen der Zeit« vor der eigenen Haustür auseinanderzusetzen. Diese – hermeneutisch sehr sinnvolle – Beschränkung führt allerdings dazu, dass der Ertrag der detaillierten Vorstellung des Ansatzes (einschließlich der einzelnen Stadien der Einführung des Konzepts sowie der entsprechenden kirchlichen Dokumente) für die Fragestellung der Studie nicht allzu weit trägt. Im Ergebnis soll der Ansatz dazu anregen, »die neue Art, Kirche zu sein ... einzuüben«, indem er »Menschen einen neuen Blick auf die Welt, eine andere Erfahrung des Evangeliums und neue Formen des Umgangs innerhalb der Kirche und darüber hinaus ermöglicht« (363 f.). Unter Berücksichtigung soziokultureller und kirchlich-pastoraler Differenzen und einiger prinzipieller Kritikpunkte werden konkreter vier zentrale Aspekte als mögliche Lerneffekte für die deutsche Situation formuliert: 1. das »Bemühen um die Verortung des Evangeliums im Leben der Menschen« (370), 2. der Mut zu neuen Formen, 3. die Bereitschaft zu geduldigen und langwierigen Bewusstseinsprozessen der Beteiligten sowie 4. die Wahrnehmung der Differenz von Pfarrei und Gemeinde, so dass sich Gemeinden zu »Knotenpunkten« in den »großräumigen Netzwerken« (373) der Pfarreien entwickeln. Dieser Ertrag ist ebenso sinnvoll wie sympathisch, allerdings sind alle diese Kriterien in den breiten kirchentheoretischen Diskursen der beiden großen Konfessionen schon öfter genannt worden, so dass die Frage nach dem konkreten Ertrag des spezifischen Ansatzes des »Asian Integral Pastoral Approach« offen bleibt.
Dieser Eindruck bestätigt sich auch im letzten Teil, der dann konstruktiv Perspektiven für künftige kirchliche Strukturen entwickelt. S. votiert für die bleibende Präsenz der Kirche am Ort und das Territorialprinzip, plädiert aber für die Aufgabe pastoraler Versorgung und institutioneller Selbstzentrierung. Er möchte die »Pfarrgemeinde neu verstehen« (388), so dass sie gegenwärtige ge­sellschaftliche Tendenzen (wie »Clanning«, »High-Touch«, »Co­coon­ing« oder Erlebnis- und Erfahrungsorientierung) wahrnimmt und auf diese antwortet und auf diese Weise ihre Aufgabe erfüllt, Evangelium und das gegenwärtige Leben von Menschen in Beziehung zu setzen.
Diese Vorschläge bieten Sinnvolles und Richtiges, gehen allerdings nur ansatzweise, und ohne die Innovation jeweils kenntlich zu machen, über die diversen in den bisherigen Diskussionen entwickelten Überlegungen und Vorstellungen hinaus. Es erweist sich als nachteilig, dass keine Auseinandersetzung mit bisherigen konzeptionellen Modellen künftiger kirchlicher Strukturen erfolgt, die gerade in der Konfrontation mit dem Ansatz des »Asian Integral Pastoral Approach« interessant gewesen wäre. So wird der durchaus produktive Ansatz, sich in den kirchlichen Strukturdebatten in Deutschland von anderen Kontexten inspirieren zu lassen, ohne fertige Modelle zu übernehmen, in seinem Innovationspotential nicht ganz genutzt. Der Zugang an sich stellt jedoch gerade in Verbindung mit der präzisen Analyse der Probleme im zweiten Teil durchaus eine Bereicherung des praktisch-theo­logischen Beitrags zu den kirchlichen Strukturreformen dar.