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Ausgabe:

Februar/2010

Spalte:

257-259

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Donnelly, Doris, Famerée, Joseph, Lamberigts, Mathijs, and Karim Schelkens [Eds.]

Titel/Untertitel:

The Belgian Contribution to the Second Vatican Council. International Research Conference at Mechelen, Leuven and Louvain-La-Neuve (September 12–16, 2005).

Verlag:

Leuven-Paris-Dudley: Peeters 2008. XI, 716 S. m. Abb. gr.8° = Bibliotheca Ephemeridum Theologicarum Lovaniensium, 216. Kart. EUR 85,00. ISBN 978-90-429-2101-6.

Rezensent:

Joachim Schmiedl

Scherzhaft wurde das Zweite Vatikanische Konzil auch als »erstes Löwener Konzil« bezeichnet. Tatsächlich steht der Einfluss der belgischen Bischöfe und Theologen auf den Verlauf der Diskussionen des Konzils in keinem Verhältnis zur Größe des Landes. Der vorliegende Sammelband, hervorgegangen aus einem internationalen Forschungskolloquium, fasst die bisherigen Untersuchungsergebnisse zusammen und führt in vielen Detailfragen darüber hinaus.
Die methodischen Grundlagen der Studien sind in den beiden ersten Beiträgen zusammengefasst. Das Zweite Vatikanum, so John A. Coleman (5–28), war die Repräsentanz einer sozialen Bewegung, deren Zustandekommen das Ergebnis des Zusammenspiels handelnder Personen und Lobbyisten zu einem geeigneten Zeitpunkt unter vorgegebenen institutionellen Bedingungen war. Zur adäquaten Erforschung stützen sich die Autoren des Bandes auch auf private Quellen, wie etwa Tagebücher der Teilnehmer (vgl. den Beitrag von Leo Kenis, 29–53), eine in der Konzilsforschung nicht unumstrittene hermeneutische Grundentscheidung.
Der belgische Beitrag zum Konzil wird in zwei großen Teilen behandelt. Der erste Teil beschäftigt sich mit dem Erzbischof von Mecheln-Brüssel, Kardinal Léon-Joseph Suenens (1904–1996). Detailliert zeichnen Mathijs Lamberigts und Leo Declerck die Rolle des belgischen Kardinals auf dem Konzil nach (61–217). Suenens entwickelte bereits vor Konzilsbeginn einen Plan zur Ordnung der Themen. Er engagierte sich besonders für die Kirchenkonstitution und die Konstitution über die Kirche in der Welt von heute, wobei die Geburtenkontrolle eines seiner Hauptinteressen war. Suenens war ein Konzilsvater, der in Zusammenarbeit mit anderen, be­sonders den ab der zweiten Sessio ebenfalls als Moderatoren fungierenden Kardinälen Julius Döpfner (vgl. Guido Treffler, 219–231) und Giacomo Lercaro (vgl. Dirk Claes, 233–253; Giovanni Turbanti, 255–283) sowie dessen theologischem Experten Giuseppe Dossetti, seinen Beitrag zum Konzilsgeschehen leistete. Mit Papst Paul VI. verband Suenens eine fast freundschaftliche Beziehung, die jedoch vor allem in der unmittelbaren Nachkonzilszeit von großen Spannungen geprägt war (vgl. Leo Declerck und Toon Osaer, 285–323). Ebenfalls spannungsreich gestaltete sich das Verhältnis Suenens’ zu seinem kanadischen Kollegen Paul-Émile Léger (vgl. Gilles Routhier, 325–357).
Der zweite Teil des Bandes enthält Beiträge zur sog. »Squadra Belga«, also den Theologen, die als Experten auf dem Konzil selbst oder in der wissenschaftlichen Vorarbeit tätig waren.
Für die Vorbereitung der Dekrete zur Ökumene waren die »Semaines d’études­« des Benediktinerklosters Chevetogne wegweisend. Einige Mönche nahmen auch als Experten am Konzil teil (vgl. Emmanuel Lanne, 361–388). Der Löwener Theologe Gustave Thils lieferte ebenfalls wesentliche Impulse für die Ökumene (vgl. Peter De Mey, 389–413), aber auch für die Neufassung der Kirchenkonstitution nach der ersten Konzilssessio (vgl. Joseph Famerée, 563–584). An der Vorbereitung (vgl. Karim Schelkens, 415–460) und Revision des Dekrets über die Offenbarung (vgl. Jared Wicks, 461–494) war unter anderem Lucien Cerfaux beteiligt. Charles Moeller gehörte ebenfalls zu den für »De Revelatione« herangezogenen Theologen. Moeller, in Löwen eher am Rand stehend, war vor allem für die Pastoralkonstitution »Gaudium et spes« wichtig und wurde nach dem Konzil an die römische Glaubenskongregation berufen (vgl. Claude Soetens, 495–528). Wie unterschiedlich die Protagonisten der Konzilsmehrheit sein konnten, kann Jan Grootaers am Beispiel der beiden eng kooperierenden Theologen Gérard Philips und Giuseppe Dossetti zeigen (529–562). Seine parlamentarische Erfahrung ermöglichte Philips eine zentrale Rolle bei der Endformulierung der beiden zentralen Dokumente zur Kirche und zur »Kirche in der Welt von heute«. Bei letzterem Dokument profitierte Philips von der engen Zusammenarbeit mit französischen Theologen, be­sonders Pierre Haubtmann (vgl. Philippe Bordeyne, 585–610).
Neben Suenens und dem Netzwerk der um die Katholische Universität Löwen, die zu dieser Zeit noch nicht in eine flämisch-englisch- und französischsprachige Abteilung getrennt war, zentrierten Theologen waren auch die belgischen Bischöfe überpro­por­tional am Konzilsgeschehen beteiligt. Das gilt für den 1963 verstorbenen Bischof von Gent, Karel Calewaert, der Reformen kritisch gegenüberstand, aber in liturgischen Fragen sehr aufgeschlossen war (vgl. Mathijs Lamberigts, 611–632). Emiel-Jozef De Smedt arbeitete eng mit dem amerikanischen Theologen John Courtney Murray zusammen, der einen unverzichtbaren Beitrag für die Erklärung zur Religionsfreiheit lieferte (vgl. Silvia Scatena, 633–645). Und auch die belgischen Missionsbischöfe, die zur Konzilszeit noch einen beachtlichen Teil des Episkopats der Kongo-Region stellten, meldeten sich immer wieder zu Wort, besonders mit strategischen Interventionen zur Missionsthematik (vgl. Eddy Louchez, 647–684).

Die Autoren des Sammelbandes haben sich alle schon an anderer Stelle mit dem Zweiten Vatikanum auseinandergesetzt. Auch der belgische Beitrag war mehrfach Gegenstand von Kolloquien und Studien. Was ist also der Ertrag der Konferenz von 2005? Zum einen wurden – und das wird für die nächsten Jahre eine beständige Aufgabe der Konzilsforschung bleiben – neue Archivbestände erschlossen. Die privaten Nachlässe von Konzilsvätern und Konzilstheologen, aber auch von Personen aus deren Umfeld, ermöglichen die Neubewertung von Beziehungen, von Sympathien und Antipathien, aber auch eine differenziertere Beurteilung manchmal vorschnell verteilter Etikettierungen in Progressisten und Traditionalisten. Zum zweiten zeigen die Beiträge, in welch komplexer Weise mündliche und schriftliche Interventionen der Bischöfe sowie besonders die Textfassungen der Dekrete und Konstitu­tionen mitsamt der mühsamen Einarbeitung der Veränderungsvorschläge vorbereitet wurden. Dieser Einblick in die Schreibwerkstätten der Konzilstexte ermöglicht eine differenziertere Interpretation und Einordnung in die theologischen Richtungen und Schulen der ersten Hälfte des 20. Jh.s. Es zeigt sich dann sehr rasch, dass das Zweite Vatikanische Konzil sowohl in Kontinuität zur vorkonzi­liaren Theologie steht – die ja zumindest im mitteleuro­päischen Raum bereits eine Theologie auf der Suche nach neuen Antworten auf die Herausforderungen der Zeit war – als auch in manchen Bereichen (wie Liturgie, Ökumene, Religions- und Ge­wissens­frei­heit) die gewohnten Wege verlassen hat. Fortschritt in der Theologie braucht diesen langen Atem des Dialogs und der geduldigen Formulierung von Texten, vor allem aber den dazugehörigen Kairos. In diesem Sinn bleibt das Zweite Vatikanische Konzil ein Ereignis, zu dessen historischer Aufarbeitung und theologischer Deutung noch vieles zu leisten ist.