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Ausgabe:

Februar/2010

Spalte:

251-253

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Retter, Hein

Titel/Untertitel:

Reformpädagogik und Protestantismus im Übergang zur Demokratie. Studien zur Pädagogik Peter Petersens.

Verlag:

Frankfurt a. M.-Berlin-Bern-Bruxelles-New York-Oxford-Wien: Lang 2007. 933 S. m. Abb. gr.8° = Braunschweiger Beiträge zur Kulturgeschichte, 1. Geb. EUR 101,20. ISBN 978-3-631-56794-4.

Rezensent:

David Käbisch

Historische Bildungsstudien sind in der Kirchengeschichtsschreibung und Religionspädagogik selten, obwohl das Christentum alle Bildungseinrichtungen geprägt hat und Gegenwartsanalysen durch historische Studien an Tiefenschärfe und Aussagekraft gewinnen. Auch die Erziehungswissenschaften haben, von Ausnahmen abgesehen, dem theologischen Erbe ihres Faches bislang kaum Aufmerksamkeit geschenkt, wie überhaupt die religiöse Sprachlosigkeit vieler Erziehungswissenschaftler erstaunt, da sie damit nicht nur einen Teil ihrer Geschichte, sondern auch der heutigen Lebenswelt ausblenden. Aus den genannten Gründen ist es umso erfreulicher, dass der emeritierte Braunschweiger Pädagogikprofessor Hein Retter mit seinen Studien zu Peter Petersen (1884–1952) eine sehr gut lesbare und informationsreiche Mono­graphie vorgelegt hat, die für Theologen und Pädagogen gleichermaßen von Interesse sein dürfte: Denn Neuprotestantismus, Volkskirchenbewegung, dialektische Theologie, Christlich-Sozialer Volksdienst und Kirchenkampf haben das Denken des Jenaer Reformpädagogen nachhaltig geprägt.
R. gliedert seine Arbeit in drei Teile: Der biographisch orientierte erste Teil (17–568) verfolgt den Anspruch, die persönlichen ldentitätskonflikte und wissenschaftlichen Kommunikationsnetze nach den Systemwechseln von 1919, 1933 und 1945 aufzuzeigen. R.s Analyse, die sich an der von Harald Welzer ausgearbeiteten Sozialpsychologie biographischer Wandlungsprozesse orientiert, ist damit ein weiterführender Beitrag zur Transitionsforschung, die vorbildhaft für vergleichbare Studien in der Religionspädagogik ist. Die an­schließende »historisch-systematische Interpretation« seiner Leitideen (569–806) wendet sich zunächst den Bezugsautoren seiner politischen Philosophie zu, unter ihnen Lorenz von Stein, Otto von Gierke, Wilhelm Wundt und Karl Lamprecht, um vor diesem Hintergrund sein Demokratieverständnis und sein Verhältnis zur Weimarer Verfassung zu untersuchen. Trotz kritischer Untertöne gegenüber bestimmten politischen Zuständen kann R. keine Äußerung ausmachen, mit der Petersen in der Zeit von 1918 bis 1933 »die Demokratie im Allgemeinen und die Weimarer Republik oder ihre Verfassung« abgelehnt habe (799). R. versteht seine Studie, wie er im dritten Teil darlegt, als einen »Beitrag zur Petersen-Kontroverse« (807–869). Da das Buch keine Einleitung enthält und R. erst am Ende die Forschungsliteratur vorstellt, seine konkrete Fragestellung darlegt und das »metahermeneutische« Vorgehen begründet, das bereits die vorangegangenen Teile bestimmt hat, empfiehlt es sich, diesen Teil als Orientierung für die Gesamtlektüre zuerst zu lesen.
R. grenzt sich von zwei Typen der Petersenforschung ab, die das Verhältnis zum Nationalsozialismus (und zur Demokratie der Weimarer Republik) sehr unterschiedlich bewertet haben: Auf der einen Seite steht die »kollektive Erinnerung« (807) ehemaliger Mitarbeiter, die unter seiner Federführung in Jena gewirkt haben und teilweise auf einflussreiche Pädagogiklehrstühle in der Bundesrepublik gelangt sind. R. weist in diesem Zusammenhang überzeugend nach, dass deren Behauptung, Petersen sei nie ein ›Nazi‹ gewesen, vor allem eine Selbstentlastung von demselben Vorwurf war. Erhellend ist dabei auch der Rückgriff auf Welzers Theorie, um ebendieses Verhalten zu erklären: So wie Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis verdrängt werden, um mit der moralischen Integrität der Eltern auch die eigene zu wahren, so haben namhafte Reformpädagogen einen ihrer Gründungsväter in Schutz zu nehmen versucht. Auf der anderen Seite stehen in R.s akribischer Literatursichtung solche Autoren, die »von der Imponiersprache der Emanzipationspädagogik aus den endsechziger Jahren« (859) geprägt sind. Diese sehen in Petersen aufgrund seines Natur-, Volkstums- und Gemeinschaftsbegriffs einen geistigen Wegbereiter des Nationalsozialismus. In Abgrenzung zu dieser Position vertritt R. die These, dass Petersen nach 1933 lediglich den Eindruck erwecken wollte, anschlussfähig an nationalsozialis­tische Erziehungsvorstellungen zu sein, um seinen Lehrstuhl an der Universität und den Fortbestand der Jenaplan-Schule zu si­chern. Es seien daher »die Lebenszusammenhänge, nicht die Theo­rie seiner Pädagogik« (837) gewesen, die ihn veranlasst haben, die Unterstützung von Nationalsozialisten wie dem Jenaer Prak­tischen Theologen und Universitätsrektor Wolf Meyer-Erlach zu suchen, Promotionsarbeiten mit völkischen Themen zu betreuen, Vorträge für NS-Eliteeinrichtungen zu halten und sich mit Mitarbeitern zu umgeben, die »überzeugte Nationalsozialisten waren« (838) und später die Petersenrezeption bestimmt haben. Bedauerlicherweise enthält das Buch kein Personen- und Sachregister, mit dessen Hilfe der Leser gezielt die Akteure und Themen identifizieren kann, die im biographischen, konzeptionellen und rezeptionsgeschichtlichen Teil wiederkehren, was jedoch in einer wünschenswerten Zweitauflage nachgeholt werden könnte.
Das Buch ist nicht nur eine quellennahe Rekonstruktion von Petersens Leben und Werk, sondern auch eine kenntnisreiche Darstellung des Umgangs mit dem NS-Erbe in Ost- und Westdeutschland. Während in Berlin der Krieg noch nicht zu Ende war, wurde Petersen, der kein NSDAP-Mitglied war, am 1. Mai 1945 von den Amerikanern zum Dekan der Jenaer Philosophischen Fakultät ernannt. Nach deren Abzug beauftragte ihn noch im selben Jahr die Sowjetische Militäradministration (SMAD) mit dem Wiederaufbau der akademischen Lehrerbildung aller Schulformen. R. zeigt anschaulich, wie Petersen unter neuen politischen Vorzeichen versuchte, seine alten Reformideen umzusetzen, jedoch an den politischen Realitäten scheiterte: Denn der antidemokratische und diktatorische Charakter, den die SBZ und DDR von Anfang an hatten, ließ keinen Raum für selbsttätige Arbeitsformen im Unterricht, demokratische Mitverantwortung der Schüler- und Elternschaft, jahrgangsübergreifende Lerngruppen oder Wochenarbeitspläne. R. grenzt sich dabei von solchen Arbeiten ab, die den verharmlosenden Eindruck erwecken, dass »die politischen Ziele der Besatzungsmacht in der SBZ auch in ihrer moralischen wie rechtlichen Legitimation denen in den Westzonen entsprochen haben« (468). Angesichts aktueller Diskussionen um die Frage, ob die DDR ein Unrechtsstaat gewesen sei oder ›nur‹ an Demokratiedefiziten gelitten habe, ist diese Deutlichkeit sehr zu begrüßen.
R. will die protestan­tische Prägung Petersens in all seinen Schaffensperioden darstellen, theologiegeschichtliche Bezüge offenlegen und die religiöse Dimension seiner »Schulgemeinde« beschreiben, in der Bibel und Andacht zum festen Tagesablauf gehörten. Der Erziehungswissenschaftler bietet dafür dem Leser das nötige theologie- und kirchengeschichtliche Kontextwissen – so zum Schulge­mein­dekonzept von Friedrich Wilhelm Dörpfeld, das Petersen nachhaltig geprägt hat (213–216), zum Christlich-Sozialen Volksdienst (CSVD), für den Petersen 1932 auf der Thüringer Landesliste kandidierte (229), und zur Dialektischen Theologie, die Petersen vor allem durch den in Jena lehrenden Friedrich Gogarten kennenlernte (256–259). Grundsätzlich ist dazu anzumerken, dass die im Titel suggerierte Gleichwertigkeit der Darstellung von Reformpädagogik und Protes­tantismus insofern irreführend ist, als R.s Hauptinteresse auf dem ersten Leitbegriff liegt. Ein Indiz dafür bietet auch die Durchsicht des umfangreichen Literaturverzeichnisses (875–925), dass neben Hunderten von Titeln zur Bildungs- und Politikgeschichte nur einige wenige, meist ältere theologiegeschichtliche Bücher aufführt. R., der ein hervorragender Kenner der historischen Bildungsforschung ist, gelangt daher auf dem Gebiet der Theologiegeschichte nur zu einer weniger differenzierten Darstellung.
So sei ›die‹ Dialektische Theologie im Unterschied zu ›der‹ liberalen Theologie grundsätzlich »antiliberal, antihistorisch, antimodernistisch« (256) und Petersen habe einen »Großteil seines Antiliberalismus von der zeitgenössischen (dialektischen) Theologie« übernommen (863). Solche schroffen Gegenüberstellungen und eingängigen Erklärungen sind, wie neuere Untersuchungen gezeigt haben, weder geeignet, die Pluralität theologischer Positionen in der Zeit der Weimarer Republik zu erfassen noch das Verhältnis des Protestantismus zur Demokratie sachgemäß zu beschreiben. Dieses Beispiel zeigt, dass die Erziehungswissenschaften nicht auf theologische und religionspädago­gische Kompetenzen verzichten können, um zu einer angemessenen historischen Selbstdarstellung zu gelangen. Demgegenüber verweist das Buch auch auf zahllose blinde Flecken in der Kirchengeschichtsschreibung, so das von R. beschriebene »Widerstandspotenzial« des Schulgemeindeverbandes gegen­über den Eingriffen des nationalsozialistischen Staates in Schule und Kirche (321). Dessen Kampf gegen die Schließung evangelischer Bekenntnisschulen, den Petersen unterstützte, wurde bislang kaum zur Kenntnis genommen.
Die historische Bildungsforschung gilt unter Pädagogen vielfach als Liebhaberei und nimmt nicht zuletzt in der Religionspädagogik eine Randstellung ein. Mit seinem sozialpsychologischen Zugriff auf Petersens Leben und Werk zeigt R. jedoch beispielhaft, wie biographische Brüche und Wandlungsprozesse im historischen Kontext verstanden werden können, was nicht nur für die Beschäftigung mit ostdeutschen Biographien nach 1989 von Interesse sein dürfte. R. verweist zudem auf die bleibende Bedeutung von Religion im Schulleben, das durch Rituale, Schulseelsorge und Religionsunterricht eine Bereicherung erfahren kann. Die noch heute bestehenden Jenaplan-Schulen folgen dem Gesamtschulgedanken, integrieren Lernbehinderte, lösen Jahrgangsklassen auf und praktizieren freie Arbeitsformen, so dass von Petersens Pädagogik weiterhin Reformimpulse zu erwarten sind, ohne dabei seiner Neigung, den Gemeinschaftsgedanken völkisch zu interpretieren, folgen zu müssen. Zusammenfassend lässt sich damit sagen, dass die Zukunft der von Petersen ausgehenden Reformideen auch davon abhängt, deren Möglichkeiten und Grenzen im historischen Kontext zu beurteilen. R.s Buch wird dafür ein unverzichtbares Hilfsmittel sein.