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Ausgabe:

Februar/2010

Spalte:

248-251

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Käbisch, David u. Johannes Wischmeyer

Titel/Untertitel:

Die Praxis akademischer Religionslehrerbildung. Katechetik und Pädagogik an der Universität Jena 1817 bis 1918. M. e. Forschungsausblick v. M. Wermke.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2008. XI, 358 S. gr.8° = Praktische Theologie in Geschichte und Gegenwart, 5. Kart. EUR 69,00. ISBN 978-3-16-149737-7.

Rezensent:

Rainer Lachmann

Die Studie erfüllt in vorbildlicher und anschaulicher Weise ein religionspädagogisches Forschungsdesiderat, das mit Recht für alle Epochen der »Geschichte des evangelischen Religionsunterrichts in Deutschland« (Neukirchen-Vluyn 2007) angemahnt wurde. Anhand einer lokalen Fallstudie erschließen die beiden jungen Forscher in gekonnten Analysen und bedachter Kommentierung ein »Quellencorpus«, das in seiner Art einmalig ist und für die katechetische Historiographie eine archivalische Fundgrube par excel­lence darstellt: In seinem Grundbestand handelt es sich dabei um ca. 1600 Protokolle, die im Zeitraum von 1837 bis 1907 von Teilnehmern am Jenaer praktisch-katechetischen Seminar verfasst worden sind und einen wünschenswert »wirklichkeitsnahen Einblick in die Planung, Durchführung und Bewertung der Übungsstunden geben«. Damit nicht genug wird dieses umfangreiche Protokollmaterial noch ergänzt durch die »gesamte einschlägige archiva­lische Überlieferung« wie etwa detaillierte Mitschriften der Katechetik-Vorlesungen der Seminarleiter oder auch preisgekrönte Musterkatechesen studentischer Seminarteilnehmer (5).
Theologisch wie religionspädagogisch beachtenswert ist dabei, dass es sich im Fall der Jenaer Fakultät um einen Hort theologischen Liberalismus handelt, der – erwachsen aus den spätaufklärerisch- rationalistischen Anfängen – das gesamte 19. Jh. maßgeblich bestimmte. Das gab der Katechetik und katechetischen Ausbildung in Jena ihr besonderes Gepräge, durchwirkte in Theorie und Praxis ihre Zielsetzungen und machte sie in gewisser Weise resis­tent gegenüber den Einflüssen einer profiliert konfessionellen Katechetik, wie sie in wachsendem Maße die katechetische Landschaft des 19. Jh.s mitbestimmte. Neben der »konsequent freisinnigen Einstellung der Jenaer Theologen« wurde die zunehmende Bedeutsamkeit der akademischen Pädagogik innerhalb der Philosophischen Fakultät zum profilierenden Markenzeichen des Jenaer Katechetischen Seminars, das gerade in der Konvergenz theologischer und pädagogischer Interessen zu einem frühen Zeugnis integrativer Religionspädagogik werden konnte. In Bezug auf die Ausbildung der Jenaer Theologiestudenten zu Religionslehrern macht das die bleibende Aktualität vorliegender Studie aus.
Die als »Langzeit-Fallstudie« angelegte Arbeit ist mit ihren drei Kapiteln chronologisch gegliedert und folgt in jedem Kapitel einem einheitlichen Schema: Zunächst werden primär »institutionelle und organisatorische Fragen« des Seminarbetriebes geklärt, dann geht es im Kontext der »zeitgenössischen theologischen und pädagogischen Wissenschaftsdiskurse« um den theoriegeschichtlichen Hintergrund der Jenaer Katechetik und schließlich wird jeweils »die Praxisgeschichte der Seminarausbildung dargestellt« (7). Damit sind nicht nur die leitenden Fragestellungen der Studie angesprochen, sondern auch ihr erklärtes Ziel, das »einen ganzheitlichen Blick auf die Institution des Jenaer Seminars« anstrebt und »die institutionellen, theoretischen und praktisch-pädago­gischen Aspekte ... in möglichst engem Verbund rekonstruieren« will (2).
Kapitel I handelt vom »katechetische[n] Seminar 1817 bis 1837« und betitelt diese 20 Jahre als Zeit »zwischen Sokratik, Katechismus und Bibelorientierung« (9–58). In dieser Gründungsphase ist der Rationalist J. T. L. Danz die maßgebliche Persönlichkeit, die das katechetische Seminar nicht nur gründete, sondern ihm auch seine bleibenden Strukturen gab und entscheidende »Maßstäbe für die Jenaer akademische Religionslehrerbildung« etablierte. Wenn die Verfasser diese Maßstäbe würdigen als »bis in das 20. Jahrhundert hinein gültig«, so kann man dem nur zustimmen: »Historisch-kritische Grundlegung der Unterrichtsinhalte«, die gemeinsame Vor- und Nachbesprechung der von den Studenten gehaltenen Unterrichtsstunden, vor allem aber »die Übungssituation unter Realbedingungen« (58) – das sind in der Tat Maßstäbe, die bis heute jedem, der die Praktika religionspädagogisch ernst nimmt, in den Ohren klingen müssen. Was in den Abschnitten »Unterrichtsplanung und Seminararbeit«, »Das Analogie-Verstehen und das Lernen an Beispielen« und »Von der Exegese zur Katechese« an konkreter Beschreibung der katechetischen Seminarpraxis geboten wird, ist beeindruckend. Wenn dann noch von der »Historisch-kritische[n] Exegese als Leitdiszplin der Katechetik« gehandelt wird (55 ff.) und in diesem Zusammenhang auf den großen Exegeten J. Ph. Gabler mit seinem Programm, das »Volk zum Verstehen« anzuleiten, Bezug genommen wird, dann erinnert das frappant an die Konzeption des hermeneutischen Religionsunterrichts und lehrt uns einmal mehr die Bescheidenheit des »Déjà vu«.
In Kapitel II (59–123) geht es unter Danzens Nachfolger J. K. E. Schwarz um die »Vorbereitung für den Religionsunterricht an der Jenaer Universität 1838–1870«, die sich »zwischen theologischem Spätrationalismus und pädagogischer Theorie« abspielt. Das Neue an dieser katechetisch wieder quellenreich dokumentierten Epoche ist die wachsende Eigenständigkeit der Pädagogik, die in den 40er Jahren mit der Gründung des pädagogischen Seminars durch K. V. Stoy ihren sichtbaren Anfang nahm. Zu Beginn von den Jenaer Theologen stark unterstützt, entwickelte sich »auf institutioneller wie auf inhaltlicher Ebene ein enges Zusammenwirken zwischen Katechetik und allgemeiner Pädagogik« (61), wobei Letztere allerdings den Konflikt mit der akademischen Theologie auch nicht scheute. Dieser hing – nicht zuletzt im konkreten Fall Stoys – mit der konservativ kirchlichen Wendung und neukonfessionalis­tischen Ausrichtung in vielen deutschen Territorien zusammen. Positioneller Indikator war in dieser Beziehung der religionsunterrichtlich gepflegte Umgang mit dem Katechismus, dem sich zwar auch die liberale Katechetik Jenas nicht entziehen konnte, der aber im Kontext »der materialen Grundlagen des katechetischen Lehrbetriebs« (65 ff.) und der »Lehrmittel« eine eher marginale oder zumindest liberal relativierte Rolle spielte. Das war allein schon in Schwarzens »religionsanthropologisch« fundierter »Katechetiktheorie« angelegt, für die »das mündige christliche Individuum« im Mittelpunkt stand (80 ff.). Für eine »gute Katechese« hieß das – unüberholt »modern«! – »Orientierung am kindlichen Verständnis« im »ständigen Bewusstsein dafür, dass die Kinder eine eigene religiöse Vorstellungswelt besitzen, auf die es Rücksicht zu nehmen gilt und die sich der Katechet selbst erschließen muss« (122).
Das III. Kapitel (125–213) handelt unter der Überschrift »Liberale Katechetik in ›streng wissenschaftlichem Geist‹ vs. ›Neue Bahnen‹ religiöser Erziehung« von der »Katechetik und Religionspädagogik in Jena 1870 bis 1918«. Begonnen wird mit einer Darstellung der »Jenaer Katechetik im Kontext pädagogischer Institutionalisierung, Differenzierung und Professionalisierung«, womit reformerische Innovationen aufgezeigt werden. Diese gingen freilich nicht mehr nur und primär von der Universität aus, sondern von außeruniversitären Orten, Instanzen und Institutionen. Dazu gehörten die Fachzeitschriften-Kultur, die neu gegründeten Reformvereine, die Einbeziehung des Kindergottesdienstes in das katechetische Lehrangebot, die Anfänge einer zweiten Ausbildungsphase im Predigerseminar und die Jenaer »Universitätsferienkurse als Um­schlagplatz reformpädagogischer Ideen« (129–150).
Spannend und bis heute unverändert aktuell sind die Ausführungen zu den »Reformanliegen um 1900«, die unter der Frage (!) »Von der Katechetik zur Religionspädagogik?« abgehandelt werden (151–176). Die Position programmatischer Abgrenzung und Unterscheidung wurde danach mit engagierter »Reformrhetorik« von den sog. Liberalen Religionspädagogen vertreten, die sich nicht nur von der neukonfessionalistischen Katechetik absetzten, sondern auch von den Jenaer »Altliberalen«. Dass indes vieles von dem, was die Reformer wie Fr. Niebergall, O. Baumgarten und W. Rein als Innovationen ausgaben, bereits als »modernes Potential ... in der generationenlangen Praxis einer liberalen wissenschaftlichen Katechetik angelegt war« (128), ist sicher ein wichtiges Forschungsergebnis der Arbeit und wird von den beiden ganz für die Jenaer Katechetik und Pädagogik des 19. Jh.s ›eingenommenen‹ Autoren auch (entsprechend) herausgestellt. Nicht zuletzt die konkrete Dokumentierung der »Theorie und Praxis der Jenaer Religionslehrerbildung«, wie sie auch für den Lehrbetrieb des katechetischen Seminars nach 1870 geboten wird (177–196), verifiziert dieses Ergebnis eindrücklich.
Äußerst aufschlussreich ist schließlich der kurze Ausblick auf die Jenaer Lehrerbildung nach 1918, die unter dem Stichwort der »Politisierung« den Blick ausweitet auf die Bildungslandschaft des neu gegründeten Landes Thüringen im Kontext der Weimarer Republik und schul- und religionspädagogisch bis zur »Deutsch-christlichen Religionspädagogik bei Peter Petersen und Wolf Meyer-Erlach« (210 ff.) im Dritten Reich weitergeführt wird. Mit der Neubesetzung des Jenaer Lehrstuhls für Praktische Theologie durch Erich Hertzsch 1948 lassen die ›Chronisten‹ ihren religionspädagogischen Ausblick enden und markieren damit sehr wirkungsvoll das Ende einer »über einhundertjährigen Kooperation zwischen der Theologischen und der Philosophischen Fakultät« an der Universität Jena, das– zwischenzeitlich (!?) – mit der Abschaffung des Religionsunterrichts an allen Schulen der DDR gekommen war (212 f.).
Die Untersuchung schließt mit einer disziplin- und professionsgeschichtlichen Zusammenfassung (215–230), die aus Jenaer Perspektive meint, keinen »Bruch«, sondern eher »eine enge Kontinuität zwischen Religionspädagogik und Katechetik« feststellen zu können (226). Hier gilt es freilich zu beachten, dass es sich bei der Lehrerbildung an der Jenaer theologischen Fakultät nur um die Ausbildung von Gymnasiallehrern handelte und deshalb die schulpädagogische Dimension als ein wissenschaftstheoretisch entscheidendes Unterscheidungsmerkmal zwischen Katechetik und Religionspädagogik vergleichsweise geringes Gewicht besaß. »Theologische« Lehrerbildung für Lehrkräfte an Volksschulen eröffnet hier andere Perspektiven und Schwerpunktsetzungen, nicht zuletzt im Blick auf die didaktische Umsetzung der theolo­gischen Inhalte! Von Didaktik bzw. Fachdidaktik im eigentlichen, also nicht auf das Methodische verkürzten Sinn ist denn auch bezeichnenderweise in vorliegender Studie so gut wie keine Rede! Da besteht noch erheblicher Forschungsbedarf mit großem Differenzierungsanspruch, worum die Autoren der Untersuchung mit ihrem gelungenen »ersten Bild« auch wissen (230). Der informativ-ausgewogene »Forschungsausblick« von Michael Wermke zur »akademische[n] Pfarrer- und Lehrerbildung in Jena und die Aufgaben einer religionspädagogischen Professionsgeschichte« (231–261) finden von daher ihre Berechtigung und Bestätigung.
Ein Quellenanhang mit neun Dokumenten veranschaulicht in guter Auswahl wichtige Stationen und Zusammenhänge der Studie. Ein sorgfältig erstelltes Quellen- und Literaturverzeichnis und ein Personen-, Sach-, Orts- und Länderregister vollenden eine wissenschaftlich vorbildliche historische Arbeit, die ohne aus­drück­liche Reflexion ihrer Gegenwartsrelevanz Aktualität ausstrahlt und nicht nur, aber auch deshalb spannende Lektüre verheißt. Das verdient Anerkennung und Dank für zwei religionspädagogisch forschende Historiker, von denen noch einiges zu erwarten sein dürfte.