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Ausgabe:

Februar/2010

Spalte:

239-240

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Jähnichen, Traugott

Titel/Untertitel:

Wirtschaftsethik. Konstellationen – Verantwortungsebenen – Handlungsfelder.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2008. 286 S. gr.8° = Ethik – Grundlagen und Handlungsfelder, 3. Kart. EUR 24,90. ISBN 978-3-17-018291-2.

Rezensent:

Alexander Dietz

Pünktlich zur Verschärfung der Finanzkrise erschien im letzten Jahr die Wirtschaftsethik des Bochumer Sozialethikers Traugott Jähnichen. Im Unterschied zu den wenigen anderen evangelischen Entwürfen der letzten Jahrzehnte beginnt J. nicht mit einer ausführlichen begrifflichen Analyse zu Ethik, Wirtschaftsethik, theologischer Ethik und ethischen Grundkriterien, sondern steigt recht schnell in die inhaltliche Diskussion ein, wobei er sich auf die Aspekte konzentriert, die für seinen roten Faden relevant sind. Dadurch ist die Lektüre für wenig vorgebildete Leser recht an­spruchsvoll. J.s Mut zur Schwerpunktsetzung hat u. a. den Vorteil, dass der Umfang des Werkes überschaubar bleibt. Dazu trägt ebenfalls die sehr hohe Informationsdichte der Texte bei. Aufgrund der zahlreichen Bezüge zu aktuellen öffentlichen Debatten (Managergehälter usw.), der klaren Positionen und der kenntnisreichen Ausführungen (die insbesondere durch die fruchtbare Auseinandersetzung mit den Klassikern der Sozialen Marktwirtschaft für jeden noch interessante Anregungen bereithalten) handelt es sich insgesamt um ein gut lesbares und lesenswertes Buch.
Das Werk ist in vier Teile gegliedert. Im ersten Teil werden grundlegende Problemkonstellationen wirtschaftsethischer Dis­kurse in historischer Perspektive dargestellt (Emanzipation der Ökonomik bei Adam Smith, Verhältnis von Wirtschaftsweise und sozialer Frage im 19. Jh., Diskussion um die Eigengesetzlichkeit der Wirtschaft im 20. Jh.). Die Wirtschaftsethik müsse als Bereichsethik sowohl den Sachanforderungen des Wirtschaftsbereichs als auch dem verantwortungsethischen Orientierungsbedarf (gegen einen pauschalen Verweis auf Sachzwänge) gerecht werden und diese in ein Überlegungsgleichgewicht bringen (51 ff.).
Im zweiten Teil wird in diesem Sinne eine Zuordnung von ethischer und ökonomischer Rationalität vorgeschlagen. Die ökonomische und die ethische Perspektive werden als unabhängige und gleichwertige Perspektiven beschrieben, die sich im wirtschaftsethischen Dialog befruchten können. Diese Befruchtung bestehe für die Ökonomik insbesondere in der Eröffnung von Verantwortungsbezügen (105). Es werden vier unterschiedliche Ebenen wirtschaftsethischer Verantwortung unterschieden (Wirtschaftsstil, Ordnungspolitik, Unternehmensethik, Individualethik).
Im dritten Teil wird (im Anschluss an die EKD-Denkschrift »Ge­meinwohl und Eigennutz«) das deutsche Modell der Sozialen Marktwirtschaft als wirtschaftsethisch beispielhafte Gestaltung des Wirtschaftens beschrieben (Freiheit und soziale Gerechtigkeit auf der Grundlage der Menschenwürde). Die Soziale Marktwirtschaft sei maßgeblich durch die Vorstellungen evangelischer Ethik geprägt (125), eine These, der einige katholische Forscher widersprechen dürften. Die Frage nach der Zukunftsfähigkeit der Sozialen Marktwirtschaft angesichts der Herausforderungen durch die Globalisierung wird eindeutig bejaht unter der Voraussetzung einer entsprechenden Weiterentwicklung auf europäischer Ebene (169).
Im vierten Teil werden wirtschaftsethische Handlungsfelder auf dem Weg einer Weiterentwicklung der Sozialen Marktwirtschaft angesichts ökonomischer, sozialer und ökologischer Herausforderungen diskutiert. J. spricht sich u. a. aus für eine Regulierung der internationalen Finanzmärkte (190 ff.), für eine Über­windung des aus seiner Sicht falschen Gegensatzes von Share­holder-Value-Ansatz und Stakeholder-Ansatz (200), für branchen- und regionenspezifische Mindestlöhne (213), für eine größere Transparenz im Blick auf Vorstandsbezüge (215), für eine Neuordnung des Niedriglohnbereichs (216), für verstärkte Anreizmechanismen für umweltverträgliches wirtschaftliches Handeln (231 ff.) sowie für Rahmenbedingungen, die ein ethisch orientiertes Konsumentenverhalten befördern (242).
Im Ausblick (261 ff.) am Schluss des Buches äußert sich J. noch einmal dezidiert gegen ökonomistische Tendenzen und verweist auf die Bedeutung der Religion mit ihren Werten (weder Knappheit noch Konkurrenz im Glauben) und Traditionen (Sonntag), die durch die Stärkung der unkommerzialisierten Bereiche indirekt einen Beitrag zur wirtschaftlichen und sozialen Wohlfahrt der Gesellschaft leiste.
Der Streit um die Unternehmerdenkschrift der EKD hat die Kluft zwischen liberalen und linken Ansätzen theologischer Wirtschaftsethik wieder einmal sichtbar gemacht. J. positioniert sich wohltuend und differenziert in der Mitte. Auf der einen Seite bekennt er sich klar aus ökonomischen und ethischen Gründen zur Marktwirtschaft (130), zu (ökologisch nachhaltigem) ökonomischem Wachstum (229), zu einer aktivierenden Sozialpolitik (224) und zur (sozial weiterzuentwickelnden) Globalisierung (158). Auf der anderen Seite bekennt er sich ebenso klar zum Sozialstaat, der weder privatisiert noch auf eine Minimalversorgung reduziert werden dürfe (220 ff.), zu einer Politik des sozialen Ausgleichs (204 ff.) und der Arbeitnehmerinteressenvertretung (200 ff.), zu einer dem Menschen dienenden Funktion der Wirtschaft (128) und gegen einseitige marktoptimistische Positionen (51.81).
Das christliche Menschen- und Wirklichkeitsverständnis, das J. erklärtermaßen in den Diskurs einbringen möchte (15), findet man bis auf wenige Ausnahmen eher zwischen den Zeilen, was J.s Auffassung entspricht, dass die Ideale der Sozialpolitik säkularisierte theologische Begriffe darstellen (219). Bei der Verhältnisbestimmung von Ökonomie und Ethik setzt sich J. zwar mit alternativen Entwürfen (z. B. Herms und Rich) auseinander, greift jedoch ohne expliziten Grund darin enthaltene Einsichten nicht auf, so dass sich bei seinem Ansatz eine Dualismus-Gefahr nicht völlig von der Hand weisen lässt.