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Ausgabe:

Februar/2010

Spalte:

235-237

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Berner, Knut

Titel/Untertitel:

Leben mit beschränkter Haftung. Studien zur Systematischen Theologie.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2008. 225 S. gr.8°. Kart. EUR 24,00. ISBN 978-3-374-02627-2.

Rezensent:

Christian Polke

Aufsatzsammlungen erfreuen sich in unseren Tagen kaum der Leserschaft, die sie verdienen. Insofern birgt die Veröffentlichung gesammelter Texte aus der eigenen Feder ein gewisses Risiko. Knut Berner, Studienleiter am Evangelischen Studienwerk Villigst, ist dieses bewusst eingegangen. Unter dem Titel Leben mit be­schränkter Haftung hat er zwölf Abhandlungen zur Systematischen Theologie versammelt und der breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Dabei sind seine Texte auch für den interessierten Laien lesbar, vorausgesetzt, er ist kein absoluter Neuling in Sachen Theo­logie.
Schon der Titel verweist auf die geheime Mitte der hier vorliegenden Untersuchungen: Die reformatorische Rechtfertigungslehre ermöglicht für B. jenes Leben, das entgegen unserem mo­dernen Sicherheitsbedürfnis immer nur unter »beschränkter Haftung« möglich ist. Durch die Studien hindurch zieht sich das Motiv einer »Ethik der Rechtfertigung« (114). Zentral ist dafür die Abhandlung Der neue Mensch (21–41), in welcher die These erläutert wird, dass der homo absconditus (Plessner) seine wirklich neuen Lebensperspektiven immer nur im Zuspruch der befreienden Sündenvergebung Gottes erfährt. Die menschliche Person wird unter dem Blickwinkel einer eschatologischen Ontologie gefasst: »Der Gerechtfertigte kann darauf verzichten, aus seinen eigenen Möglichkeiten zur Identitätssicherung zu leben.« (35) Weder die körperliche noch die geistige Fähigkeit des Menschen bestimmt im Letzten seine Rechtfertigungswürdigkeit, sondern seine ungeschuldete Anerkennung durch die Gnade Gottes.
Dieses Motiv durchzieht die folgenden Texte, sei es, dass sie sich der Frage nach dem Gewissen (59 ff.) stellen, dass sie Variationen anhand der Filmkunst eines David Lynch (43 ff.) bieten oder dass sie das viel zu wenig beachtete Thema der Intimität (75 ff.) beleuchten. Stets betont B. die Perspektivenverschiebung, die es dem christlichen Rechtfertigungsglauben ermöglicht, eine heilsame Begrenzung auch dessen vorzunehmen, was wir uns als menschliche Verantwortung für unser Leben zumuten wollen. Nicht immer überzeugen die konkreten Analysen: So bleiben die Vorschläge mit Blick auf die bioethischen Forschungsvorhaben mitunter im Va­gen. Sätze wie der, dass die christliche Ethik Forschung daran erinnert, dass sie Ambivalenzen erzeugt, die es auszuhalten gilt, statt sie zu verleugnen, erweisen sich leicht als zu pauschal formuliert (vgl. 117). Und ob der Protestant B. wirklich verstanden hat, was das stellvertretende Leiden eines Stellvertreters Christi für katholische Christen bedeuten kann, bleibt dahingestellt. Vergleiche mit Schicksalen, wie der Komapatientin Terri Schiavo oder gar mit Selbstmordattentätern, sind eher geschmacklos, selbst wenn sie für die »unverlierbare Würde der Sterbenden« als »Ausgelieferte« herhalten sollen (vgl. 100).
Zwei weitere Abhandlungen führen fort, womit sich B. in seiner Habilitationsschrift zum Thema des Bösen beschäftigt hat. B. will das Böse als Konstellation (vgl. z. B. 123 ff.) fassen, um damit reduktionistischen Versuchen, das Böse zu begreifen, zu entgehen. Als solche haben sich nämlich Personalisierungen ebenso herausgestellt wie rein apersonale Sichtweisen auf das Problem (vgl. 128). Dennoch bleibt die Aufmerksamkeit gegenüber dem »Sich-Zeigen« (142 ff.) des Bösen (Satan, Hitler) wichtig, wenngleich man ihm damit keineswegs schon auf die Schliche gekommen ist. Das Böse entzieht sich, »sitzt hinter Glasscheiben«, wie Eichmann (vgl. 147 ff.), und verströmt banale Normalität; oder aber es fasziniert, indem es sich ästhetisch in Szene zu setzen weiß. Ohne Ergänzung durch eine systemische Betrachtungsweise, so B., bleibt auch die berechtigte Benennung des Bösen in Form von Täterbestimmung wie Schuldbekenntnis unzureichend. Darf man dahinter eine versteckte Rehablitierung des Erbsündendogmas in anderer Form vermuten? Nicht ganz von der Hand zu weisen jedenfalls, wenn man insbesondere die Überlegungen zur intergenerationellen Wirksamkeit des Bösen (betitelt unter dem zweideutigen Wörtchen Mitgift [vgl. 119–140]) liest. Die ethischen Konsequenzen daraus las­sen aufhorchen und sind hier erwähnenswert: beispielsweise, wenn daran erinnert wird, dass selbst intakte Familienbeziehungen schleichend vergiftet werden können, indem der Gesetzgeber verlangt, dass statt der Solidargemeinschaft stets zuerst die eigene Verwandtschaft aus sozialen Notlagen helfen soll (vgl. 136).
Ebenfalls überzeugend und mit kritischen Spitzen versehen sind die abschließenden Ausführungen zur Frage nach dem Vergeltungsaspekt von Strafen und der Rolle eschatologischer Vorstellungen für die Ethik. Strafe kann aus christlicher Sicht immer nur eine Notlösung sein, so unangemessen uns das angesichts so mancher begangener Tat erscheinen mag. Dabei gilt es, die in menschlichen Sanktionierungsmaßnahmen immer vorhandene Vermischung von Recht und Rache zu entmythologisieren (vgl. 197). Rechtsfreie Räume darf es ebenso wenig geben wie auch darauf zu achten bleibt, dass »Strafe nicht lebensvernichtenden Charakter haben darf« und – vielleicht noch wichtiger zu vermerken: »ihre Begrenzung nicht allein vom Vermögen oder Willen des Täters zur Wie­dergutmachung oder zur Ableistung der Schuld abhängen darf« (217). Zu Recht prangert B. schließlich den heute allseits beliebten Drang zum Rechthaben, zum Urteilen über Andere, zum Erlangen der eigenen Gerechtigkeit an. Aus christlicher Perspektive ist der Täter nicht außerhalb von uns, sondern in uns: Wir alle sind Täter. Daran erinnert nicht zuletzt das Symbol des Jüngsten Gerichts. Das heilsame Wissen darum wird von B. sogar dahingehend interpretiert, dass jenseits dessen »Menschen keine angemessene Sicht auf die eigene oder fremde Wirklichkeiten« (212) haben können und von daher ihnen eine »unverzichtbare Grundlage für Gerichtsvollzüge« (ebd.) in Namen der Gerechtigkeit fehlt. Auch wenn man dies der das ganze Buch insgesamt durchziehenden Tendenz zum Barthianismus zurechnen mag, B. hat ein eindrückliches Gespür für die humane Notwendigkeit eschatologischer Symboliken. Es ist eben ein geradezu notwendiger Akt der göttlichen Gerechtigkeit, wenn einem unschuldig erschossenen Jungen die Möglichkeit gegeben wird, »in der ewigen Gemeinschaft nicht auf ewig ein Junge« (219) bleiben zu müssen.
Aus der Kraft dieser Überzeugung lebt eine Ethik, deren Ideal der besseren Gerechtigkeit eine komparative Größe bleibt, die selbst wiederum nicht das eschatologische Urteil vorwegnimmt. Ihre humane Begrenzung ermöglicht vielmehr erst, was das Angebot des christlichen Glaubens ausmacht, nämlich ein Leben mit beschränkter Haftung.