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Ausgabe:

Februar/2010

Spalte:

216-218

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Spalding, Johann Joachim

Titel/Untertitel:

Neue Predigten. Zweyter Band (1784). Hrsg. v. M. van Spankeren u. Ch. E. Wolff unter Mitarbeit v. V. Look, O. Söntgerath, Ch. Weidemann.btlg.: Predigten, 3. Lw. EUR 109,00. ISBN 978-3-16-149908-1.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2009. XVII, 433 S. gr.8° = Johann Joachim Spalding Kritische Ausgabe. Zweite A

Rezensent:

Markus Wriedt

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Spalding, Johann Joachim: Neue Predigten (11768; 21770; 31777). Hrsg. v. A. Beutel u. O. Söntgerath unter Mitarbeit v. V. Look, M. Nooke, M. van Spankeren, Ch. Weidemann, Ch. E. Wolff. Tübingen: Mohr Siebeck 2008. XXIII, 401 S. gr.8° = Johann Joachim Spalding Kritische Ausgabe. Zweite Abtlg.: Predigten, 2. Lw. EUR 109,00. ISBN 978-3-16-149709-4.


Bis noch vor wenigen Jahren war die Beschäftigung mit Theologen der Aufklärungszeit eine Nische für kritische, gleichwohl kaum weiter ernst genommene Historiker, Philosophen und Theologen. Die in letzter Zeit mit neuem Schwung u. a. in dem von Albrecht Beutel, Udo Sträter und Volker Leppin begründeten Arbeitskreis für Religion und Aufklärung (vgl. die Berichte seit 2002 in der ThLZ) betriebene Erforschung der marginalisierten Phänomene religiösen Denkens im 18. Jh. hat neben mannigfaltigen Korrekturen von aufgrund ihrer häufigen Wiederholung bereits in den Rang kanonisierten Wissens erhobener Vorurteile auch eine gewichtige Anzahl weitgehend unbekannter Quellen ans Tageslicht befördert. Ohne Zweifel gehört die von Albrecht Beutel initiierte und durch die DFG großzügig geförderte Edition der Werke des Berliner Oberkonsistorialrates und Propstes sowie ersten Pfarrers an der Nikolai- und Marienkirche Johann Joachim Spalding (1714–1804) zu den Glanzstücken der editorischen Bemühungen um das aufgeklärte Erbe protestantischer Theologie in Deutschland. Hatte die erste Abteilung der Kritischen Ausgabe vor allem die theologischen Traktate und größeren Werke des Augenzeugen fast eines ganzen Jh.s preußischer Geschichte in gut lesbarer Form und sorgfältiger Edition verschiedener, teilweise erheblich divergierender Ausgaben der Druckwerke einer größeren Öffentlichkeit zugänglich ge­macht, widmet sich die zweite Abteilung nun dem wirkmächtigs­ten Medium von Spalding, seinen Predigten.
Den zwei Bänden der zweiten Abteilung liegen unterschiedliche Druckausgaben der »Neuen Predigten« aus den Jahren zwischen 1768 und 1777 sowie des zweiten Teils der »Neuen Predigten« aus dem Jahr 1784 zugrunde. Spalding war 1764 nach Berlin gekommen und hatte die Trennung von seiner Gemeinde in Barth als außerordentlich belastend empfunden. Der noch zu veröffentlichende Band der aus dieser Zeit stammenden »Predigten«, gleichsam ein Abschiedsgeschenk an die vorpommersche Gemeinde, ist dem ersten Band der zweiten Abteilung der kritischen Ausgabe vorbehalten. Vier Jahre nach seinem Wechsel nach Berlin gab Spalding sodann einmal 1768 und noch einmal 1784 nunmehr die Predigten seiner neuen Wirkungsstätte als »homiletische Zwi­schenbilanz« (II/2, V) heraus. Im Zentrum dieser Predigten steht, wie der Herausgeber in seinem Vorwort hervorhebt, die »Erbauung– nämlich auf eine zugleich affektive und mentale, in beidem ge­genwarts­taug­liche Anverwandlung der biblisch-reformatorischen Tradition« (ebd.).
In gewohnter quellenkritischer Akkuratesse und unter Berück­sichtigung möglicher Abweichungen stellen die Bände einmal 15 und einmal 13 Predigten sowie fünf kleinere Abhandlungen Spaldings nach dessen erster Ausgabe der neuen Predigten zusammen. Äußerlich hoch ansprechend vom Tübinger Verlagshaus aufgemacht, halten beide Bände auch inhaltlich, was sie auf den ersten Blick versprechen: ein wahres Lesevergnügen aufgeklärter Transformation traditioneller kirchlich-theologischer Ausdrucksweise auf der Grundlage einer sorgsamen Auslegung des biblischen Textes. Während der Anmerkungsapparat vor allem Lesarten späterer Ausgaben und Erweiterungen bereithält, ist ein leider sehr knapp gehaltenes Kapitel Erläuterungen geeignet, einen ersten Blick in den weiteren Traditionshorizont von Spalding zu gestatten. Hier hätte sich der Rezensent mehr als die offensichtlichen biblischen Bezüge gewünscht, strotzt das Buch doch von Bezugnahmen Spaldings auf zeitgenössische Veröffentlichungen und traditionellere Werke aus Orthodoxie, Pietismus und später Konfessionalisierung. Es ist den Herausgebern freilich zugute zu halten, dass diese Nachweise leicht ausufern, und so bleibt es weiteren Untersuchungen des Gesamtwerkes von Spalding auf der Grundlage dieser Edition vorbehalten, den weiten Horizont seiner Wahrnehmung zeitgenössischer und vergangener Diskurse zu erhellen. Wie schon in vorausgehenden Bänden der ersten Abteilung sind erneut Bibelstellen-, Personen- und ein außerordentlich ausdifferenziertes, sorg­fältiges Sachregister (II/2 325–399, II/3 322–432) beigegeben, welche das Wiederauffinden thematisch bezogener Stellen und damit eine quellengestützte systematische Analyse ungemein er­leichtern.
Die 15 ersten Predigten verteilen sich mit drei Auslegungen zu alttestamentlichen Texten und zwölf Predigten zu Perikopen des Neuen Testaments. Bemerkenswert ist die Konzentration auf Evangeliumstexte mit einer insgesamt das Lukasevangelium be­vorzugenden Akzentuierung. Liturgisch schreitet die Textauswahl das gesamte Kirchenjahr ab. Freilich lässt die kunstvolle Bearbeitung der Texte vermuten, dass der mündliche Vortrag an der einen oder anderen Stelle doch erheblich differierte. Auch die im dritten Band der Kritischen Ausgabe versammelten Predigten haben einen erklärten neutestamentlichen Schwerpunkt und beinhalten insgesamt erneut nur drei Lesungen aus dem Alten Testament. Bei den neutestamentlichen Texten überwiegen Passagen aus Lukas. Die Aufsätze behandeln ebenso wie die Predigten vor allem die Bewältigung der alltäglichen Lebenssituationen aus der Sicht der Schrift. Allen Texten gemeinsam sind der stark erbauliche Charakter und ihre handlungs- und lebensorientierende Zielrichtung. Es wäre freilich völlig missverstanden, dies als »bloß ethische Zuspitzung« oder »anthropologische Wende« zu diskreditieren. Vielmehr transformiert Spalding mit seiner zusprechenden Erbaulichkeit die reformatorische Endung des »pro me – pro nobis«, wie es von An­fang an auch Luthers Auslegung charakterisiert hatte. Andere Transformationen elementarer evangelischer Grundüberzeugungen wären hier zu nennen, etwa wenn es um die klassischen Topoi von Sünde und Rechtfertigung oder aber den Trost des angefochtenen Gewissens geht. Auch wenn häufig belegte Begriffe wie Tugend und Redlichkeit eine Moralpredigt erwarten lassen, bietet Spalding doch etwas anderes: eine handlungsorientierende Interpretation der täglichen Wirklichkeitswahrnehmung in aller Spaltung und Angefochtenheit aus der diese Spannungen zusammenhaltenden Sicht des Evangeliums. Dies ist weit mehr, als die leider immer noch im Gebrauch befindlichen theologiegeschichtlichen Handbücher glauben machen wollen.
Zugleich bieten die Predigten auch homiletisch, germanistisch, literarisch, historisch und kulturwissenschaftlich ausgerichteter Forschung reiche Nahrung. Immer wieder faszinierend ist die ungemein breite Anerkennung, der sich Spalding auch nach seiner Resignation aufgrund der Zitation vor das Konsistoriums infolge des Wöllnerschen Religionsediktes erfreute. Erst jüngst konnte die bemerkenswerte Vorlage, die er mit seiner Gedächtnis-Predigt aus Anlass des Todes König Friedrich II. von Preußen unter Verwendung der Formulierung »Frömmigkeit als einer Empfindung unserer gänzlichen Abhängigkeit von Gott« der späteren Kanonisierung der berühmten Formel Schleiermachers geliefert hat, genauer un­tersucht werden (vgl. A. Beutel in ZThK 106 [2009], 177–200). Ähnliche und ebenso weitreichende Beziehungen können nun aufgrund der vorliegenden kritischen Ausgabe leichter erarbeitet werden. Es wäre, insbesondere in Zeiten wachsender Finanzierungslücken für editorische Vorhaben, der Reihe zu wünschen, dass ebenso rasch wie deren weiteres Fortkommen eine wachsende Zahl von theologiegeschichtlichen oder anderweitig historischen Interpretationen dieses reichen Materials den Wert des editorischen Vorhabens unter Beweis stellten.