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Ausgabe:

Februar/2010

Spalte:

214-215

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Deutsche Søren Kierkegaard Edition. Hrsg. v. H. Anz, N. J. Cappelørn, H. Deuser u. H. Schulz in Zusammenarbeit m. d. Søren Kierkegaard Forskningcenter in Kopenhagen. Bd. 2

Titel/Untertitel:

Journale und Aufzeichnungen EE – FF – GG – HH – JJ – KK. Hrsg. v. R. Purkarthofer u. H. Schulz m. Übersetzungen v. S. Broocks, H. Deuser, K.-M. Deuser, M. Kleinert, R. Purkarthofer, J. E. Schnall u. H. Schulz.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2008. XXV, 777 m. 5 Ktn. u. 11 Jahreskalendern. gr.8° Lw. EUR 128,00. ISBN 978-3-11-018669-7.

Rezensent:

Walter Dietz

Nachdem 2005 der erste Band DSKE 1 erschienen war, liegt nun seit Dezember 2007 der zweite Band vor. Zur Editionsgestalt verweise ich auf meine Besprechung von Band 1 (ThLZ 132 [2007], 352–355). Im Vergleich zum dänischen Vorbild (SKS) liegt die Besonderheit der deutschen Edition darin, dass sie sich zunächst auf die Papirer (Notizen, Konskripte, Exzerpte, ›Ideenpools‹, Journale, Tagebücher usw.) beschränkt, ferner darin, dass sie geschickterweise Text (SKS 18) und Kommentar (SKSK 18) in einem Band zusammenfasst (ökonomisch der dänischen Edition überlegen). Der vorliegende 2. Band der deutschen Papirer-Ausgabe enthält vielfältige Aufzeichnungen aus den Jahren 1836–46, also einem recht breiten Zeitspektrum. Einiges ist zum ersten Mal auf Deutsch veröffentlicht, alles neu übersetzt (und ebenso komplett wie die dänische Originalausgabe SKS). Welche Einträge in der fünfbändigen Auswahlausgabe von Hirsch/Gerdes fehlten, wird schnell aus der praktischen Konkordanz im Anhang ersichtlich (721–729). Auch ist das Werk mit Personen- und Werkregister ausgestattet (Sachregister fehlt).
Thematisch lässt sich das von Søren Kierkegaard Geschriebene freilich nicht auf einen Nenner bringen. Exzerpte, Selbsthinweise auf Gelesenes (u. a. zur Examensvorbereitung), Reflexionen darauf, Konklusionen und Aphorismen wechseln sich ab mit ideenkatalogartigen Journalen und echten Tagebucheintragungen, wie z. B. der unleserlich gemachten vom 17.5.43 über den Verlobungsbruch: »Hätte ich Glauben gehabt, so wäre ich bei Regine geblieben …« (183 f.; cf. 528 u. 530). Aus seiner Frühzeit (7.7.39) findet sich eine durch E/O II (B) allerdings später überbotene Auffassung von Ehe: »Die Ehe ist Einheit unter der Form der Sinnlichkeit, nicht die Einheit in Geist und Wahrheit [cf. Joh 4,24], deshalb heißt es auch in Genesis [2,24] von Mann und Frau: ›dass sie ein Fleisch sein sollen‹ …« (40). Von der sexuellen Begierde gilt, dass sie erst im Kontext der christlichen Selbstauffassung ihre eigentümliche Schärfe bekommt. Man soll nicht dazu verleiten, das Gegenüber im Geiste auszuziehen – nur vollendete Nacktheit ist ›unschuldig‹: »Es ist unzüchtig, eine Frau in kurzen Kleidern darzustellen, nicht hingegen, sie nackt­ abzubilden, wie die Griechen es taten; …« (27). So viel zum Thema Minirock – und der Überlegenheit der (wenngleich unbefangen-›naiven‹) alten Griechen, auch auf diesem Gebiet.
Selbstreflexion und Rechenschaft über das eigene Leben und Denken sind die ständigen Wegbegleiter des jungen Dänen, sein Lebenselixier. Sein Leben gilt ihm als gezeichnet durch Unglück und Schwermut, die seine Handlungsfähigkeit lähmen. Die Grundsignatur ist Leiden, In-sich-Verhaustes, mitunter auch paradox in sich verliebtes Leiden. Der Pfahl sitzt mitten im Fleisch, und irgendwie auch das Fleisch im Pfahl: »Ich sage von meinem Kummer, was der Engländer von seinem Haus sagt. Mein Kummer is my castle.« (26) Er fühlt sich wie eine Schachfigur, von der aus der Perspektive des Gegenspielers lakonisch zu sagen ist: »mit dieser Figur kann nicht gezogen werden« (30) – konstellative Lähmung des Unzeitgemäßen. Er fühlt sich zerrissen: »Zurzeit schwebt meine Seele wie Mohammeds Grab zwischen zwei Magneten …« (59). »Ich bin verzagt wie ein Schwa, schwach und überhört wie ein Dagesch lene …« (58) – unaussprechliche, unvermittelbare, verquere Exis­tenz. Er fühlt sich wie Falschgeld, nicht per Zufall im Inflationsjahr 1813 geboren (210). »Was ist der Msch., dieses Staubgefäß im Blumenkelch der Ewigkeit …« (99)? Zerrissenheit wird zur Grundsignatur des Daseins, Kierkegaard lebt »im Widerspruch, denn das Leben selbst ist Widerspruch« (230).
Trost durch »Mediation«, Hegelsche Vermittlung? Keineswegs. Shakespeare wird gegen Hegel stark gemacht (sein od. nichtsein, das ist die Frage; 33 f.). Angst manifestiert diese innere Zerrissenheit, das »Begehren dessen, was man fürchtet« (322). Überwindung verheißt allein der Glaube an die Versöhnung der Entzweiung von Gott und Mensch. Hier kommt Kierkegaard sehr kritisch und ausführlich (328–347) auf D. F. Strauß zu sprechen. Seine Kritik an ihm bezieht sich indirekt auch auf Hegel: »Die absolute Substanz setzt nicht nur alles Einzelne herab, sondern auch die Einzelpersonen zu verschwindenden Momenten seines Wesens.« (337) An die Stelle einer spekulativ-vermittelnden Auflösung tritt bei Kierkegaard die klassische Zwei-Naturen-Lehre von Chalkedon (451 n. Chr.): »Die Kirche … verwirft die Vermischung der mschlichen und göttl. Natur und fasst die Natur Xsti als die persönliche Einheit von Gott und Msch. auf. Dass eine Person in sich zwei, nämlich die eigene und die fremde, vereint, scheint der härteste Widerspruch, den man dem Denken bieten kann, aber dies gerade ist Begriff und Wesen der Person, dass sie ihre Existenz nicht in sich, sondern in einem anderen hat …« (345).
Im Anschluss an Trendelenburg, den Kierkegaard in Berlin (anders als Schelling) zu hören versäumt hatte, wird Hegels Theorie eines voraussetzungslosen Anfangs seiner Logik heftig kritisiert (vgl. 231 f.). Trendelenburg verkörpert für Kierkegaard nicht nur Aristoteles’, sondern auch Sokrates’ redliche Weise des Philosophierens. Auch durch das Studium der Philosophiegeschichte W. G. Tennemanns (1798–1819) wird Kierkegaard die unüberholbare Bedeutung der klassisch-griechischen Philosophie bewusst.
Zu den Stärken der vorliegenden Ausgabe DSKE gehört auch, dass viele Karten, Kalender und Faksimiles von Journalblättern beigefügt sind (ausgeglichene, gut lesbare Handschrift, jedoch leicht chaotische Seitengestaltung). Die gewissenhaften Durchstreichungen von einzelnen Passagen konnten durch lichtmikroskopische Arbeit rückgängig gemacht werden. Damit hätte Kierkegaard nicht gerechnet und dies unter dem Stichwort Neugier mit scharfer Ironie abgehandelt. Als Toter definitiv zum Schweigen verurteilt, ist jetzt die Nachwelt am Zug. Mit dieser stattlichen und schönen Papirer-Ausgabe hat sie ein wissenschaftlich sicher nicht mehr überbietbares Instrument zur Hand bekommen, in dessen Entstehung eine Vielzahl von qualifizierten Fachleuten aus dem Gebiet der Philosophie, Theologie und Skandinavistik ein gerüttelt Maß an Zeit investiert haben, was sich für den Leser bezahlt macht. Der bereits erwähnte Vorzug der hier vorliegenden, kritischen Papirer-Ausgabe Kierkegaards liegt einerseits in ihrer Vollständigkeit, andererseits in ihrem profunden wissenschaftlichen Kommentar und einer sich stets dicht am Original bewegenden, aber gut verständlichen Übersetzung. Überdies sind die Bände sehr sorgfältig gestaltet, auch im Detail der Drucklegung (saubere hebräische und griechische Originalskription; insgesamt nur sieben Druckfehler auf fast 800 Seiten).
Nachteilig sind allein der hohe Preis und der Sachverhalt, dass der dänische Text (hier SKS 18) zugrunde gelegt, aber nicht mit abgedruckt ist. Letzteres wäre im Kontext der Bandaufteilung allerdings auch gar nicht möglich gewesen, so dass eine zweisprachige Edition (dänisch-deutsch parallel) weiterhin ein offenes Desiderat für das 3. Jt. darstellt, natürlich auch, was die zu Lebzeiten bereits veröffentlichten Werke Kierkegaards angeht.