Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Februar/2010

Spalte:

212-213

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Bartels, Cora

Titel/Untertitel:

Kierkegaard receptus I. Die theologiegeschichtliche Bedeutung der Kierkegaard-Rezeption Rudolf Bultmanns.

Verlag:

Göttingen: V & R unipress 2008. 469 S. gr.8°. Geb. EUR 62,00. ISBN 978-3-89971-436-4.

Rezensent:

Konrad Hammann

In den philosophischen und theologischen Aufbrüchen nach dem Ersten Weltkrieg kam dem Denken Sören Kierkegaards eine prominente Rolle zu. Innerhalb der evangelischen Theologie bezogen sich sowohl die Protagonisten der Dialektischen Theologie (Karl Barth, Friedrich Gogarten, Rudolf Bultmann) als auch Vertreter der Lutherrenaissance (Karl Holl, Emanuel Hirsch u. a.) auf die Exis­tenzdialektik Kierkegaards, um in der kritischen Aneignung zentraler Motive aus dessen Religionsphilosophie die je eigene Neuformulierung der christlichen Wahrheit zu grundieren. Cora Bartels rekonstruiert in ihrer ebenso umfänglichen wie sorgfältig erarbeiteten Untersuchung, einer von Hans Hübner betreuten Göttinger Dissertation aus dem Jahr 2004, die Kierkegaard-Rezeption Rudolf Bultmanns in ihrer Bedeutung für die Genese seiner systematischen Theologie von 1922–1930.
Kapitel 1 behandelt die »Rezeption Sören Kierkegaards durch Christoph Schrempf und die christologische Problematik des Apos­tolikumsstreits« sowie als Ausgangslage für das Denken Bultmanns die Theologie Wilhelm Herrmanns. Dessen Bearbeitung zentraler, von Kierkegaard teilweise vorweggenommener Fragestellungen zeitigte wichtige, bekanntlich auch für Bultmann be­deutsame Er­gebnisse: Jesus als entscheidende Offenbarung Gottes, die Unmöglichkeit, den Glauben mit sog. Geschichtstatsachen zu begründen, die kathartische Funktion historischer Forschung für den christlichen Glauben. Da Bultmann sich aber zum Apostolikumsstreit gar nicht geäußert hat, wirkt diese Exposition teilweise etwas gekünstelt. Kapitel 2 thematisiert die Hinwendung Bultmanns zur Dialektischen Theologie im Rahmen seines Gesprächs mit Friedrich Gogarten. Zwar vollzieht Bultmann 1920 im Wartburg-Vortrag »Ethische und mystische Religion im Urchristentum« und in dem sich anschließenden Briefwechsel mit Martin Rade den Bruch mit der Jesusfrömmigkeit der liberalen Theologie, aber noch setzt er bei der Neubestimmung des Wesens der christlichen Religion auf den Begriff des Erlebens. B. lehnt daher zu Recht mit Martin Evang die Annahme einer »Wende« Bultmanns von der liberalen zur Kerygma-Theologie schon 1920 ab, hält aber merkwürdigerweise an der gänzlich ungeeigneten Rede von einer »Wende« in der theologischen Entwicklung Bultmanns fest. Kapitel 3 analysiert präzise die Bezugnahmen auf Kierkegaard in Karl Barths zweitem Römerbrief sowie das Gespräch zwischen Barth und Bultmann über dieses Gründungsdokument der Dialektischen Theologie. In diesen ersten drei Kapiteln bietet B. zu Bultmann indes nichts, was über den bereits erreichten Forschungsstand hinausgeht. Insofern kann man fragen, ob der 218 Seiten lange Anmarschweg zum eigentlichen Thema des Buches nicht etwas kürzer hätte ausfallen können.
Kapitel 4 sichtet zunächst die publizierten Dokumente zur frühen Kierkegaard-Rezeption Bultmanns bis 1925 und macht Bezüge zu Kierkegaards Existenz- und Wahrheitsverständnis in dem Göttinger Vortrag »Das Problem einer theologischen Exegese des Neuen Testaments« von 1925 wahrscheinlich. Zu den Anfängen der Kierkegaard-Lektüre Bultmanns hätte B. vielleicht noch genauere Erkenntnisse anhand der von ihm benutzten Exemplare der Werke Kierkegaards (heute in Mainz oder Bochum, Bibliothekslisten im Nachlass Bultmanns in Tübingen) sowie in der Korrespondenz zwischen Ernst Moering und Bultmann (ebenfalls Tübingen) gewinnen können. Eindringliche Textanalysen weisen sodann im Jesusbuch Bultmanns von 1926 über das bekannte längere Zitat aus der Schrift »Leben und Walten der Liebe« hinaus weitere Parallelen zu Kierkegaard nach (Kapitel 5). Dabei geht es freilich entsprechend der Anlage des Jesusbuches noch nicht um den verkündigten Chris­tus. Die Affinität Bultmanns zum Denken Kierkegaards bildet sich vielmehr im Erfassen des Entscheidungscharakters und des eschatologischen Jetzt der Verkündigung Jesu, der Zeitlichkeit des Da­seins und des Sinnes des Doppelgebots der Liebe ab. B. teilt die auf einen Altersirrtum Bultmanns zurückgehende Annahme ihres Doktorvaters, Bultmann habe eine Urfassung des Jesusbuches be­reits vor seiner Bekanntschaft mit Heidegger geschrieben. Dagegen sprechen nun allerdings nicht nur alle zeitnahen Quellen, sondern m. E. gerade auch die Kierkegaard-Bezüge im Jesusbuch. Denn Bultmann las Kierkegaard 1923 ff. ja nicht nur »zeitlich parallel« zu seinem Austausch mit Heidegger (221), sondern Kierkegaard war von Anfang an ein zentraler Gegenstand seines Gesprächs mit dem Philosophen (vgl. Bultmann an W. Schmithals, 20.10.1972, UB Tü­bingen, Mn 2-2367).
Herausgefordert durch Erik Peterson einerseits und Emanuel Hirsch andererseits, suchte Bultmann 1926/27 in expliziter, zu­meist positiver Anknüpfung an Kierkegaard den Gedanken der verhüllten Offenbarung und des mit ihm verbundenen Paradoxes stark zu machen, um die innerweltliche Unableitbarkeit und Un­ausweis­barkeit des Glaubens sicherzustellen. In dem wichtigen Brief an Barth vom 10.12.1926 erklärte Bultmann denn auch das Problem, wie der Umschlag vom Verkündiger Jesus zum verkündigten Jesus Chris­tus theologisch zu verstehen sei, zur Kernfrage »der neutestamentlichen Theologie überhaupt«. Zumal in der Auseinandersetzung mit Hirsch entwickelte Bultmann, die Paradox-Christologie Kierkegaards aufnehmend, erste Ansätze seiner – im Jesusbuch noch mit Bedacht ausgesparten – Christologie. Entsprechend der Valenz der hiermit gegebenen Probleme zeichnet B. diese verdichtete Kierkegaard-Rezeption Bultmanns 1926/27 in dem nicht zufällig längsten Abschnitt ihres Buches akribisch und luzide nach (Kapitel 6). Leider hat sie dabei die bereits 2005 erschienene Untersuchung Matthias Wilkes zu Hirschs Kierkegaard-Rezeption, ebenfalls eine Göttinger Dissertation, für ihre Darstellung Hirschs nicht fruchtbar gemacht.
Das abschließende 7. Kapitel zeigt, wie Bultmann 1928–30 im Rekurs auf Motive Kierkegaards seine Auffassung des Entscheidungsrufes Jesu als impliziter Christologie weiter ausbaut. Darin besteht denn auch der eigentliche Ertrag dieser eindrücklichen rezeptionsgeschichtlichen Untersuchung: B. weist die Bedeutung Kierkegaards für Bultmanns Verständnis der Menschwerdung Gottes, des Erscheinens der Ewigkeit in der Zeit, der Verborgenheit der Offenbarung sowie des Glaubens als der einzig möglichen Weise, der unverfügbaren Wirklichkeit Gottes in seiner Offenbarung inne zu werden, nach. Dies stellt eine respektable Leistung dar, die eine Lü­cke der Bultmann-Forschung schließt. Nicht zuletzt entzieht B. einseitigen Ableitungen der theologischen Hermeneutik Bultmanns aus seinem Austausch mit Heidegger und aus seiner Anknüpfung an dessen Daseinsontologie endgültig die Legitimation.
Ob aber die methodische Entscheidung glücklich war, Bultmanns Kierkegaard-Rezeption zunächst für sich darzustellen und dabei seinen Dialog mit Martin Heidegger zu sistieren, wird man endgültig wohl erst nach dem Erscheinen des zweiten Bandes des Werkes von B. beurteilen können. Bedauerlicherweise muss sich der Leser in diesem ersten Band ganz ohne Register zurechtfinden. Auch wird der Lesefluss durch zahlreiche längere Zitateinschübe und teilweise über mehrere Seiten sich erstreckende Fußnoten deutlich gehemmt. Aber wer die Dynamik und Klarheit des Denkens Rudolf Bultmanns, gerade in der spannenden und für die Formierung seiner Theologie entscheidenden Phase von 1920 bis 1930, erfassen möchte, wird ohnehin gut daran tun, die Texte des großen Marburger Theologen selbst zu studieren.