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Ausgabe:

Februar/2010

Spalte:

209-211

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Voss, Rüdiger von, u. Gerhard Ringshausen [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Die Predigten von Plötzensee. Zur Herausforderung des modernen Märtyrers. M. Geleitworten v. Bischof Dr. W. Huber u. v. Erzbischof Dr. R. Zollitsch.

Verlag:

Berlin: Lukas Verlag 2009. 272 S. m. Abb. gr.8°. Geb. EUR 19,80. ISBN 978-3-86732-064-1.

Rezensent:

Günter R. Schmidt

Für dieses Buch wurden 50 Ansprachen und Predigten von 22 Autoren beider Konfessionen sowie eines Rabbiners ausgewählt, die von 1954 bis 2008 jeweils im Abstand von einem bis zu vier Jahren in verschiedenen Kirchen Berlins und im »Hinrichtungsschuppen« Plötzensee zum Gedenken an den 20. Juli 1944 gehalten wurden. Vorangestellt sind Geleitworte der Bischöfe W. Huber und R. Zollitsch als Repräsentanten der beiden Kirchen sowie eine Einleitung der beiden Herausgeber und ein Aufsatz von G. Ringshausen über »Die Gegenwart Gottes im Raum des Todes« (15–48). Als Bildbeigaben finden sich darin die 16 Tafeln des »Plötzenseer Totentanzes«, die der Wiener Grafiker und Bildhauer Alfred Hrdlicka um 1970 für das Evangelische Gemeindezentrum Plötzensee schuf. Die Geleitworte heben die moralische und die ökumenische Verpflichtung hervor, die von den Frauen und Männern des 20. Juli 1944 ausgeht.
Als Auswahlkriterium nennen die Herausgeber, »dass die Predigten die geistliche und theologische Auseinandersetzung mit dem Widerstand spiegeln und entsprechende Schwerpunkte setzen« (13). Unter den ausgewählten Autoren finden sich nicht nur Kardinal Döpfner, die Bischöfe Dibelius und Lilje sowie D. Bonhoeffers Freund und Biograph E. Bethge, sondern auch die Gefängnisgeistlichen O. Braun, P. Bucholz und H. Poelchau, welche die Inhaftierten begleitet haben. Am häufigsten kommen der Dominikaner K. Meyer (12-mal) und E. Bethge (fünfmal) zu Wort. G. Ringshausen skizziert in seinem Aufsatz zunächst die Geschichte der Strafanstalt Plötzensee, in der insgesamt 2891 Personen getötet wurden, und hebt dann die geistliche Verbundenheit der evange­lischen und katholischen Gefangenen hervor sowie ihr und ihrer Seelsorger Leiden daran, nicht gemeinsam das Sakrament feiern zu können. Bis 1954 fanden die Gedenkgottesdienste getrennt statt, dann gemeinsame Wortgottesdienste, ab 1973 im Hinrichtungsschuppen auch gleichzeitige, aber getrennte Sakramentsfeiern. Als thematische Akzente der Predigten behandelt Ringshausen u. a. »Die Legitimität des Widerstandes und des Tyrannenmordes«, das Problem, in welchem Sinne die Verschwörer als »Märtyrer« gelten können, und »Das bleibende Vermächtnis«. Abschließend interpretiert er Hrdlickas »Totentanz«.
Predigten sind Texte, von denen sich durch Zusammenfassungen noch weniger ein Eindruck vermitteln lässt als durch kurze Zitate. Dennoch sollen einige im Originalton anklingen und kurz erläutert werden. H. Lilje verweist auf die Glaubensmotivation vieler Verschwörer: »Die überwiegende Mehrheit ist im christlichen Glauben fest gegründet gewesen und durch die schwere Lebensführung noch tiefer hineingewachsen.« (103) »Diese Mauern [des Gefängnisses Lehrter Straße] haben Gebete gehört, wie sie Männer selten zu beten pflegen.« (83) Für W. Adolph war ihr »tiefstes Anliegen, .... wieder Recht, Würde und Freiheit als Ausdruck möglichen Wollens in der Gemeinschaft unseres Volkes herzustellen«. (80) O. Braun ist gewiss, dass Christus »ihr Opfer in sein großes unendliches Opfer hineingenommen hat« (99). Überhaupt wollen viele der Prediger den Einsatz der Verschwörer als Opfer verstehen. Von E. Bethge wird erörtert, in welchem Sinne dem Leiden der Hingerichteten »der Rang christlichen Märtyrertums« zukomme (119). Et­liche Prediger beschäftigt das Scheitern der Verschwörer. Sie hätten den fatalen Verlauf der Ereignisse, die noch nach dem 20. Juli 1944 unzählige Menschen das Leben kosteten, nicht abwenden können. Dennoch sei ihr Einsatz keinesfalls umsonst gewesen, sondern bedeute für uns ein moralisches und religiöses Vermächtnis. H. Poelchau stellt zunächst nüchtern fest: »Gott hat den Plan der Männer vom 20. Juli nicht bestätigt.« Dann führt ihn die Tageslosung Röm 8,13 zu der Einsicht: »Es geht nicht darum, dass hier eine ethische Bewegung ihre Anerkennung auch von Gott her haben müss­te, sondern darum, dass Gott in seiner großen Barmherzigkeit und Güte sein ›für uns‹ in Jesus Christus gesprochen hat, sehr viel früher!« Aus Abschiedsbriefen von Verurteilten gehe hervor, dass dieses ›für uns‹ sie »getragen und getröstet« (76 f.) hat. Nach O. Braun wurde »offenbar, dass trotz äußerer Schmach und Erniedrigung, die man den Opfern an dieser Stätte zufügte, sie doch die Sieger waren« (99). K. Meyer tröstet besonders die Angehörigen: »Wir feiern hier unter diesen Haken den in Christus eingeschriebenen Tod von Männern und Frauen für uns. ... Die Wunden und Narben bleiben, sie können schmerzen, aber im Lichte der Auferstehung Jesu Christi leuchten sie auch.« (215) Im Rückblick auf seine Tätigkeit als Gefängnisgeistlicher bemerkt P. Buchholz: »Das, meine verehrten und lieben Angehörigen, musste ich Ihnen einmal sagen, ... dass ich trotz der unsagbaren Schwere der priesterlichen Aufgabe, die mir in diesen Jahren auferlegt war, doch Gott ewig dankbar bleibe, weil ich Zeuge sein durfte, wie im Angesicht des Todes Menschen zu einer letzten Größe heranreiften, wie man sie nur an den Toren der Ewigkeit findet.« E. Bethge sieht Plötzensee als »stolze Gabe«: »Der Galgen von Plötzensee hat, wie noch viele andere Galgen auch, den Unseren die Integrität zurückgegeben!«
In vielen Predigten klingt an, dass das Handeln und Leiden der Hingerichteten Warnung und Mahnung für die Gegenwart bedeuten. Sie hätten die Zusammengehörigkeit der Christen erfahren und unter ihrer Trennung gelitten; die Unmöglichkeit einer gemeinsamen Sakramentsfeier mache auch die Teilnehmer an den Gedenkgottesdiensten immer wieder betroffen. »Einige von Ihnen, deren Verwandte hier ermordet worden sind und die bis heute tief leiden, stellen mir die Frage: Unsere Männer und Väter – katholisch und evangelisch – haben hier gemeinsam ihr Leben gelassen, und wir feiern hier nicht zusammen. Was soll ich dagegen sagen? Es ist ja ein Skandal«, ruft K. Meyer aus und fordert, »dass wir Christen in den verschiedenen Konfessionen fünfhundert Jahre Selbstbehauptungsgeschichte gegeneinander in Bekehrung zu Gott aufgeben« (225 f.). Als weitere Skandale nennt er, »dass sich in Deutschland kein Gesetz zum Schutz ungeborener Menschen machen lässt« und dass trotz Arbeitslosigkeit und Globalisierungsproblemen wenig Bereitschaft zum Teilen besteht. »Sind wir dieser Männer und Frauen würdig? ... Hätten wir im Ernstfall an ihrer Seite gestanden?«
Insgesamt bieten die Predigten eindrucksvolle Beispiele dafür, wie sich biblische Texte, theologische Einsichten, situativer Anlass und Hörervoraussetzungen homiletisch so in Beziehung setzen lassen, dass sogar der Leser in den Ernst der gottesdienstlichen Gemeinde von Plötzensee versetzt wird. »Dieser Ort ist ein heiliger Ort«, sagt K. Meyer, ein »Ort der Zeitansage und Mahnung« (235).