Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Februar/2010

Spalte:

206-208

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Neubert, Ehrhart

Titel/Untertitel:

Unsere Revolution. Die Geschichte der Jahre 1989/90. M. 42 Abbildungen.

Verlag:

München-Zürich: Piper 2008. 520 S. gr.8°. Geb. EUR 24,90. ISBN 978-3-492-05155-2.

Rezensent:

Rudolf Mau

Ehrhart Neubert, seit den 60er Jahren Pfarrer in Thüringen und später Referent für Gemeindesoziologie in der Theologischen Studienabteilung beim DDR-Kirchenbund, war im Herbst 1989 Mitbegründer der Bürgerrechtsinitiative »Demokratischer Aufbruch«. Nach seiner Geschichte der Opposition in der DDR von 1997 bietet er nun eine sehr dichte quellenfundierte Darstellung der Ereignisse von der Krisensituation im Spätsommer 1989 bis zur Herstellung der deutschen Einheit gut ein Jahr danach.
Im Buchtitel soll »unsere« Revolution nicht deren Gelingen exklusiv für die oppositionellen Gruppen in der DDR reklamieren, sondern bezeichnet im Kontext der ostmitteleuropäischen Revolutionen die deutsche, die »sich im Zusammenhandeln und -wirken von West und Ost vollzog«, indem sie »erfolgreich die Ideen von Freiheit und Nation« verband. Dies sei »aus einem Guss … bis zum 3. Ok­tober 1990« zu erzählen (15). Mit Ralf Dahrendorf versteht N. eine Revolution als gelungen, insoweit sie das alte Regime endgültig beseitigt, auch wenn sie extravagante Hoffnungen enttäuscht.
Der Fokus der Darstellung ist die Machtfrage, das »Wechselspiel zwischen dem Zusammenbruch der kommunistischen Herrschaft und dem Entstehen neuer Machtzentren«. Mit Hannah Arendt verweist N. auf das Entstehen von »Macht zwischen Menschen, wenn sie zusammen handeln«; revolutionäre Vorgänge seien vor allem Sprachereignisse. Dies veranschaulicht N., indem er beschreibt, wie sich der Sprachraum der Menschen im Umgang mit der täglich erlebten DDR-Realität erweitert, von der subversiven Variierung der »SED-Sklavensprache« über die Witzkultur bis zum endgültigen Scheitern der ideologisierend-diktatorischen »Sprachpolitik der SED« (18 f.), deren Untergang in den »Sprachgewittern« der großen Demonstration in Berlin am 4. November 1989 (180). Als Quellen der Darstellung (über 600 Titel, 447–477) dienen neben staat­lichem Schriftgut, insbesondere MfS-Akten, zahllose Texte aus der Bürgerbewegung, aber auch Erinnerungen und Tagebücher westdeutscher Politiker. Die Unterschiedlichkeit dieser Aufzeichnungen vermittle den Eindruck, es habe »gleich mehrere nicht miteinander verbundene Revolutionen« gegeben (23).
Das erste Kapitel, »Brüchiger Kitt – Die DDR und ihr Personal im 40. Jahr« (25–62), spricht von Honeckers Reformverweigerung, der Selbstisolierung auch innerhalb des Ostblocks mit der Parole vom »Sozialismus in den Farben der DDR«, verweist auf das Chaos in der Kulturpolitik, das Erstarken der Opposition und spricht von der »Gesellschaft auf der Flucht«. Die westliche Befriedungspolitik ha­be diese innere Lage der DDR verkannt. Der SED-Staat war mit der Kirche als »trojanischem Pferd« konfrontiert, da sich in den 1980er Jahren »innerhalb der kirchlichen Strukturen oppositionelle Friedens-, Umwelt- und Menschenrechtsbewegungen formiert« hatten, deren Gruppen und Netzwerke zum Teil »mit kirchlichen Strukturen identisch« waren (40). – Das zweite Kapitel (»Der Konflikt wird öffentlich«, 63–110) beschreibt die Beschleunigung des Geschehens im September 1989, das sprunghafte Anwachsen der Fluchtbewegung nach der Grenzöffnung in Ungarn. Als »neue Opposition« werden mehrere Gruppierungen vorgestellt (Initiative Frieden und Menschenrechte, Sozialdemokratische Partei, Neues Forum, Demokratie jetzt, Demokratischer Aufbruch, Initiative Vereinigte Linke). Die Konferenz der Kirchenleitungen wendet sich am 2. September brieflich an Honecker; 14 Tage später spricht die Synode des Kirchenbundes öffentlich von nunmehr unaufschiebbaren Reformen. Mit der ersten Massendemonstration in Leipzig am 25. September beginnt der »Kampf um die Straße«.
Unter dem Motto »Das Fenster aufreißen« (111–215) wird das nochmals sich beschleunigende Geschehen vom 2. Oktober bis zum 8. November beschrieben, mit dem »das Koordinatensystem der Macht aus den Fugen geriet«. Ein »Revolutionskalender« schildert die Tage von der Ausreise der Prager Botschaftsflüchtlinge bis zu den Vorgängen am Staatsfeiertag, beschreibt die Vorgänge in Dresden, auch das Drohen staatlicher Gewalt gegen die 20.000 Demonstranten in Plauen, die durch das Eingreifen des Superintendenten abgewendet wird, verweist auf die Aufrufe zur Gewaltlosigkeit »in unzähligen Sonntagsgottesdiensten« (127), beschreibt den Situationswandel durch die große friedliche Demonstration in Leipzig am 9. Oktober – und das Reagieren der Gegenmacht: den Honecker-Rücktritt und die Krenz-»Wende« mit den Versuchen der SED, über den nun akzeptierten »Dialog« wieder die Oberhand zu gewinnen. N. thematisiert sub voce »Mitteilungen des Volkes an seine Regierung« das Sprechen als »Vollzug der Revolution« – am Anfang »bitter ernst, später … gelöst, befreit und oft sehr witzig« (167). Die »neue Öffentlichkeit« ermöglicht Anfänge der Machtkontrolle. Die machtvolle Demonstration in Berlin am 4. November deutet N. als »zwei in einer«, »ein wahres Sprachgewitter«: Während die Redner auf der Tribüne wortgewandt »das heraufziehende Neue« feiern, reißen die Losungen und Sprechchöre unten »den Graben zur SED unüberbrückbar auf«: Oben geht es »um Reformen, auf dem Platz um Revolution« (180). In der Leipziger Thomas­kirche war tags darauf zu hören: »Wer hat überhaupt noch die Vorstellung gehabt, dass so viel Kraft, so viel Geist, so viel Besonnenheit in unserem Volk noch vorhanden sind! … dass die Massen wirklich eine Kraft sind, die unübersehbar ist in ihrer Friedfertigkeit, aber auch in ihrer Entschlossenheit?« (181 f.)
Nach dem Mauerfall »lachte das Volk am offenen Käfig«, doch Politiker in Ost und West »schauten sorgenvoll drein«. Für die Phase vom 9. November bis Januar 1990 ist vom »grenzenlosen Hunger der Millionen«, die jetzt alles bisher Verweigerte anmelden, die Rede (217–326). Das eigentlich Normale, die Maueröffnung, wirkt als Trugwahrnehmung (»Wahnsinn!«); SED-Chef Krenz bleibt sprachlos, aber die Opposition ist irritiert: Initiatoren des Aufstandes sehen sich nun »politisch enteignet« (233). Es gibt Machtkämpfe, unterschiedliche Konzepte, den 10-Punkte-Plan Helmut Kohls. Modrow (SED) wird Ministerpräsident und agiert zugunsten des umbenannten MfS; unter kirchlicher Leitung tagt der »Runde Tisch« und setzt sich im Ringen um die Entmachtung des Stasi-Apparates auch als Kontrollinstanz durch (»Januar-Revolution«). – Die beiden letzten Kapitel schildern das Geschehen bis zu den angesichts des politischen und wirtschaftlichen Zusammenbruchs der DDR vorverlegten ersten freien Wahlen (327–382) sowie die »Abwicklung der DDR und die Wiedervereinigung« (383–441).
N. hat mit einer Vielzahl verschiedenartiger Quellen eine eindrucksvolle Darstellung der Friedlichen Revolution in Ostdeutschland, die er aber wegen staatlicher(!) Gewaltanwendung in der frühen Phase nicht so bezeichnen möchte (16 f.), vorgelegt. Selbst aus der Opposition kommend, kennzeichnet er auch deutlich die Reichweite und die Grenzen der ursprünglichen Intentionen, die überwiegend einem demokratischen Sozialismus galten, um in den letzten Kapiteln die wachsende Rolle des nach der Einheit Deutschlands verlangenden »Volkes«, der sich neu bildenden Institutionen sowie das Agieren der Bundesregierung und der einstigen Siegermächte zu beschreiben. Aus vielen Hinweisen ist auch die große Bedeutung der Kirche als Ursprungsort der Opposition zu entnehmen. Doch weshalb sie dies war und sein konnte – als Ort des aufgrund des Gottesglaubens freien und befreienden Wortes, als (die evangelische Kirche betreffend) strukturell demokratische Institution, die sich der Aufgabe friedensethisch fundierter Konfliktbewältigung stellte und in diesem Sinne als gelebte Alternative zur ideologischen Diktatur präsent war –, meint der die Revolution als Sprachereignis beschreibende Interpret dem Leser nicht verraten zu müssen. Zwar betont N., dass die »Opposition weitgehend aus den Gemeinden und der Theologenschaft hervorgegangen« sei (307), doch die »Kirchenoberen« sehen sich wegen ihrer (angesichts der Rechtsunsicherheit und vieler Probleme in den Gemeinden notwendigen!) Gesprächskontakte mit Staatsfunktionären geradezu unter Generalverdacht gestellt. Als eine katego­riale Verirrung wirkt (unter der Überschrift »Die Kirchen«) die Behauptung, es sei »für die Protestanten verheerend« gewesen, »dass sich eine Minderheit, ähnlich den ›Deutschen Chris­ten‹ in der NS-Zeit, ideologisch an die kommunistische Ideologie gebunden« habe und dass »diese geistliche Kollaboration« nach 1990 weiter wirkte (306).
Die Revolutions-Erzählung, die N. – wie gezeigt, weithin beeindruckend – vorgelegt hat, verleugnet nicht die Eigenart und Grenzen ihrer biographischen Grundierung.