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Ausgabe:

Februar/2010

Spalte:

201-203

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Bauer, Gisa

Titel/Untertitel:

Kulturprotestantismus und frühe bürgerliche Frauenbewegung in Deutschland. Agnes von Zahn-Harnack (1884–1950).

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2006. 417 S. gr.8° = Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte, 17. Geb. EUR 58,00. ISBN 978-3-374-02385-1.

Rezensent:

Beate Eulenhöfer-Mann

Gisa Bauer ist Assistentin am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Kirchengeschichte der Theologischen Fakultät Leipzig. Mit dieser zunächst von Kurt Nowak und nach dessen Tod von Klaus Fitschen betreuten Arbeit wurde sie 2005 promoviert.
Agnes von Harnack wurde 1884 als Tochter von Amilie Thiersch und Adolf von Harnack, Professor für Theologie, in Gießen geboren. Nach dem Schulbesuch begann sie 1900 ihre Ausbildung als Lehrerin, die sie 1903 abschloss. Bis 1920 lehrte sie an einer Mädchenschule in Berlin. Auch während ihres Studiums (1908–1912) unterrichtete sie dort. Sie studierte deutsche und englische Philologie sowie Philosophie in Berlin und wurde 1912 mit einer Arbeit über Clemens Brentano in Greifswald promoviert. 1919 heiratet sie den Juristen Karl von Zahn. Aus der Ehe gingen drei Kinder hervor. Von 1926 an arbeitete sie im Vorstand des Deutschen Akademikerinnen-Bundes. Sie verfasste außer der Biographie ihres Vaters mehrere Werke zu Frauenfragen und zur Frauenbewegung. Während des Krieges lebte sie zurückgezogen und publizierte kaum, um dann nach dem Krieg bis zu ihrem Tode 1950 in der neu entstehenden Frauenbewegung mitzuwirken.
Der Titel der Arbeit benennt eine zugrunde liegende Annahme: Der Kulturprotestantismus und die frühe bürgerliche Frauenbewegung sind so miteinander und mit dem Leben der Protagonistin verwoben, dass sie sich an der Biographie Agnes von Zahn-Har­nacks untersuchen lassen, und in ihrer Person wird »Frauenemanzipation aus protestantischem Geist« – so der Titel des zentralen vierten Kapitels – verwirklicht. Da die Protagonistin selbst eine Biographie ihres Vaters, einer der maßgeblichen Persönlichkeiten des Kulturprotestantismus verfasst hat, ist von einer Vertrautheit mit dem Kulturprotestantismus auszugehen, mit dem sich von Zahn-Harnack auch identifiziert.
Nach der Einleitung, in der B. Methoden, Ziele und die Quellenlage darlegt sowie Definitionen des Kulturprotestantismus analysiert und die frühe bürgerliche Frauenbewegung beschreibt, ist das zweite Kapitel der Verwobenheit (personell, institutionell und strukturell) von liberalem Protestantismus und Frauenbewegung gewidmet. Im dritten Kapitel wird das Verhältnis des Vaters der Protagonistin, Adolf von Harnack, zur Frauenemanzipationsbewegung geschildert. Direkte Stellungnahmen von Harnacks zur Frauenemanzipation existieren nicht, so B. (88). Seine Position, die aus seinen Kommentaren zur Reform der höheren Mädchenschulbildung und zum moderaten Flügel der Frauenemanzipationsbewegung abgeleitet wird, charakterisiert B. als vorsichtig unterstützend. 1904 weigerte von Harnack sich auf Befragen, aus dem mulier taceat eine Aussage gegen das Frauenwahlrecht zu lesen, da es seinem Verständnis nach der christlichen Gemeinde oblag, in solchen Fragen zu einer eigenen Position – unabhängig vom Vorbild der Ur­gemeinde – zu kommen (86).
B. konstatiert eine »Kohärenz innerhalb des bürgerlich-protes­tantischen Milieus« (100), das die Protagonistin prägte, in dem teils durch geographische Nähe, teils durch freundschaftliche Verbundenheit intensive Beziehungen entstanden, die teilweise lebenslang währten. Dass von Zahn-Harnack Lehrerin (und eben nicht Theologin) wurde, war auch dem zeitgeschichtlichen Kontext geschuldet, der im Beruf der Lehrerin eine für bürgerliche Frauen adäquate Tätigkeit sah. Diese Tätigkeit setzte sie auch zu­nächst fort, nachdem sie promoviert worden war (115).
Umfassend stellt B. die verschiedenen Verhaltensweisen der bürgerlichen Vertreter des Kulturprotestantismus während des Nationalsozialismus dar, die von aktivem Widerstand bis zum völligen Rückzug aus dem öffentlichen Leben reichten. Die Protagonistin entschied sich für die zweite Variante und konnte so ihre Arbeit nach dem Ende des 2. Weltkriegs wieder aufnehmen, wenn auch die Frauenbewegung, die sie vertrat, ihre wirkungsmächtigste Zeit bereits erlebt hatte. Von Zahn-Harnack begann 1934 damit, eine wissenschaftliche Biographie ihres Vaters zu verfassen (287), dessen theologische Positionen sie nach wie vor für aktuell und relevant hielt. Die Kontakte zu vielen Personen, die in Auseinandersetzung mit ihrem Vater gestanden hatten, kamen von Zahn-Harnack beim Verfassen der Biographie zugute (288). Der Kulturpro­testantismus, den von Zahn-Harnack vertrat, mündete für sie folgerichtig in ihrem Engagement in der bürgerlichen Frauenbewegung, deren Ziele mit kulturprotestantischen sinnvoll vereinbar erschienen.
Von Zahn-Harnacks Engagement galt ihrem eigenen sozialen Kontext. Ihre Haltung gegenüber ihren Dienstbotinnen gipfelt in der (von von Zahn-Harnack selbst zitierten) Aussage: »›ohne Sklaven ist keine Kultur möglich‹ – hart aber wahr; wenn man wirklich alles selber machen muß, ist es nichts, oder wenig, mit dem ›höheren Leben‹« (193). Innerhalb ihres Milieus ist diese Aussage verständlich. B. kommentiert diese Aussage nicht, konstatiert aber vorher, dass von Zahn-Harnack »im Hinblick auf die Angestellten in ihrem Hause dem bürgerlichen Standesdenken stark verpflichtet war«. An anderer Stelle stellt B. von Zahn-Harnacks »Bewußtsein für den Konservativismus einiger Aspekte ihres Weltbilds« (206) fest und benennt die Problematik in den herablassenden Kommentaren von Zahn-Harnacks über das Werk der Abolitionis­tin und Feministin Frances Wright (203).
Insgesamt löst die Arbeit ihren Anspruch ein. Es gelingt B., die enge Verwobenheit des Kulturprotestantismus mit der bürgerlichen Frauenbewegung an Agnes von Zahn-Harnacks Biographie zu exemplifizieren. B. sieht den Vorwurf des »Antifeminismus innerhalb des Protestantismus Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts« durch ihre Arbeit als entkräftet an. Sie weist eine »partielle Protektion der Frauenbewegung durch den liberalen Protes­tantismus« nach (357/358) und hebt ihn damit beispielsweise von der Dialektischen Theologie ab, deren Protagonisten die Frage nach der Frauenemanzipation als irrelevant betrachteten. Außerordentlich plausibel stellt B. dar, dass im Falle Agnes von Zahn-Harnacks ihr Verständnis des liberalen Protestantismus in sozialpolitisches Engagement mündete. Während dies rückblickend als »säkular« interpretiert wurde (359), so B.s abschließende These, war es eigentlich die logische Konsequenz eines für die Welt gelebten Kulturprotestantismus. In dieser Hinsicht wäre H. Richard Niebuhrs Typologie des »Christ of Culture« (Niebuhr, Christ and Culture, New York 1951), die er u. a. am Kulturprotestantismus exemplifiziert, zweifellos erfüllt.
Die Studie teilt die Schwierigkeit mancher Arbeit über wirkungsgeschichtlich relevante protestantische Frauen, deren theo­logisches Profil schwer zu erhellen ist, da sie keine formale theo­logische Ausbildung hatten. Die Darstellung der theologischen Po­sitionen muss in Ermangelung von fundamentaltheologischen Kenntnissen der Protagonistin weitgehend aus eigenen und aus Äußerungen anderer Menschen über ihre praxis pietatis abgeleitet werden. Das gelingt B. überzeugend. Außerdem verstand von Zahn-Harnack den Kulturprotestantismus auch als »undogmatisch«, was die theologische Positionierung ihrer Person noch erschwert. Der Schwierigkeit dieser Tatsache trägt B. ebenfalls Rechnung. Die Arbeit bereichert die Forschung zur liberalprotestantischen bürgerlichen Frauenbewegung um eine lesenswerte Biographie.