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Ausgabe:

Februar/2010

Spalte:

197-200

Kategorie:

Kirchengeschichte: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Murtorinne, Eino, u. Werner Söderström Oy [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Finlands Kyrkohistoria. 4 Bde. Aus d. Finnischen ins Schwedische übers. v. B. Widén.

Verlag:

Skellefteå: Artos Bokförlag 2000. Insg. 1223 S. m. zahlr. Abb. u. Ktn. Bd. I: Medeltiden och Reformationstiden. Von K. Pirinen. 275 S. Bd. II: Åren 1593–1808. Von P. Laasonen. 316 S. Bd. III: Autonomins tidevarv 1809–1899. Von E. Murtorinne. 290 S. Bd. IV: Från förtrycksperioden til våra dagar 1900–1990. Von E. Murtorinne. 342 S. SEK 1268,00. ISBN 9175801949.

Rezensent:

Jobst Reller

Kirchenhistoriker der Universität Helsinki setzten Ende der 1980er Jahre den großen Plan einer neuen Gesamtdarstellung der Kirchengeschichte Finnlands um. Damit liegt erstmals eine Gesamtdarstellung vor – dank der innernordischen kulturellen Zusammenarbeit auch in der schwedischen Sprache und damit einem etwas größeren Kreis erreichbar. Die Zahl der in einer internationalen Sprache erschienenen Titel zur Gesamtheit finnischer Kirchengeschichte ist überschaubar. In der Regel behandeln auch diese nur Teilausschnitte. Man vergleiche »The History of Finnish Theology 1828–1918« (1988) aus der Feder des unermüdlichen Herausgebers auch dieses Projektes Eino Murtorinne oder auch den kurzen Abriss in Poul Georg Lindhardts »Kirchengeschichte Skandinaviens nach der Reformation«.
Die hier vorgelegte Gesamtdarstellung ist also in jeder Hinsicht verdienstvoll, auch wenn sie noch nicht wie das im Erscheinen begriffene und in anderer Weise wieder begrenzte Werk »Finlands Svenska Historia« (Bd. 1 von Kari Tarkiainen: Sveriges Österland. Från forntiden till Gustav Vasa, Helsinki-Stockholm 2008, liegt vor) die Entwicklung im Baltikum mit in den Blick nimmt. Dies ist erst seit neuerer Forschungszusammenarbeit möglich und schmälert den Verdienst der vorliegenden Gesamtdarstellung in keiner Weise. Die Autoren grenzen ihren Gegenstand folgendermaßen ein: »Unter der Kirche Finnlands wird in diesem Werk unsere mit der westlichen Tradition verbundene Volkskirche verstanden, die während des Mittelalters katholisch und danach lutherisch war. Auch die orthodoxe Kirche sowie die übrigen Kirchen und Kirchengemeinschaften sind in die Darstellung einbezogen worden, die wir so versucht haben abzuwägen, dass aus ihr sowohl der Bezug der kirchlichen Entwicklung zur christlichen Tradition und Theologie als auch zum vielfältigen Einfluss auf die finnische Gesellschaft und Kultur hervorgeht« (Bd. 1, 11, übers. vom Re­zen­senten). Es ist also die Gesamtheit christlicher Lebensäußerungen im finnischen Volks- und Sprachraum über eine mehr als 1000-jährige Geschichte in wechselnden Grenzen in den Blick genommen. Das Hauptgewicht liegt jedoch eindeutig auf der finnischen Kirche westlicher Tradition.
Bd. 1 endet nach Darstellung des Mittelalters im Vergleich mit Darstellungen der deutschen Kirchengeschichte ungewöhnlich mit dem Abschluss der Reformation unter dem schwedischen König Johann III. bis zur Versammlung von Uppsala 1593. Nicht nur aus Raumgründen wird also die Kontinuität der Kirche in Schweden-Finnland vor und während der Reformation betont. Angesichts der vielfältigen Kontinuitäten im Bereich der bischöflichen Verfassung leuchtet diese Abgrenzung durchaus ein. Erste christliche Einflüsse werden an dem Aufhören der Feuerbestattung in der Landschaft Satakunta/Westfinnland um 500 n. Chr. festgemacht. Ringkreuzfibeln als Grabbeigaben um 800 n. Chr. im eigentlichen Finnland und im Tavastland werden als christlich gedeutet. Nach 1000 hört die Sitte von Grabbeigaben von Westen her auf (24). Pirinen folgert, dass es frühe christliche Prediger gegeben haben muss, die keine historischen Spuren hinterlassen haben. Zentrale christliche Begriffe wie »pappi« für »Priester«, »risti« für »Kreuz«, »raamatu« für »Bibel«, »pakana« für »Heide« scheinen jedenfalls auch bei lateinischem oder griechischem Ursprung über das Altrussische vermittelt zu sein (26). Die These der vergleichsweise späten Christianisierung durch den in der Forschung als fiktiv angesehenen Kreuzzug des heiligen Erik Jedvardsson von Schweden 1157/8 wird zumindest stark relativiert (32). Wäre der Ansatz der 700-Jahrfeier der Christianisierung Finnlands 1955 mit der Ankunft St. Henriks 1255 richtig, wäre der Kreuzzug ein sekundäres Ereignis. An Gestalten werden durch gesonderte Kapitel hervorgehoben: St. Henrik (12. Jh.; 30–39), Bischof Thomas († 1248; 40–49), der Reformator, Bibelübersetzer und Bischof Mikael Agricola (ca. 1510–1557; 204–216) und Bischof Paul Juusten (1563–1575; 217–226). Angesichts des begrenzten Raumes der Rezension können nur einzelne Gegenstände eingehender beleuchtet werden.
Das Kapitel über Agricola soll kurz skizziert werden. Er gilt als Reformator und Schöpfer der finnischen Schriftsprache, obwohl er aus dem schwedischsprachigen Pernå stammt.
Während finnischsprachige Forscher geneigt sind, ihn wegen seiner guten Beherrschung des Finnischen als Finnen anzusehen, wird von schwedischsprachigen immer wieder diese muttersprachliche Herkunft angenommen (zuletzt Tarkiainen). Genauso bleibt die Annahme einer selbstverständlichen Zweisprachigkeit möglich. Agricola besuchte die Schule im karelischen Viborg, um dann mit seinem zum Bischof gewählten Rektor Martin Skytte nach Åbo zu wechseln. Er studierte Anfang der 1530er Jahre Luthers lateinische Schriften und unternahm Predigtreisen nach seiner Priesterweihe, bevor er 1536 nach Wittenberg reiste, um 1539 mit einem Empfehlungsbrief Luthers, »seinem Vater«, zurückzukehren. Aus den erhaltenen Resten der Bibliothek Agricolas lässt sich sein humanistisches Interesse erschließen. Ein Brief nach Finnland legt die Vermutung nahe, dass er die Bibel ins Finnische übersetzen sollte und darum auch bei Melanchthon, »seinem hoch verehrten Lehrer«, Griechisch studierte. Ebenso sammelte er Quellenmaterial für sein Gebetbuch. »Auch seiner Natur nach war A. auf melanchthonische Weise eher ein reflektierender Gelehrter als ein feuriger Prediger des lutherischen Typs ... ein Reformator der zweiten Generation ...«, der »praeceptor Finlandiae«. Agricola reiste mit einem deutschen Magister Georg Norman (eigentlich »Norweger«), seinerseits von Melanchthon geprägt, zurück, der von Gustav Vasa mit der Unterwerfung der seiner Ansicht nach allzu selbstbewussten schwedischen Reformatoren beauftragt wurde. Nach Hause zurückgekehrt musste sich Agricola als Schreiber des Domkapitels von Åbo an der verwaltungsmäßigen »Minde­rung« (»Reduktion«) des immer noch reichen Bistums zugunsten des königlichen Zentralstaats beteiligen. Königlicher Machtanspruch und nationalfinnische Sensibilisierung wirkten Hand in Hand. Als Rektor der Kathedralschule konnte Agricola die Pfarrerschaft prägen: Der Pfarrer gilt ihm als mütterlicher (!) Lehrvater, der die anvertraute Herde hütet, die Kranken und Verirrten aufsucht. Zudem fungierte Agricola als Visitator, der sich u. a. in der abseits gelegenen Landschaft Savolax um eine verbesserte Volksbildung bemühte. Die finnische Bibelübersetzung galt seit 1543 als fertig (gedruckt für das Neue Testament 1548, mehr durch Vulgata, Erasmus, Luther und die schwedische Bibelübersetzung von 1541 geprägt), ein Elementarschulbuch und Katechismus, »das ABC-Buch«, wurde jedoch als Erstes 1543 auf Finnisch gedruckt (3. Auflage 1559). Im Katechismus, der der traditionellen mittelalterlichen Ordnung folgt, ist zwischen Vaterunser und Taufe der Engelsgruß eingeschoben, bzw. sind als finnische Spezialität Gebete zum Glockengeläut eingefügt. Agricolas pädagogischer Sinn wird daran deutlich, dass er im Un­terricht des analphabetischen Volkes die wörtliche Verwendung der Texte einschärfte, um Verballhornungen zu vermeiden. Das mittelalterliche pries­terliche Brevier wurde 1544 durch ein Gebet- und pastoraltheologisches Handbuch ersetzt, das die Psalmen der Tagzeiten-, Morgen- und Abendgebete, die Litanei, um­fangreiche Karfreitagsgebete, Kollekten der Sonn- und Feiertage und Schlussgebete aus dem Missale Aboense nebst Privatgebeten enthielt. Das Gebetbuch als Gesamtkomposition ist wohl eine genuine Leistung Agricolas. Im finnischen Neuen Testament stellte er den Evangelien die Vorreden von Hieronymus voran, den Briefen die Luthers, darunter auch die zu Röm. Die schwedischen Ordnungen für die Gottesdienste, das »Handbuch« und die »Messe«, wurden ebenfalls von Agricola 1549 mit deutlich konservativer Tendenz in das Finnische übersetzt. Die mittelalterliche Passionsmystik wiederum findet sich im selben Jahr in einer Evangelienharmonie der Passionsgeschichte wieder, ohne dass bisher ein schwedisches Vorbild belegt werden konnte. Während der Bischofsvakanz nach Skyttes Tod 1550 konnte Agricola 1551 den Psalter übersetzen, um darin das Wechselgebet der Psalmen auch für die reformatorischen Pfarrer einzuschärfen. Im selben Jahr folgten in »Liedern und Weissagungen« noch die alttestamentlichen Cantica und ausgewählte prophetische Verheißungen im Blick auf die verheißene Zeit des neuen Bundes. Dieses Werk stand durch Beifügung des königlichen Wappens unter besonderem Schutz. 1552 ergänzte Agricola dies durch die Übersetzung der drei Propheten Haggai, Sacharja und Maleachi. Die Übersetzung der ganzen Bibel scheiterte schließlich an Geldmangel.
Agricola selbst urteilte über die von ihm geschaffene Schriftsprache, dass sie sich an die in Åbo zu kirchlichen Zwecken verwandte Sprache anlehnte, aber Finnisch kaum oder überhaupt nicht in Büchern oder Buchstaben benutzt worden war. Seine Arbeit ermöglichte das Halten finnischsprachiger Gottesdienste, wobei die Hymnen auf Latein zu singen waren. Dichterische Fähigkeiten gingen Agricola ab, seine Übersetzungen von Hymnen waren nicht singbar. Agricolas Hauptthema ist die Gebetserhörung. Auf der Basis des lutherischen Prinzips der Rechtfertigung aus dem Glauben suchte Agricola als guter Humanist den Missbrauch der evangelischen Freiheit als Gleichgültigkeit zu vermeiden. Pirinen schließt: Agricola »war kein revolutionärer Neuschöpfer, sondern ein melanchthonianischer Traditionalist, der darum bestrebt war, auf dem alten Grund aufzubauen.«
Die Heiligen sollten als Vorbilder, nicht jedoch als Nothelfer weiter verehrt werden. Scharf verurteilte Agricola alte vorchrist­liche Naturreligiosität, auf gleicher Linie aber auch die Verehrung von »Knochen« (Reliquien). Gut melanchthonisch wurde die Im­materialität Gottes festgehalten. Agricola beklagte, wie wenig die Predigt als Gelegenheit zur Lehre genutzt wurde. 1554 teilte Gustav Vasa vom Stift Åbo das Bistum Viborg ab, um die bischöfliche Macht zu provinzialisieren und zu schwächen. Die Domkapitel wurden reduziert. Agricola wurde in Åbo, Paul Juusten in Viborg Bischof. Agricola betonte seinen kirchlichen Machtanspruch durch die Be­nutzung der Mitra bei seiner Amtseinführung – sehr zum Ärger des Königs. Der Krieg mit Russland 1555 brachte fast alle Steuereinnahmen der Kirche in die Hände von Gustav Vasa und Herzog Johan, die in Åbo residierten. »Der höhere Pfarrerstand war auf diese Weise in Beamte verwandelt worden, die ihren Lohn von der Krone bekamen«, während die lokalen Pfarrer eine gewisse Selbständigkeit wahren konnten. Interessanterweise waren Erzbischof Laurentius Petri und Agricola 1556 auch die offiziellen Gesandten Gustav Vasas in den Friedensverhandlungen mit Russland. Bei der Rückkehr starb Agricola am 9.4.1557 in der Nähe Viborgs, wo er begraben wurde. Die Herausbildung von Schweden als Großmacht und Zentralstaat führte offenbar zu prästaatskirchlichen quasi byzantinischen Verhältnissen. Pirinen urteilt vorsichtiger: »Die Kirche war dabei, ihre frühere Stellung als Träger der höheren Kultur zu verlieren.«
Damit ist die Voraussetzung für die Darstellung der Entwick­lung nach der die Reformation bekräftigenden Versammlung von Uppsala 1593 hin zu einer lutherisch-orthodoxen Einheitskultur unter königlicher Vorherrschaft (Bd. 2, Kapitel 1–3; Pentti Laasonen) geschaffen, die mit dem Nordischen Krieg 1700–1721, dem »großen Unfrieden« (Kapitel 4), ihr Ende findet. Die Kapitel 5–7 schildern die von der schwedischen Aufklärung geprägte Entwick­lung hin zum Absolutismus des schließlich ermordeten Gustavs III. und seiner sog. zweiten Revolution 1789. Nach immer neuen Verlusten finnischen Territoriums an die russische Krone beginnt 1809 mit der Huldigung der Stände vor Zar Alexander I. in Borgå eine Periode finnischer Autonomie, die in den Grenzen des Großherzogtums eine nationalfinnische Einigung in vorher nicht ge­kanntem Ausmaß ermöglichte. Eino Murtorinne gliedert diese Periode in die Zeit der noch bestehenden und zwischen 1851 und 1880 zerfallenden Einheitskultur (Bd. 3, Kapitel 1–3). Die Erwe­ckungsbewegungen unter Paavo Ruotsalainen und Fredrik Gabriel Hedberg werden als Ausdruck der traditionellen Volksfrömmigkeit gewertet (Kapitel 2). Kapitel 4 skizziert den weltanschaulichen Umbruch in der Zeit von 1880–1900 mit der Abwendung vom traditionellen Christentum. Bd. 4 vom selben Autor orientiert sich an den politischen Revolutionen, die nach dem Mord an Generalgouverneur N. I. Bobrikov 1904 (Kapitel 1), der Unabhängigkeitserklärung 1917 mit nachfolgendem Bürgerkrieg (Kapitel 2) und dem Winter-, bzw. Fortsetzungskrieg 1939/40; 1941–44 gegliedert ist (Kapitel 3). Die Funktion der Kirche wird in Relation zu ihrer gesellschaftlichen Rolle bestimmt. Kapitel 2 etwa ist folgendermaßen überschrieben: »Die Kirche als das moralische Rückgrat des selbständigen Vaterlandes (1918–1939)«. Murtorinne löst sich damit von einer formalen Gliederung der Kirchengeschichte an­hand der Wirksamkeit leitender Persönlichkeiten zugunsten einer soziopolitisch ideebezogenen. Kapitel 4 »Die neue Volkskirchlichkeit und der Aufschwung des Neupietismus in der Kirche (1945–1973)« endet folgerichtig vor der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit 1974 in Helsinki als Auftakt zu einem neuen Europa, in dem auch die kirchliche Arbeit sich in einem internationalen Rahmen umorientiert. Nebenbei sei als Datum die Einführung der Frauenordination durch einen Synodalbeschluss 1987 notiert. Die enzyklopädische Darstellung wird durch ein knappes Verzeichnis der neueren, vor allem finnischen Literatur und ein Namenregister abgerundet. Eine englische Fassung dieser verdienstvollen Darstellung würde eine bisher international kaum beachtete nationale Kirchengeschichte noch weiteren Kreisen erschließen.