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Ausgabe:

Februar/2010

Spalte:

188-190

Kategorie:

Kirchengeschichte: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Hölscher, Lucian

Titel/Untertitel:

Semantik der Leere. Grenzfragen der Ge­schichtswissenschaft.

Verlag:

Göttingen: Wallstein 2009. 260 S. m. Abb. gr.8°. Lw. EUR 25,90. ISBN 978-3-8353-0408-6.

Rezensent:

Dirk Fleischer

Die in dem Band versammelten 13 Beiträge zur Theorie der Ge­schichte, die der Bochumer Neuzeithistoriker Lucian Hölscher seit dem Ende der 1980er Jahre verfasst hat, behandeln Grenzfragen der Geschichte. Die einzelnen Beiträge sind zu vier Problemkreisen zusammengefasst: Der erste Problemkreis behandelt die Genese der historischen Raum- und Zeitparameter seit dem Hochmittelalter, der zweite beleuchtet die Grenzen der Erinnerung und die Bedeutung des Vergessens für das historische Denken, der dritte untersucht die Entstehung und Bedeutung der Zukunft für die historische Erkenntnisarbeit und der vierte Problemkreis beschäftigt sich schließlich mit Geschichtsbrüchen im 20. Jh.
Der erste Beitrag, dem auch der Sammelband den Namen verdankt, untersucht die kulturelle Konstitution von Raum- und Zeitvorstellungen in Europa seit dem Hochmittelalter. H. greift mit dieser Thematik eine zentrale Frage jeder Geschichtserkenntnis auf, denn ohne eine konkrete Raum- und Zeitangabe kommt kein historisches Ereignis aus, d. h. Raum- und Zeitangaben sind für historische Erkenntnisleistungen konstitutiv. Heute hat sich das moderne Raum- und Zeitverständnis tief ins menschliche Bewusstsein eingeprägt. Mit Recht betont H. allerdings, dass dies nicht immer der Fall war, sondern erst allmählich entstanden ist. Raum und Zeit bildeten im Früh- und Hochmittelalter »noch keine homogenen und unendlichen Dimensionen menschlicher Welterfahrung, sie hatten viele Ausgangspunkte und meist auch nur eine geringe Ausdehnung« (15). H. verdeutlicht diesen Sachverhalt am Phänomen der Reisen im Mittelalter. In seinem um 1200 entstandenen Epos »Parzival« erzählte Wolfram von Eschenbach auch die Lebensgeschichte von Parzivals Vater Gahmuret, der durch Reisen seinen Lebensunterhalt verdiente. Auffällig ist bei diesen Reisen, die über weite Distanzen führen, dass über die Reisen selber nichts berichtet wird, d. h. der Weg wird ausgeblendet. Für H. ist dies keine bewusste Erzähltechnik, sondern die Konsequenz eines nicht ausgeprägten umfassenden Raum- und Zeit­bewusstseins. »Raum und Zeit lagen im Hochmittelalter noch unmittelbar um die Dinge und Ereignisse, sie hatten keine Exis­tenz für sich« (23). D. h., wenn sich nichts ereignete, wurde auch nichts erzählt. »Die Ordnung der Welt lag für die Zeitgenossen noch nicht in ihrer raum-zeitlichen Erstreckung, sondern in einer theologisch begründeten Konfiguration und Darstellung von Gottes Schöpfung« (24). Erst seit dem Spätmittelalter ist es dann zu einer semantischen Besetzung der zeitlichen und räumlichen Distanzen gekommen. Diese Besetzung der Distanzen lässt sich auch als Prozess einer Verräumlichung und einer Verzeitlichung sozialer Beziehungen beschreiben, die sowohl zur Grundlage der mo­dernen Weltdeutung als auch zur Voraussetzung der modernen Ge­schichtsschreibung geworden ist. Besondere Bedeutung kommt in diesem Prozess der Einführung der Null als Ausgangspunkt der Zahlenrechnung im 13. Jh. zu. Denn erst die Einführung der Null »eröffnete der geschichtlichen Zeitrechung die unendliche Weite des mathematischen Zahlenraumes« (29).
Im Beitrag »Bildraum und sozialer Raum« behandelt H. die im Laufe der Frühen Neuzeit zunehmende Kongruenz von geometrischen Bildräumen perspektivischer Darstellungen in der Kunst und dem Raum sozialer Szenen. Erst im späten 17. Jh. begründete das Axiom der Einheit von Raum und Zeit die »temporale Punktgenauigkeit«, die ein widersprüchliches Nebeneinander sozialer Szenen ausschloss, die in unterschiedlichen Zeiten stattfanden. In seinem aufschlussreichen Beitrag »Die Einheit der historischen Wirklichkeit und die Vielfalt der geschichtlichen Erfahrung« un­tersucht H. die theologischen Implikationen der modernen Ge­schichtstheorie. Hierzu gehört beispielsweise die Frage nach der Einheit der Welt. Er betont mit Recht, dass die Geschichtswissenschaft auf die Vorgabe einer Einheit der Welt nicht verzichten kann. Denn: »Würden wir darauf verzichten, so würde die Gewissheit in Frage gestellt, dass es sich, wie bei der unmittelbaren Wahrnehmung überhaupt, so auch bei der historischen Erinnerung an vergangene und der Erwartung von zukünftigen Dingen, ja selbst bei der methodisch reflektierten Rekonstruktion von objektiven Tatbeständen in der Vergangenheit um Realitäten handelt, die auch unabhängig von unserer unmittelbaren subjektiven Wahrnehmung existieren« (69). Kurz: Die Geschichtswissenschaft be­darf »einer Theorie der Geschichte, die ihre theologischen Im­plikationen nicht leugnet oder ausklammert, sondern produktiv weiter verhandelt« (77). H. hat allerdings Unrecht, wenn er schreibt, dass sich die Geschichtswissenschaft schon im 18. Jh. von der »starken Annahme der Existenz eines Gottes« (77) gelöst hat. Vielmehr hat der Gottesbegriff in der Geschichtswissenschaft lediglich eine Veränderung erfahren, die auch im klassischen Historismus lebendig blieb. Zu Recht ist diese Form des Historismus auch als Geschichtsreligion bezeichnet worden (Wolfgang Hardtwig).
Mit der Geschichte als Erinnerungskultur beschäftigt sich der nächste Beitrag. Zu Recht betont H. in diesem Zusammenhang, dass ein auf Erinnerungen aufgebautes Geschichtsbild die Einheit der Geschichte infrage stellt, denn wie eine Analyse des Begriffs Erinnerung zeigt, entwickeln sich historische Deutungen stets von unterschiedlichen Raum- und Zeitpunkten her mit der Konsequenz einer Vielzahl unterschiedlicher Deutungen der Vergangenheit. Zwei Fallstudien zur Deutung der nationalsozialistischen Verbrechen vertiefen die Reflexionen zum Thema Geschichte und Vergessen. Die Notwendigkeit des Vergessens ist für H. dabei unstrittig. Denn: Gingen wir »nicht stillschweigend davon aus, dass sich das historische Geschehen nicht in dem erschöpft, woran sich die Zeitgenossen erinnern, so wäre alle spätere Rekonstruktion an diesen Erinnerungen vorbei oder gar gegen sie ein müßiges Geschäft« (7).
Die vier Beiträge, die sich mit dem Zusammenhang von Zu­kunft und Vergangenheit in der Geschichte beschäftigen, erläutern die Bedeutung von Zukunftsentwürfen für die historische Er­kenntnisarbeit. Unstrittig ist, dass solche Vorstellungen eine er­hebliche Rolle bei der Rekonstruktion individuellen und sozialen Handelns besitzen. H. entwickelt daher zu Recht eine Theorie der geschichtlichen Zukunft. An diesen vergangenen Zukunftsvorstellungen lassen sich auch die Bauprinzipien der Geschichtsschreibung in ihrem Wandel ablesen.
Die letzten drei Beiträge thematisieren Geschichtsbrüche im 20. Jh. Dabei betont H. mit Recht das Zerstörungspotential von Zu­kunftsentwürfen. So fielen im 19. Jh. z. B. ganze Stadtteile der Notwendigkeit des Fortschritts zum Opfer. Dass Geschichtsbrüche unterschiedliche Deutungen zur Folge haben, ist heute unstrittig. Dies hat zur Folge, dass die Einheit der geschichtlichen Welt für H. infrage steht.
H. ist ein äußerst sympathisches Buch gelungen, das viel Originelles und Anregendes enthält und zum Nachdenken über die »Semantik der Leere« einlädt.