Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Februar/2010

Spalte:

186-188

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Wolter, Michael

Titel/Untertitel:

Das Lukasevangelium.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2008. XI, 798 S. gr.8° = Handbuch zum Neuen Testament, 5. Kart. EUR 49,00. ISBN 978-3-16-149525-0.

Rezensent:

Christfried Böttrich

Michael Wolter hat mit diesem Kommentar zum Lukasevangelium ein gewichtiges »Handbuch« vorgelegt, für das es gut und gern beider Hände bedarf! Es bietet nicht nur eine kompakte und (auch trotz der in den Text eingefügten Nachweise) gut lesbare Auslegung, sondern nimmt auch die längst uferlos gewordene Literatur in bemerkenswerter Fülle auf. Prägnant spiegelt sich darin die in­tensive Debatte wider, die in den letzten 20 Jahren um das Lukasevangelium geführt worden ist. Die Balance zwischen Konzentration einerseits und dem Anspruch umfassender Information andererseits erweist sich als einer der besonderen Vorzüge dieses Kommentars. Angesichts der heutigen Forschungslage hat er sich damit die Bezeichnung eines »Handbuches« auch trotz seiner knapp 800 Seiten ehrlich verdient!
In der Einleitung werden auf 33 Seiten (gefolgt von 20 Seiten Bibliographie) bereits die ersten Akzente gesetzt. Einen detaillierten Überblick über die handschriftliche Überlieferung verbindet W. mit einer Kritik der jüngeren Debatte um die Beziehung des Lukasevangeliums zu der Textform Markions: Die besseren Argumente sprechen nach wie vor für den sekundären Charakter der letzteren. Der Verfasser des Lk meldet sich nicht nur in den Vorworten (Lk 1,1–4/Apg 1,1), sondern auch in den »wir«-Stücken der Apg unmittelbar zu Wort; Differenzen zur paulinischen Theologie und Chronologie resultieren daraus, dass er Paulus nur zeitweise be­gleitet hat; ob dieser Begleiter ursprünglich Lukas hieß und ob er mit dem in Phlm 24 genannten Mitarbeiter identisch ist, steht auf einem anderen Blatt. Seine religiöse Sozialisation hat der Autor zweifellos in einem jüdischen Milieu erhalten. Im Blick auf die Datierung bedeutet das (einen Bezug des Lk auf Mk und das frühes­te Zitat des Lk bei Justin berücksichtigend) eine Platzierung am Beginn der 80er Jahre; das Evangelium ist dabei zunächst unabhängig von der Apostelgeschichte geschrieben und publiziert worden, wenngleich seine Struktur nur in einem grundlegenden konzeptionellen Zusammenhang beider Bücher verständlich wird. Für den Ort der Abfassung bleibt es lediglich bei einer Tendenz – wobei für Rom immerhin die meisten Indizien zu sprechen scheinen. Bei der Frage nach den Quellen argumentiert W. mit besonderer Sorgfalt und relativiert die allzu sicheren Rekonstruktionen abgrenzbarer Textbestände; für Q räumt er größere Grauzonen und Schnittbereiche ein; dem lukanischen »Sondergut« spricht er ab, auf einer in sich geschlossenen Sammlung zu beruhen, und beschreibt seinen Charakter überzeugend als den einer »Restkategorie«. Bei der Strukturierung des Evangeliums geht W. am deutlichsten eigene Wege – denn eine »Gliederung ist ... ein Text, den der Kommentator schreibt« (16 f.).
Nicht die großen, an geographischen Markierungen orientierten Sequenzen, die vor allem die Parallelität zu Mk und Mt herausstellen, sondern die Beobachtung verschiedener »er­zählerischer Sammelbecken« und ihrer internen Chronologie sowie eine konsequente Berücksichtigung des »episodischen Er­zählstiles«, der beide Teile des lukanischen Doppelwerkes prägt, bringen die eigenständige Architektur dieses Textes zur Darstellung. Im Ergebnis kommt es dabei zu zwölf großen Einheiten (ohne Vorwort), die am Beginn kleinteiliger erscheinen und in den Abschnitten des »Weges nach Jerusalem« (9,51–18,34) sowie von »Passion und Ostern« (22,1–24,53) dann ihre längsten durchkomponierten Passagen haben. Wichtig sind dabei die vielfachen Vernetzungen, die auf später Erzähltes vorausweisen, früher Erzähltes erinnern bzw. über den Beginn der Erzählung zurück in die Geschichte Israels führen.
In diesem Zusammenhang werden auch die sprachlich-stilistischen Eigenheiten des Lk sorgfältig zusammengestellt und belegt. Nach dem »intendierten Leser« fragt W. mit nachdrücklicher Kritik an jeder Form von »mirror reading«, das den Text überstrapaziert. Deutlich ist, dass Lukas nicht nur für einen engen Gemeindekreis schreibt, sondern »im Wissen darum, dass das Christentum bereits seit vielen Jahrzehnten eine über das gesamte römische Reich verteilte überlokale Größe ist« (25); zugleich rechnet er mit einer Leserschaft, der die heiligen Schriften Israels durchaus vertraut sind. Dass er seinem Selbstverständnis als Geschichtsschreiber gemäß zudem auch an kommende Generationen denken konnte, liegt nahe. Den theologischen Ort der Jesusgeschichte im lukanischen Doppelwerk beschreibt W. (jenseits der älteren Schemata) als »Epochengeschichte«. Das heißt, dass »Lukas auch schon in seiner Jesusgeschichte nichts anderes als einen weiteren Ausschnitt aus der Geschichte Israels erzählen will ...« (27). Diese Epoche, die in dem Begriff der »in unserer Zeit abgeschlossenen (πεπληροφορημένων) Ereignisse« (1,1) umrissen wird, beginnt mit der Heilsinitiative Gottes durch die Sendung seines Boten zu Zacharias und Maria (Lk 1) und endet mit der Begegnung zwischen Paulus und Agrippa II. (Apg 26); dem folgt schließlich noch Apg 27–28 als eine Art Epilog. Eingebettet ist diese Epoche in die umfassende Geschichte Gottes mit Israel, die in den Rückblenden der Missionsreden (etwa Apg 13) sowie in einer Reihe von eschatologischen Ausblicken (ebenfalls Apg) als der große gemeinsame Rahmen erscheint. Lukas schreibt demnach »eine Vorgeschichte seiner Gegenwart«, die zugleich als »Basis- oder Ursprungsgeschichte« fungiert und eine gemeinsame Hoffnung formuliert (29). Dabei ist zu beachten, dass Lukas diese Geschichte immer in der Ambivalenz von Annahme und Ablehnung des Evangeliums erzählt und somit die späteren Trennungsprozesse schon abbildet. Das führt schließlich zu einer kritischen Auseinandersetzung mit Käsemanns These von einer »Historisierung« der Jesusgeschichte durch ihre Einbindung in das lukanische Doppelwerk. Mit guten Argumenten begründet W., dass diese Epochengeschichte ein integraler Bestandteil des Kerygmas selbst ist.
Den Vorgaben der Reihe folgend verzichtet der Kommentar auf eine ausführliche Darstellung einzelner Motivlinien – sei es in Gestalt von Exkursen oder weiterer Einleitungspunkte. Thematische Sachverhalte kommen jeweils in der konkreten Auslegung zur Sprache. Was man an zeit-, religions- oder sozialgeschichtlichen Information erwartet, wird erschöpfend und dennoch überschaubar präsentiert. Die Auslegung selbst bewahrt sich bei aller Verpflichtung, den aktuellen Diskussionsstand zu referieren, stets einen originellen Zugriff auf den Text.
Was der Kommentar im Einzelnen bietet, lässt sich mittels Benutzung nachvollziehen. Deshalb verweisen die folgenden Schlaglichter lediglich auf wenige, ganz subjektiv ausgewählte Positionen des Autors. Für Lk 1–2 lehnt W. die beliebte Rede von einem »Diptychon« ab und erkennt in Lk 1,8–79 vielmehr eine Ringkomposition. Das Schweigegebot an die Dämonen in 4,41 erscheint als Ausdruck eines »lukanischen Messiasgeheimnisses«, das sich auch in der Verhörszene in 22,66–71 spiegelt. Die Goldene Regel in 6,31 steht nicht für Entsprechungsdenken, sondern gerade für dessen Durchbrechung. In der Salbungsgeschichte 7,36–50 liefert Lukas u. a. auch einen »Beleg für seine feinsinnige Ironie«. Der »Reisebericht«, den W. bis 18,34 reichen lässt, entzieht sich generell der Möglichkeit, ihm »eine distinkte theologische Darstellungsabsicht zuzuschreiben«. Immerhin gestattet seine dominante »Ortlosigkeit« auch eine Profilierung des exemplarischen Charakters der hier versammelten Überlieferungen! Pointiert erscheint das Memento, dass es sich bei der Geschichte von Maria und Marta weniger um eine »Frauengeschichte« als um eine »Jesusgeschichte« handelt.
Exemplarisch für den Duktus des Kommentars ist die Auslegung des Verlorenen Sohnes in 15,11–32, die ganz ohne alle Stereotypen auskommt. 16,8a markiert den Beginn der Kommentarworte zu dem Gleichnis vom ungerechten Verwalter. Die große Endzeitrede 21,5–36 zielt darauf ab, dass die intendierten Leser »in ihrer Identität als Heilsgemeinschaft vergewissert und dadurch stabilisiert werden sollen«. Im Passionsbericht finden sich verschiedene Auflistungen und Tabellen zur literarischen Beziehung der Erzählung mit Mk und Joh; Letzterer scheint Lk wohl gekannt zu haben. Hinsichtlich des lukanischen Mahlberichtes betont W. dessen Einheit. Die Einschätzung, »dass die Emmausperikope für den Plot der übergeordneten Erzählung keine Bedeutung hat« – gemessen an dem Stellenwert des »Theophanieausdrucks« ὤφθη in anderen Er­scheinungstraditionen (wie im unmittelbaren Kontext in 24,34) –, wäre indessen noch einmal zu befragen.
79 Jahre nach seinem Vorgänger im Handbuch zum Neuen Tes­tament (E. Klostermann, 21929) hat W. einen Kommentar geschrieben, der neue Maßstäbe setzt. Ihn abzulösen, wird wohl mindes­tens ebenso lange dauern.