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Ausgabe:

Februar/2010

Spalte:

183-185

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Smith, Craig A.

Titel/Untertitel:

Timothy’s Task, Paul’s Prospect. A New Reading of 2 Timothy.

Verlag:

Sheffield: Sheffield Phoenix Press 2006. XII, 267 S. gr.8° = New Testament Monographs, 12. Geb. EUR 80,00. ISBN 978-1-905048-29-8.

Rezensent:

Jens Herzer

Der Untertitel »A New Reading of 2 Timothy« der 2006 erschienenen Dissertation von Craig A. Smith, vormals Lecturer am Trinity College in Bristol (England), inzwischen Professor für Biblical Stud­ies am Sterling College in Kansas, lässt einen Rezensenten, der selbst einige neue Ansätze in der Pastoralbriefforschung verfolgt, mit hohem Interesse zu diesem Buch greifen. Ausgehend von einer literar- und formkritischen Analyse von 2Tim 4,1–8 soll gezeigt werden, dass es sich beim 2Tim und insbesondere bei 2Tim 4,1–8 im Unterschied zu der verbreiteten Auffassung nicht um einen testamentarischen Text bzw. um eine Abschiedsrede handelt, sondern um eine – wie S. es nennt – »charge«, gemeint ist damit ein ›streng autoritativer Befehl‹ (»emphatic autoritative command«, 227). Von daher soll die Aussageabsicht von 2Tim 4,1–8 bestimmt werden, um auf diese Weise die historische Situation des Briefes bzw. des Paulus besser zu verstehen. Die Frage nach der Autorschaft des 2Tim klammert S. bewusst aus, damit aber zugleich auch die Frage nach der rhetorischen und inhaltlichen Relevanz von möglicher pseudepigraphischer Fiktion, die in der gegenwärtigen Forschung eine wichtige Rolle spielt.
Das erste von insgesamt vier Kapiteln (4–25) ist der Darlegung von Entwicklung und Methodik der Literar- und Formkritik gewidmet, allerdings ausschließlich im Bereich der älteren Epistolographie- und Paulusbriefforschung (referiert werden A. Deißmann [1908], F. Exler [1924], P. Schubert [1939] und T. Mullins [1962 ff.]), und dient im Wesentlichen dazu, das methodische Vorgehen forschungsgeschichtlich zu kontextualisieren und damit offenbar die Legitimität der Einführung einer neuen literarischen Form zu begründen. Dabei misst S. insbesondere dem Aspekt der Struktur große Bedeutung bei, da er diese als »the best objective criterion« zur Formbestimmung eines Textes versteht. »Content and function are important in the determination of a literary form but they play a subordinate role to structure and serve only as a basis for determining a form« (25).
Im zweiten Kapitel (26–66) unternimmt S. den Versuch, die literarische Form der »charge« zu beschreiben und zu rekonstruieren sowie ihre Funktion sowohl im Neuen Testament als auch in außerneutestamentlicher Literatur griechischer und lateinischer Provenienz zu verifizieren. Auf eine ausführliche materiale Untersuchung der alttestamentlichen sowie der paganen griechischen und lateinischen Literatur verzichtet S. mit einem Verweis auf eine in Appendix A gebotene Liste, in der relevante Stellen präsentiert werden, die seiner Identifikation der fünf »basic elements« der Form »charge« entsprechen: »the Charge Verb« (z. B. διαμαρτύρο­μαι, παραγγέλλω, μαρτύρομαι, ἐνορκίζω, ἐξορκίζω, ὁρκίζω, κελεύω, ἐντέλλω, resp. dico, impero), »the Person Charged«, »the Authority Phrase«, »the Content of the Charge« und schließlich »the Implications of the Charge« (27–38). S. ist sich bewusst, dass solche Elemente auch in anderen Formen wie Dekreten, Anordnungen, Edikten, Mandatsbriefen, Beschwörungen etc. vorkommen, und macht daher in einem weiteren Abschnitt (38–64) deutlich, inwiefern sich die von ihm postulierte Form der »charge« davon unterscheiden lässt. Im Ergebnis definiert er »charge« als »an authoritative command or exhortation given from one party to another which demands the obedience of the reader« (38).
Mit diesen Voraussetzungen kann S. in Kapitel 3 (67–147) – aus seiner Sicht durchaus konsequent – den Nachweis führen, dass 2Tim 4,1–8 allen Elementen der postulierten literarischen Form der »charge« entspreche und somit nicht unter den Gesichtspunkten der Abschiedsrede oder der testamentarischen Verfügung zu interpretieren sei (vgl. 75–101). S. grenzt sich von früheren Arbeiten ab, die ebenfalls bereits mit dem Begriff »charge« gearbeitet haben, seines Erachtens jedoch zu sehr unter inhaltlichen Aspekten, wo­durch die Bedeutung der Form »charge« als Ausdruck eines »be­son­ders eindringlichen Befehls« sowie die Folgen für die Ge­samt­interpretation des 2Tim nicht erkannt worden seien (69). Im Ergebnis sei entscheidend, dass 2Tim 4,1–8 als »charge« zwar den Tod des Apostels als ständige und reale Bedrohung im Blick habe, dass aber Paulus sich dadurch nicht von weiteren Missionsplänen abhalten lasse (98) und daher ein besonders eindringlicher Befehl an Timotheus ergehen müsse, mit dem er diese Zukunftspläne gemeinsam verwirklichen wolle.
Hier deutet sich die eigentliche Intention der Auslegung von 2Tim 4 durch S. an, die keineswegs neu ist, aber mit seiner formkritischen Bestimmung neu begründet werden soll. Inhaltlich korrespondiert die strukturelle Analyse mit der Interpretation von 2Tim 4,1–8 insofern, als S. nicht – wie vielfach in der Forschung vorausgesetzt – davon ausgeht, dass hier vom bevorstehenden Tod des Paulus die Rede sei, sondern dass 2Tim 4,6 auf eine zu erwartende Freilassung und damit Fortsetzung des Missionswerkes gemeinsam mit Timotheus hinweise. Das ist – wie gesagt – nicht neu, aber an­gesichts der Grundthese der Untersuchung zwingend, da es sich unter diesen Umständen selbstverständlich nicht um ein Testament oder eine Abschiedsrede handeln kann. Wenn man wie S. ἀνάλυσις nicht als Todeshinweis, sondern als Freilassung aus dem Gefängnis verstehen will, löst die neue Formbestimmung als »charge« das bekannte Problem, dass es für diese Bedeutung von ἀνάλυσις in einem solchen biographischen, literarischen und semantischen Kontext keine plausiblen Belege gibt. Darüber hinaus werden die perfektischen Formulierungen in 2Tim 4,7 sowie die Rede vom bereitliegenden Siegeskranz und dem gerechten Gericht in V. 8 (vgl. 133–142) und nicht zuletzt der unbestreitbare Zusam­menhang mit der Semantik von Phil 1 von S. in ihrer Bedeutung deutlich unterschätzt. Es ist wenig überzeugend, wenn man jeden Begriff für sich analysiert und verschiedene Bedeutungsnuancen aufzeigen kann; letztlich kommt es auf das semantische Gesamtgeflecht an, welches die Bedeutung von Begriffen in ihrem Kontext definiert. S. konzentriert sich stattdessen auf eine Interpretation des Begriffes σπένδομαι als Metapher für das Zeugnis des Paulus während seines Prozesses, ohne jedoch auch hier die semantische Verflechtung im Kontext hinreichend zu beachten (vgl. den Appendix B, in welchem er mit Blick auf rituelle Vollzüge bei Nasiräergelübden argumentiert, der Dienst des Paulus sei »a lifelong Nazirite vow in dedication to God« gewesen, 237 f.).
In Kapitel 4 (148–225) schließlich wird der Text einer recht ausführlichen pragmatischen bzw. rhetorischen Analyse unterzogen und gefragt, wie die Form der »charge« im Genre des Briefes ›funktioniert‹ und was unter dieser Voraussetzung über die historische Situation erschlossen werden kann. Im Anschluss an die Ergebnisse von Kapitel 3 erhebt S. für 2Tim 4,1–8 einen deliberativen Charakter, der darauf abziele, »to exhort Timothy to continue his present course of action into the future so that he may be rewarded« (197). »The charge in 4.1–8 serves to summarize the role of a good Christian minister and the letter in order to give Timothy one final exhortation to keep on persevering now in Ephesus and then again when they minister together« (224). Es geht folglich nach S. in 2Tim 4,6–8 auch nicht primär um Paulus, sondern um Timotheus und den Ausblick des Apostels auf eine weitere Phase des gemeinsamen Dienstes.
Neben der Skepsis, ob die These von S. trotz der internen Stringenz seiner Argumentation tatsächlich der Forschung am 2Tim neue Impulse geben wird, bleibt am Ende noch eine grundsätzliche Frage: Darf man tatsächlich Struktur und Inhalt eines Textes so scharf trennen, um einer auf die Struktur abhebenden literarkritischen These gerecht zu werden, die dann wiederum das inhaltliche Verständnis des Textes bestimmt? Genau dies ist das Vorgehen von S., das damit – um es vorsichtig auszudrücken – methodisch problematisch erscheint. Ich muss gestehen, dass ich nicht sehe, dass die Konstruktion der Form einer »charge« tatsächlich etwas zum besseren, neuen Verstehen von 2Tim 4,1–8 und damit zugleich der historischen Situation des 2Tim beiträgt. S. hat sicher Recht, wenn er betont, dass die Identifikation testamentarischer Elemente aus einem Text noch kein Testament macht; insofern hat sich der 2Tim in seiner Komplexität dieser Engführung bisher stets widersetzt. Darin liegt zweifellos auch der Wert der vorliegenden Studie. Sie macht einmal mehr deutlich, wie sehr es bei der Beurteilung von Texten wie dem 2Tim darauf ankommt, das Ineinanderfließen verschiedener Formelemente zu evaluieren und diese als Indizien nicht nur für einen literarisch geschickt arbeitenden Autor, sondern als Ausdruck einer lebendigen und aktuellen rhetorischen Situation zu verstehen. – Zudem ist es für einen deutschen Rezensenten nicht möglich, auf den Hinweis zu verzichten, dass S. die deutschsprachige Pastoralbriefforschung der letzten 30 bis 40 Jahre in seiner Untersuchung vollständig übergeht. Es sei zugegeben, dass man inzwischen kaum mehr alle Sekundärliteratur rezipieren kann, aber in diesem Fall wird man trotz einer durchaus anregenden, wenn auch letztlich nicht völlig überzeugenden These feststellen müssen, dass die Studie weder dem älteren noch dem aktuellen Stand der Pastoralbriefforschung gerecht wird.