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Ausgabe:

Februar/2010

Spalte:

174-175

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Combet-Galland, Corina, Cuvillier, Élian, Dettwiler, Andreas, Dupont-Roc, Roselyne, Kaestli, Jean-Daniel, Marguerat, Daniel, Redalié, Yann, Schlosser, Jacques, Vouga, François, et Jean Zumstein

Titel/Untertitel:

Introduction au Nouveau Testament. Son histoire, son écriture, sa théologie. Sous la direction de D. Marguerat. Quatrième édition revue et augmentée.

Verlag:

Genève: Labor et Fides 2008. 547 S. 8° = Le Monde de la Bible, 41. Kart. EUR 40,00. ISBN 978-2-8309-1289-0.

Rezensent:

Ingo Broer

Das bereits in ThLZ 127 [2003], 292–295, besprochene, im Jahr 2000 erstmals erschienene Sammelwerk verschiedener französisch-sprachiger Autoren liegt inzwischen in 4. Auflage vor. Diese ist nicht nur durchgesehen, sondern erneut erweitert worden, nachdem auch schon in der 3. Auflage (erschienen 2004) ein Kapitel zum Text des Neuen Testaments und seiner Geschichte hinzugefügt worden war. Darüber hinaus sind in beiden Auflagen die Bibliographien aktualisiert und einige Texte auf den neuesten Stand gebracht worden.
Dass die Behandlung des neutestamentlichen Textes und der Textgeschichte zu einer Einleitung in das Neue Testament gehört, wird man nicht gut bestreiten können, obwohl ›Text‹ und ›Textgeschichtesich inzwischen zu eigenen Gebieten mit speziellen Handbüchern entwickelt haben. Dementsprechend findet sich in den neueren deutschen Einleitungen ins Neue Testament hin und wieder ein Kapitel zum Text und zur Textgeschichte, häufig aber auch nicht. In die 4. Auflage dieses Werkes ist nun ein Kapitel über »Jesus in den Evangelien« ein­gefügt worden. Die Rezension kann sich auf dieses Kapitel be­schränken.
Man kann durchaus der Ansicht sein, dass eine Abhandlung zum (historischen?) Jesus kaum notwendig in eine Einleitung in das Neue Testament gehört, und man kann auch bei dieser Ansicht bleiben, wenn man das Ziel der Einleitungswissenschaft bzw. dieses Werkes mit den Worten umreißt, wie es der Herausgeber D. Marguerat in seinem Vorwort tut: Das Werk solle »les elements indispensables pour situer les écrits fondateurs du christianisme dans leur milieu historique de production« bieten. Aber Marguerat, von dem dieses neue, 20 Seiten umfassende Kapitel verfasst worden ist, reagiert damit auf Fragen und Forderungen der Benutzer dieses Buches, und die Fragen, auf die er mit diesem Kapitel antwortet, sind in der Tat »Einleitungsfragen«, jedoch solche besonders schwieriger Natur: »comment saisir le parcours de la tradition depuis la vie de Jésus jusqu’à sa consignation écrite? Où, par qui et pour répondre à quels besoins la mémoire de Jésus s’est fixée, oralement d’abord, puis littérairement?«
Marguerat stellt drei gängige Modelle vor, wie sich die Überlieferung entwickelt haben bzw. wie es zu dieser gekommen sein könnte, und entscheidet sich für das formgeschichtliche, unter stärkerer Berücksichtigung der Redaktionstätigkeit der Evangelis­ten. Dementsprechend sind die sozialen Orte der Gemeinde, der Kult, die Katechese, die Missionsverkündigung und das Gespräch mit der Synagoge, die Kristallisationspunkte, an denen sich die Tradition bildet und sammelt. Zwar lassen sich Semitismen in den Evangelien-Worten finden, aber dass diese Worte deswegen von Jesus selbst stammen, lässt sich nicht beweisen. Die Tatsache, dass die Urgemeinde kein Interesse an der historischen Konservierung der Worte und Taten Jesu hatte, hängt damit zusammen, dass dieser für sie kein Verstorbener, sondern ein in ihrer Mitte Weilender war. Aus der Tatsache, dass für die an Jesus Glaubenden der irdische Jesus und der erhöhte identisch waren, resultiert auch die Dialektik der doppelten Tendenz in der Tradition, nämlich zum einen, Worte und Taten Jesu zu bewahren, und zum anderen, diese für die Gegenwart der Gemeinde fruchtbar zu machen und sie deswegen zu aktualisieren. Des Weiteren stellt Marguerat die literarischen Gattungen in den Evangelien vor und findet dabei unter anderem in der Passionsgeschichte eine sehr frühe kontinuierliche Erzählung, die wahrscheinlich in der Jerusalemer Urgemeinde entstanden ist und deren nachträgliche Ergänzungen noch deutlich zu identifizieren sind. Die Behandlung der Frage, warum es überhaupt zu einer schriftlichen Fassung der ursprünglich mündlich überlieferten Traditionen gekommen ist, schließt das Kapitel ab.
Ob es die von Marguerat genannte Tendenz zur historischen Bewahrung der Worte und Taten Jesu wirklich gegeben hat, wird man mit Fug und Recht fragen dürfen; spiegelt sich in Fragestellung und Antwort nicht eher ein modernes, denn ein antikes Interesse? Jedenfalls können wir heute nicht mehr so denken wie die antiken Menschen, die historische und mythische »Fakten« offensichtlich ohne Probleme zusammen denken konnten, wenn man zum Beispiel an die allgemein bekannte Tatsache denkt, dass Philipp, der Vater des Alexander, sein Auge durch einen Pfeilschuss verloren hatte, und dass dennoch erzählt werden konnte, er habe dieses beim unziemlichen Blick durch das Schlüsselloch in das Schlafzimmer seiner Frau verloren. Insofern ist sehr die Frage, ob es in der Antike auch nur dem modernen historischen Denken entfernt ähnliche Reflexionen gegeben hat, ob es also eine Tendenz in der Tradition gab, »Worte und Taten Jesu zu bewahren«, oder ob solche uns als »Bewahrung« erscheinende Tendenz eher darin begründet ist, dass die Ge­meinde keine Notwendigkeit verspürte, die entsprechenden Worte zu verändern bzw. im Überlieferungsprozess ihren Bedürfnissen anzupassen. Aber dass dieses neue Kapitel nicht nur interessante Fragestellungen aufnimmt, sondern auch sehr schön in die Probleme einführt, steht keinesfalls in Frage.
Das Werk hat sich in der französischsprachigen Welt längst als Standardwerk etabliert.