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Ausgabe:

Februar/2010

Spalte:

167-168

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Schmidt, Werner H.

Titel/Untertitel:

Das Buch Jeremia. Kapitel 1–20. Übersetzt u. erklärt v. W. H. Schmidt.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008. XVIII, 340 S. gr. 8° = Das Alte Testament Deutsch, Teilbd. 20. Kart. EUR 59,90. ISBN 978-3-525-51243-2.

Rezensent:

Christl M. Maier

Nach jahrzehntelanger Beschäftigung mit Jeremia und mehreren Dissertationen zum Jeremiabuch, die unter seiner Ägide entstanden sind, legt der Vf. einen erstaunlich kompakten Kommentar vor, wie ihn nur ein ausgesprochener Kenner der Materie zu schreiben in der Lage ist und der – entsprechend den Vorgaben der Reihe – auch für der hebräischen Sprache nicht Kundige verständlich ist. Mit Blick auf den intendierten Leserkreis ist das Ziel der Auslegung weniger die Literargeschichte als vielmehr die Profilierung der Prophetengestalt und ihrer Botschaft in Abgrenzung zur übrigen Schriftprophetie. Werden andere Exegeten gelegentlich zustimmend zitiert, so unterbleibt allerdings eine Auseinandersetzung mit gegenwärtigen konträren Forschungsthesen. Hinsichtlich des komplexen Verhältnisses von Masoretischem Text und Septuaginta spricht sich der Vf. für eine Prüfung im Einzelfall aus, die im Kommentarteil jedoch nur an Stellen mit gravierenden Differenzen notiert ist, da die textkritischen Anmerkungen zur Übersetzung insgesamt nur wenig Raum einnehmen.
Das äußerst knappe, nach Themen gegliederte Literaturverzeichnis ist dem Kommentar vorangestellt und enthält überwiegend deutschsprachige Titel. Die Einleitung behandelt in Kürze Wirkungszeit, Person und ›geistige Heimat‹ Jeremias, Redeformen und Themen der Verkündigung und erörtert die These des Vf.s zur Entstehung des Buches (1–41). Die fortlaufende, in Sinnabschnitte gegliederte Auslegung von Jer 1–20 basiert auf der Übersetzung des hebräischen Textes durch den Vf. Da Einleitung und Einzelauslegungen miteinander korrespondieren, wird im Folgenden das vom Vf. gezeichnete Gesamtbild mit Rekurs auf Beispieltexte referiert.
Ingesamt vertritt der Vf. eine traditionelle Position: Er hält an der sog. »Frühzeitverkündigung« während Josias Regierungszeit fest (vgl. Jer 2,14 f.16.18.23 ff.36; 3,12; 30 f.*), betont jedoch, dass es keine eindeutige Äußerung Jeremias zur josianischen Reform gebe. Die Aufnahme von Motiven und Theologumena aus Amos und Hosea führt der Vf. auf Jeremias Herkunft aus Anatot, dem Grenzgebiet zum Nordreich, zurück, ohne eine literarische Abhängigkeit anzunehmen. Der Kommentar verweist häufig auf Amos- und vor allem Hoseatexte im Sinne einer dem Propheten Jeremia bekannten vorgängigen Überlieferung, ohne freilich innerhalb dieser prophetischen Schriften literargeschichtlich zu differenzieren. Als wichtige Themen jeremianischer Verkündigung nennt der Vf. die Forderungen nach Ausschließlichkeit des JHWH-Glaubens sowie nach Redlichkeit im gesellschaftlichen Umgang miteinander und den Aufweis einer Schuldgeschichte des Volkes. Im Gegensatz zu seinen Zeitgenossen nehme Jeremia die gesellschaftliche Situation als nicht ›heil‹ wahr, konkret als Verborgenheit Gottes, die der Prophet auch in der Anfechtung seiner Person erkenne; Jeremia halte aber an Gottes Willen zum Heil fest, das sich freilich – entgrenzt von Königtum und Land – als »schlichtes Leben ... im gewährten Lebensraum« (26) entfalte. Die Themen jeremianischer Verkündigung werden dem Vf. zufolge durch die Vorstellung des göttlichen Wortes zusammengehalten, das je zur bestimmten Zeit ergehe, den Propheten umtreibe, aber auch ausbleiben könne. So biete das Buch eine Theologie des Wortes Gottes, die bereits in der ältesten Überlieferung angelegt sei (26–28).
Im Blick auf die Literargeschichte geht der Vf. von Jer 36 aus: Das Jeremiabuch enthalte ursprünglich mündlich verkündete, in Höraufrufen und Selbstberichten noch erkennbare Worte des Propheten, die auf dessen Anregung hin schriftlich fixiert und thematisch verdichtet wurden, um sie angesichts der Ablehnung seiner Botschaft für die folgenden Generationen zu bewahren (29 f.). So rechnet der Vf. den Selbstbericht über die Berufung (Jer 1,4–9) zur »Urrolle« und führt die literarischen Parallelen in 1,7b.9b zu Dtn 18,18 – entgegen der neueren Forschung – auf die Abhängigkeit des Prophetengesetzes von Jer 1 zurück. Er hält somit an der These der »Urrolle« fest, die den Kern von Jer 1–6 beinhaltet habe, allerdings in einer Zweitfassung vorliege (vgl. Jer 36,32). Er konturiert den Propheten und den Streit um seine Gerichtsbotschaft unter Aufnahme der in den Konfessionen genannten Inhalte. Die Konfessionen seien schon vorexilisch mit den ebenfalls von Jeremia stammenden Selbstberichten verbunden worden (35). Auch die bisher meist als Baruchbiographie bezeichneten Fremdberichte stellen dem Vf. zufolge keine eigenständige Quelle dar, sondern setzen bereits die »Urrolle« voraus und schreiben sie fort (35, im Anschluss an die Dissertation A. Graupners). Die exegetische Begründung dieser These fällt für Jer 20,1–6 sehr knapp aus (330) und bleibt dem zweiten Band vorbehalten. Der Beitrag der exilischen, jeremianisch-deuteronomistischen (= jerdtr) Redaktion sei in der Gliederung der vordtr Überlieferung aus Wortsammlung, Selbst- und Fremdberichten durch ein Überschriftensystem und der Stilisierung Jeremias zum Umkehrpropheten zu erkennen, der freilich nicht ge­hört wurde (vgl. Jer 36,3.7.31) und dessen Prosareden (Jer 7,1–8,3; 11; 18; 21; 22; 25; 34,8–22; 35) Forderungen des Deuteronomiums aufnehmen.
Der Vf. schließt sich dem Nachweis dtr Phraseologie durch W. Thiel an, hält aber, anders als dieser, die jerdtr Redaktion für mehrschichtig (entsprechend der These einer dtr Schule) und somit jüngere Ergänzungen im Dtn für wahrscheinlich, die ihrerseits an das Jeremiabuch anschließen (37.39). In der Tempelrede isoliert der Vf. einen »Überlieferungskern« in Jer 7,4.(8a).9a.10a.11.12.14, in dem Jeremia die Kultkritik von Amos, Hosea und Micha verschärfe und gegen die Zionstheologie argumentiere. Die jerdtr Redaktion vertiefe diese »innere Religionskritik« Jeremias (181) mit Blick auf die Opfer für JHWH und weite sie auf die Kritik anderer Kulte und Gottheiten aus. Die Bundesrede Jer 11 sei erst im Exil formuliert worden, knüpfe aber formal und inhaltlich an Jeremias Verkündigung an (227). Im Anschluss an die jerdtr Redaktion rechnet der Vf. schließlich mit weiteren punktuellen Ergänzungen unterschiedlicher Provenienz: 1. weisheitlich-verallgemeinernde Zu­sätze (Jer 17,5–8.9; 9,22 f.); 2. Gebete und Schuldbekenntnisse aus gottesdienstlichen Kontexten (Jer 3,21–25; 8,14b.15; 14,19 f.); 3. post-dtr Nachträge (Jer 10) und 4. Völkersprüche (Jer 46 ff.).
Da der Vf. die Mehrzahl der Verse in Kapitel 1–20 auf Jeremia selbst zurückführt, kann er ein anschauliches Bild des Propheten im Streit um seine Gerichtsbotschaft zeichnen sowie motivliche und literarische Bezüge zu den anderen Prophetenbüchern herausstellen. Es bleibt abzuwarten, ob der Vf. seine literargeschichtliche Maximalthese auch hinsichtlich Jer 21–52 begründen kann. Auffällig ist, dass er an exegetisch strittigen Punkten häufig auf die literarische Form der Frage zurückgreift und so eine eindeutige Positionierung vermeidet bzw. seine traditionelle Sicht rhetorisch in den Vordergrund stellt. Der Verzicht auf die Diskussion mit der neueren Jeremiaforschung erscheint daher weniger dem Konzept der Reihe und ihrem Adressatenkreis geschuldet als eine bewusste Entscheidung für eine Position, die sich der Vf. während seiner langjährigen und ertragreichen Forschungstätigkeit erarbeitet hat und die er offenbar bewusst im Rahmen eines Kommentars noch einmal zur Diskussion stellt. So eingängig diese Auslegung für den Adressatenkreis der Reihe Altes Testament Deutsch auch sein mag, in Fachkreisen wird sie aufgrund ihrer literargeschichtlichen These wohl kaum konsensfähig sein.