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Ausgabe:

Dezember/1996

Spalte:

1200–1203

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Maurer, Alfons V.

Titel/Untertitel:

Homo Agens. Handlungstheoretische Untersuchungen zum theologisch-ethischen Verständnis des Sittlichen

Verlag:

Frankfurt/Main-Berlin-Bern-New York-Paris-Wien: Lang 1994. 433 S. 8° = Forum interdisziplinäre Ethik, 8. DM 108,­. ISBN 3-631-46618-8.

Rezensent:

Andreas Arndt

Die Rede vom "Homo agens" im Titel dieser bei Gerfried W. Hunold in Tübingen entstandenen Dissertation setzt sich, ohne daß dies ausdrücklich gemacht wird, vor allem der anthropologischen Bestimmung des Menschen als "Homo faber" entgegen, sofern sie die im Thomismus verfestigte aristotelische Unterscheidung von praxis und poiesis (bei Thomas agere und facere) affirmativ aufnimmt und das facere als "ein außersittliches Schaffen", das agere hingegen als "sittliches Handeln" verstehen will (61). Das Handeln sei, so die leitende These des Vf.s, "das zentrale Medium..., in dem Menschen ihre moralischen und sittlichen Überzeugungen ausbilden, erfahren und vermitteln" (13). Eine besondere Bedeutung komme ihm dadurch zu, daß im "konkreten Handlungsvollzug... individuelles und kollektives moralisches Bewußtsein aufeinander bezogen" blieben; die Handlung sei "Produkt des Individuums und der Umwelt" und lasse sich "nicht einseitig auf einen dieser beiden Bereiche zurückführen" (24). An dieser Vermittlungsfunktion der Handlung ist dem Vf. besonders deshalb gelegen, weil in der Gegenwart die "Sinntotalitäten" im Sinne weithin fraglos geltender "übergreifender Sittenordnungen" und "Weltanschauungen", an denen das Individuum sein Handeln orientieren könnte, zerbrochen seien (vgl. 34). Die Subjekte müßten daher ihre Identität im Handeln allererst ausbilden; sie seien dabei zwar nicht völlig orientierungslos, wohl aber hätten sie es mit konkurrierenden partikularen Sinnangeboten zu tun (35). Die Hoffnung des Vf.s angesichts dieser "Sinnkrise" geht dahin, aus dem Verständnis der Struktur sittlichen Handelns als "des Vollzuges ethischer Sinndimensionen" (36) sittliche Maßstäbe zu gewinnen, die dem Handeln immanent und durch dessen eigene Rationalität vor subjektiver Beliebigkeit geschützt sind.

Für dieses Unternehmen soll ein moraltheologisch fundierter Handlungsbegriff fruchtbar gemacht werden, wie er in Thomas von Aquins Handlungstraktat in der Summa theologiae vorliege, der im Mittelpunkt des ersten Kapitels steht. Der Vf. sieht die Aktualität der thomistischen Handlungstheorie in ihrer Komplexität und "Multiperspektivität" (46) begründet und hebt besonders drei Momente hervor: die Einbeziehung der "vitalen Struktur des Menschen"; die Anerkennung der (praktischen) Vernunft "als Ordnungs- und Gestaltungsinstanz der Handlung" und schließlich "die Art der theologischen Verankerung der Handlungslehre" (63). Dem stünden Defizite in der empirischen Erfassung von Handlungen, die so nicht mehr nachvollziehbare Annahme einer verbindlichen Sinntotalität und ein Mangel im Handlungsbegriff selbst entgegen, nämlich seine "subjektivistische Verkürzung" durch die "Priorität des Willens" (71). In der Auseinandersetzung mit gegenwärtigen Handlungstheorien und grundlegenden Ansätzen "von Aristoteles bis Habermas" (86 ff.) wird der Handlungsbegriff weiter präzisiert und im zweiten Kapitel auf die Problematik des Sollens bezogen.

Hier unterscheidet der Vf. zwischen dem moralischen und dem sittlichen Sollen: ersteres beruhe auf äußeren, sozialen, letzteres auf inneren Verpflichtungen und Sanktionen (129). Hierin komme eine Differenz von "Verpflichtung und Begründung" zum Ausdruck; es gebe keine Hoffnung auf ein einziges, rational ausweisbares ethisches Prinzip, das beides in sich enthalte: "Will sittliches Handeln gelingen, hat neben die intersubjektive Begründung die subjektive Selbstverpflichtung zu treten" (131). Diese ergebe sich nicht aus einer Reflexion allgemeiner moralischer Prinzipien, da Handeln immer als situationsbestimmte "Antwort auf eine praktische Frage" (137 ff.) zu verstehen sei. Das bedeute vor allem, daß die Komplexität der Handlung es verbiete, ihre Realisation auf eine subjektive Planung oder Zwecksetzung zurückzurechnen und so von einer autonomen, rationalen Willensbestimmung her zu verstehen (138). Die Legitimation der Handlung erfolge durch eine von ihr selbst ­ auch in ihrer Situationsgebundenheit ­ nicht zu lösende, bewertende bzw. rechtfertigende Reflexion, die sich in drei Stufen vollziehe, indem sie individuelle, transsubjektive und universelle Kriterien zur Geltung bringe (146).

Vor diesem Hintergrund wird im dritten Kapitel Handlung "als Geschichte" bestimmt. Anknüpfend an Überlegungen Hegels (vgl. 146, 162 ff.), aber auch Autoren der Gegenwart (u. a. Tugendhat, Böhler und Schwemmer), profiliert der Vf. in einer kritischen Auseinandersetzung mit Kant "ein Handlungsverständnis, das weder die anthropologische Struktur noch die ethische Dimension der Handlung reduktionistisch begreift" (166). Daß die sittliche Handlung als Geschichte zu verstehen sei, besagt, sie sei angemessen nur in der "Dialektik von Handeln und Reflexion", dem "ständigen Austausch von realer und möglicher Handlungswelt" zu begreifen (181). Was der Handelnde wolle und tue, stelle sich erst im Handeln selbst heraus, sofern seine Intentionen auch durch die "Widerständigkeit des Faktischen" in der Handlung selbst modifiziert würden; das bedeute auch, daß die Rationalität und Sittlichkeit der Handlung, auf die sich die Reflexion richte, durch solche situativen Bedingungen mitbestimmt sei (167). Das Sittliche selbst hat daher seine Geschichte und bildet sich heraus in einer solchen Dialektik von Handeln und Reflexion (180).

Das Konzept "Handeln als Geschichte" wird erprobt und differenziert in dem konstruktiven "Entwurf eines kombinatorischen Handlungsmodells«, dem das vierte, umfänglichste Kapitel der Untersuchung gewidmet ist (183-381). Der Vf. integriert philosophische, theologische und einzelwissenschaftliche Aspekte, um die "Polydimensionalität" und Geschichtlichkeit des Handelns zu begründen und auch im Blick auf empirische Voraussetzungen näher zu bestimmen; der Aufbau einer einheitlichen Handlungstheorie nach dem Vorbild Parsons wird dabei jedoch nicht erstrebt (vgl. 17). Vielmehr geht es dem Vf. darum, die ethische Reflexion mit der empirisch gerichteten Handlungsforschung ins Gespräch zu bringen. Dabei werden fünf "Handlungsdimensionen" unterschieden: die biologische, die soziokulturelle, die psychologische, die identitätsbildende und die symbolisch-transzendentale. Die psychologische Dimension nimmt dabei den breitesten Raum ein, denn: "Der Handelnde als Person bildet den Dreh- und Angelpunkt jeder Handlungstheorie, er integriert in seinem Vollzug biologische Dispositionen und soziale Ansprüche, stellt Bezüge zur eigenen Identität und zu übergreifenden, gegebenenfalls religiösen, Deutungskonzepten her" (17). Ethisch und moraltheologisch von Bedeutung ist hierbei vor allem der Befund, daß Grund- und Vorentscheidungen nicht gegenüber dem Handlungsvollzug isoliert werden können, die Handlung sich mithin auch nicht auf eine Intention des Handelnden zurückführen und als "Umsetzung von Motiven" rekonstruieren lasse (vgl. 329 f.). Eine im weitesten Sinne sittliche Bindung des Handelns lasse sich daher auch nicht durch normative Festlegungen von Intentionen erreichen, sondern nur durch reflexive Selbstvergewisserungen, in denen der Einzelne sein Handeln am Maßstab gelingender personaler Identität und transsubjektiver Deutungsmuster bewertet und ihm Sinn und Bedeutung verleiht.

Die kurzen Schlußüberlegungen im fünften Kapitel fassen Ertrag und leitende Thesen der Untersuchungen prägnant zusammen; der Epilog schließlich deutet die "Vision" eines dritten Weges "zwischen aristotelischer und Kantischer Ethik" an: eine "Ethik des offenenen Diskurses«, in welcher "der Homo Agens Hilfe bei der Gestaltung und Bewahrung seines Lebensraumes und Begleitung auf seinem Weg zu sich selbst finden" könne (405).

M.s Untersuchungen reflektieren umfassend und informiert den gegenwärtigen Diskussionsstand zur Ethik und nehmen darüber hinaus auch breit zur Kenntnis, was die empirischen Wissenschaften zum Thema beizutragen haben. Besonders hervorzuheben sind die Ausführungen zur psychologischen Handlungsdimension, auf deren Material- und Perspektivenreichtum hier nur pauschal hingewiesen werden kann. Auch M.s Leitthesen, daß Sittlichkeit sich nur im Blick auf situativ bedingte Handlungsvollzüge bestimmen und diese sich nicht von den Intentionen der Handelnden her zureichend begreifen lassen, vermögen zu überzeugen. Der auf dieser Grundlage ausgearbeitete Entwurf eines kombinatorischen Handlungsmodells stellt nicht nur eine konstruktive Leistung dar, er trägt vor allem auch zur Ernüchterung gegenüber den vielfach hochgespannten Erwartungen an eine Sinnstiftung durch ethische Diskurse bei.

Die Aporie des Verhältnisses von Begründung und Verpflichtung, die gegenwärtig in einer Krise der Ethik zum Bewußtsein kommt, bleibt auch bei M. letztlich unaufgelöst, sofern er nur zeigen kann, daß Handlung und Reflexion sich wechselseitig vermitteln, ohne ineinander aufzugehen, auf welchem Wege allgemein verbindliche Normen nicht zu gewinnen sind. M.s Untersuchungen können jedoch plausibel machen, daß die Hoffnung auf eine Auflösung der Aporie auf falschen Annahmen hinsichtlich der Struktur von Handlungen beruht. Was bleibt, ist für den Rez. eine Bescheidung der Ethik auf pragmatische Orientierungsleistungen. Dabei können zwar universelle und transzendentale Sinndimensionen einbezogen werden, deren Geltung jedoch problematisch bleibt.

Zu Recht betont M. den unwiderruflichen Verlust von "Sinntotalitäten", greift aber m. E. bei der historischen Situierung dieses Befundes und damit auch der Handlungsproblematik zu kurz. Nicht erst die "kritische Wahrnehmung der Nicht-Relevanz... normativer Ethik" in der gegenwärtigen Situation läßt den Handlungsbegriff in den Mittelpunkt rücken (25). Diese negative Fixierung auf ein normatives Ethik-Konzept verstellt dem Vf. vielfach die historische Perspektive. Hegels Unterscheidung von Moralität und Sittlichkeit etwa, die bis in die Gegenwart einen Rahmen für die Diskussion normativer Konzepte bildet, bleibt für M.s Überlegungen folgenlos. Nicht berücksichtigt wird auch die ethische Dimension der sozial- und geschichtsphilosophischen Konzepte der neueren Philosophie, besonders der französischen und englischen Aufklärung und des deutschen Idealismus. Dort wurden, ausgehend von dem der Moderne zugrundeliegenden "Recht der Besonderheit" (Hegel), Vermittlungen zum Sittlich-Allgemeinen durch individuelle Handlungsvollzüge und ihre Bedingungen in den Mittelpunkt der Reflexion gerückt. Vor allem im Umkreis des deutschen Idealismus ­ und keineswegs nur bei Hegel allein ­ werden dabei die Begriffe des Handelns und Produzierens umfassend erörtert, wovon sich in M.s Ausführungen nur ein schwaches Echo findet. So entgeht ihm auch eine ethische Theorie, die nicht nur ausdrücklich den Handlungsbegriff ins Zentrum stellt, sondern auch in moraltheologischer Perspektive von besonderer Bedeutung ist: die philosophische Ethik und christliche Sittenlehre Friedrich Schleiermachers.

Die Auseinandersetzung mit diesen Traditionsbeständen hätte auch zu Zweifeln an der undiskutiert bleibenden systematischen Vorentscheidung beitragen können, den Handlungsbegriff auf das agere einzuschränken. Die strikte Unterscheidung von sittlichem Handeln und herstellendem Tun steht der mit dem Konzept "Handlung als Geschichte" angestrebten Einbeziehung basaler Handlungsbedingungen entgegen. Die erwähnte "Widerständigkeit des Faktischen" findet sich gerade in Arbeitsprozessen an den Mitteln und Gegenständen, und gerade diese sind nicht auf subjektive Zwecksetzungen zurückzurechnen (vgl. z.B. J. Rohbeck: Technologische Urteilskraft, Frankfurt/Main 1993). M.s Handlungsbegriff selbst drängt somit die Frage auf, ob nicht das Handeln überhaupt nach der Logik der Arbeit zu begreifen sei. Hieran wird er durch ein reduktionistisches Verständnis instrumentellen Handelns und der Bedürfnisstrukturen gehindert. Bedürfnisse werden nur unter dem "biologischen" (117) Gesichtspunkt "vitaler" (184) Überlebensbedürfnisse thematisch, nicht jedoch unter dem Gesichtspunkt ihrer Produktion und Entwicklung (abgesehen davon, daß das Überlebenkönnen als ein sittliches Faktum ersten Ranges angesehen werden muß). Dies läßt M. auch die immanente Reflexivität und Rationalität von Arbeitsprozessen verkennen, wie sie etwa Hegel mit seinem Begriff der Arbeit als gehemmter Begierde als moralitätskonstituierend hervorhebt. Es fragt sich, ob die angestrebte Bedingungsanalyse von Handlungen zureichend geleistet werden kann, wenn diese Seite der Dialektik von Handeln und Reflexion ausgeblendet wird.

Die starke Betonung des Psychischen im kombinatorischen Handlungsmodell scheint mir auch eine Konsequenz der Privilegierung mentaler Aspekte des Handelns zu sein, der M., trotz aller Bemühungen um eine Differenzierung und Kritik des intentional-teleologischen Zugriffs, weitgehend noch zu folgen bereit ist.