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Ausgabe:

Februar/2010

Spalte:

155-157

Kategorie:

Altertumswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Liverani, Mario

Titel/Untertitel:

Israel’s History and the History of Israel. Transl. by Ch. Peri and Ph. R. Davies.

Verlag:

London-Oakville: Equinox 2005. 427 S. m. Ktn. gr.8° = Bible World. Kart. £ 16,99. ISBN 978-1-84553-341-0.

Rezensent:

Hermann Michael Niemann

Das Buch bietet einen deutlichen Fortschritt in der zusammenfassenden Darstellung der Geschichte und Theologiegeschichte des antiken Israel. Wir verdanken ihn einem profilierten italienischen Altorientalisten. Es scheint, dass Forschern eines benachbarten nichttheologischen Faches manchmal ein nüchternerer historischer Blick auf die Geschichte Israels möglich ist als Theologen, die der Hebräischen Bibel als einer der Grundlagen zur Erforschung der Geschichte Israels mit zu viel Reverenz und zu großer Zurückhaltung bei historischer Kritik gegenüberstehen. Was für L. gilt, gilt z. B. auch für seinen altorientalistischen Kollegen Nadav Na’aman.
Die Erforschung der Geschichte Israels hat im letzten Vierteljahrhundert eine bemerkenswerte Entwicklung genommen. H. Donner hatte Mitte der 80er Jahre mit seiner »Geschichte des Volkes Israel und seiner Nachbarn in Grundzügen« die klassische »Geschichte Israels« von M. Noth exegetisch und altorientalistisch auf den Stand der Zeit gebracht und Kritik an Hypothesenbildungen der 1. Hälfte des 20. Jh.s geübt. Schon von Donner rezipiert ist massive Kritik an der unmittelbaren historischen Auswertbarkeit biblischer Patriarchenerzählungen (J. van Seters; Th. L. Thompson), auch der biblischen sog. »Landnahme«- und »Richter«-Epoche. Seit Ende der 80er Jahre wurde die biblische Darstellung der Zeit der Monarchie in Israel und Juda einer deutlich kritischeren Analyse als früher unterzogen: Soziokulturelle Studien von D. W. Jamieson-Drake (1991) und H. M. Niemann (1993) argumentierten, dass Israel und Juda nicht vor dem 9. bzw. 8. Jh. v. Chr. nennenswerte staatliche Strukturen entwickelt hätten, die für eine entstehende Bürokratie und (biblische) Textentwicklung verantwortlich waren. Ph. R. Davies vertrat die These, die biblisch-theologischen Texte seien zu weiten Teilen in persischer Zeit gestaltete rückschauende theologische Analyse. Die Geschichte des Ersten Tempels in Gen bis 2Kön sei am Zweiten Tempel und für ihn konzipiert (E. A. Knauf). Zu Unrecht fast vergessen ist, dass R. B. Coote und K. W. Whitelam 1987 I. Wallersteins »World Systems Approach« in die Erforschung der Geschichte Israels eingeführt haben, von E. A. Knauf in mehreren Studien weitergeführt. I. Finkelstein brachte quantitative Methoden der empirischen Kulturwissenschaft ein, ebenfalls von Knauf weitergeführt. In den 80er und 90er Jahren fand eine methodologische Debatte statt, die u. a. ein von D. V. Edelman 1991 edierter Band »The Fabric of History: Text, Artifact and Israel’s Past« spiegelt. Sie zeigt u. a Früchte in inzwischen mehreren von L. L. Grabbe für das »European Seminar in Historical Methodology« herausgegebenen Sammelbänden; vgl. auch Ch. Hardmeier (Hrsg.): Steine – Bilder – Texte, ABG 5, Leipzig 2001. Bereits 1986 (überarb. 2. Aufl. 2006) hatten J. M. Miller und J. H. Hayes »A History of Ancient Israel and Judah« vorgelegt, worin sie die methodische Unterscheidung von »history« und »story« (J. Barr) vorführten, jedoch noch vom biblischen Befund ausgingen. L. ist hier einen wichtigen Schritt weitergegangen.
Kapitel 1 (»Palestine in the Late Bronze Age: Fourteenth-Thirteenth Centuries«) bereitet die Bühne mit einem Überblick über Landschaft und Ressourcen, beschreibt die geopolitische Fragmentierung der Region (mit vergleichendem Blick auf Griechenland), skizziert die Diskontinuität der Besiedlung der Regionen durch die Epochen, die phasenweise ägyptische Dominanz, Herrschaftsstrukturen sowie wirtschaftliche Gegebenheiten, Handel und Austausch, »Villages and Collective Bodies«, das Phänomen des Nomadismus und sozioökonomische Spannungen. Der folgende Teil I des Buches besteht aus acht Kapiteln. Die traditionell und karg wirkenden Überschriften lassen nicht erkennen, dass die Darstellung keineswegs traditionell ist: Kapitel 2: »The Transition (Twelfth Century)«, Kapitel 3: »The New Society (c. 1150–1050)«, Kapitel 4: »The Formative Process (c. 1050–930)«, Kapitel 5: »The Kingdom of Israel (c. 930–740)«, Kapitel 6: »The Kingdom of Judah (c. 930–720)«, Kapitel 7: »The Impact of the Assyrian Empire (c. 740–640)«, Kapitel 8: »Pause between Two Empires (c. 640–610)«, Kapitel 9: »The Impact of the Babylonian Empire (c. 610–585)«. Was hier geboten wird, ist eine weitgehend auf dem gegenwärtigen Stand der Forschung stehende, zusammenfassende Konstruktion der Geschichte Israels vom 12. Jh. v. Chr. bis zum Untergang des Staates Juda auf 150 Seiten. Natürlich könnte die Darstellung ausführlicher und detaillierter sein. Auch hätten die inzwischen u. a. dank O. Keel und seiner Schule reichlich vorhandenen ikonographischen Quellen beigezogen werden können/sollen wie auch die Archäologie, die gelegentlich berücksichtigt wird. Der weite altorientalistische und anthropologische Horizont und der theologisch unverstellte Blick L.s sind aber lehrreich. Es folgt ein »Intermezzo«: Kapitel 10: »The Axial Age«, Kapitel 11: »The Diaspora« und Kapitel 12: »The Waste Land«. Was hier verhandelt wird, ist offensichtlich. Wir befinden uns an einem Wendepunkt der Geschichte und Theologiegeschichte Israels, des Buches und der Forschung.
Beschäftigte sich der bisherige Teil des Werkes mit der »normal history«, der Geschichte Israels im modernen historiographischen Sinne, wird Teil II sich mit der »story« Israels als »An Invented History« befassen, d. h. der (geschichts)theologischen rückschauenden Analyse und Aufarbeitung der Vergangenheit, wie wir sie in der Hebräischen Bibel als Sichtweise des »siegreichen« Teils der judäischen Elite vorfinden. Auch frühere Konstruktionen der Ge­schichte Israels waren sich der begrenzten historischen Aussagekraft, der eher theologischen Bedeutung der Patriarchen-, der Wüsten- und der sog. »Landnahme«-Traditionen bewusst, versuchten aber dennoch, aus diesen theologisch-legitimatorischen Texten historische Elemente zu sezieren, um eine »Vor- und Frühgeschichte der Staaten Israel und Juda« daraus zu rekonstruieren. Diese Versuche verloren ihre Basis in dem Maße, in dem in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten die literaturwissenschaftliche und exegetische Analyse biblischer Texte die Textentstehung und -entwick­lung in (Israel und) Juda nach ersten Anfängen im 10./9. Jh. (Debora-Lied und ›Bileam-Buch‹) vor allem zwischen dem ausgehenden 8. und dem 2. Jh. v. Chr. grundsätzlich klären konnte. L. zeigt vor diesem Hintergrund ganz organisch von der »normal history« herkommend in Teil II, wie zentrale Theologumena (»stories«) der Hebräischen Bibel im Diskurs zwischen Autoren seit dem 6. Jh. auf der Basis der im Teil I dargestellten »history« (oder gegen sie, die historischen Traditionen zu Legitimationszwecken auswählend, zurechtbiegend oder, freundlicher gesagt, bearbeitend) erarbeitet und »eingeführt« werden: Kapitel 13: »Returnees and ›Remainees‹: The Invention of the Patriarchs«, Kapitel 14: »Returnees and Aliens: The Inventions of the Conquest«, Kapitel 15: »A Nation without a King: The Invention of the Judges«, Kapitel 16: »The Royal Option: The Invention of the United Monarchy«, Kapitel 17: »The Priestly Option: The Invention of the Solomonic Temple«, Kapitel 18: »Self-Identification: The Invention of the Law«. L. gelingt klar und theologisch gut informiert darzustellen, wie auf der Grundlage von »Israel’s History« die »Story of Israel« (= Theologie[-Geschichte]) von den »interested parties« (um)gestaltet und geprägt wurde.
Die Bedeutung des Buches liegt weniger in der Neuartigkeit der Konstruktion der Geschichte Israels im Teil I. Hier wird jeder, der den neuesten Stand der Forschung kennt, manchen guten Gedanken rezipieren. Das Bild würde noch deutlicher, wenn die gelegentlich gestreifte Archäologie und die nicht genutzte Ikonographie stärker berücksichtigt wären. Sehr beachtlich ist die Souveränität, mit der L. theologiegeschichtliche Linien zeichnet. Hier zeigt er sich als Fachfremder mancher theologischen Darstellung durch pointierte Formulierungen und anregende Durchblicke mindes­tens ebenbürtig. Das Buch ist mit zwölf Tabellen und 58 Karten/ Abbildungen sowie Indizes ausgestattet, das Literaturverzeichnis reichhaltig und fein gegliedert, vollständig kann es nicht sein. L. hat den Stand der Forschung anregend skizziert und die methodisch notwendige Differenzierung von »story« und »history« Israels erstmals konsequent vorgeführt.