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Ausgabe:

Februar/2010

Spalte:

139-154

Kategorie:

Aufsätze

Autor/Hrsg.:

Jan Hermelink

Titel/Untertitel:

Kirche begreifen
Aktuelle Tendenzen und Aufgaben praktisch-theologischer Kirchentheorie

1. »Kirche der Freiheit« – Schwerpunkte und Leerstellen der gegenwärtigen Debatte über die evangelische Kirche

Im Juni 2006 veröffentlichte der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) – unter dem Titel »Kirche der Freiheit« – ein »Impulspapier«1, das die öffentliche Diskussion über das Thema Kirche, und zwar in der evangelischen Kirche selbst wie in der Theologie, so nachhaltig geprägt hat wie keine andere Publikation seit langer Zeit.2 Diese außerordentliche Wirkung dürfte nicht nur auf einer geschickten Öffentlichkeitsarbeit beruhen, sondern in dieser Schrift bündeln sich offenbar wesentliche Tendenzen, die die kirchliche wie die (praktisch-)theologische Debatte der letzten 15 Jahre im Ganzen charakterisieren.

Paradigmatisch für die evangelische Debatte über »Kirche« er­scheint das Papier »Kirche der Freiheit« zunächst durch seine Verfasser. Das EKD-Impulspapier gehört in eine längere Reihe von Publikationen, in denen sich – und das ist neu – kirchenleitende Gremien programmatisch zur Zukunft der Kirche äußern.3 Den Anfang machte die Evangelische Kirche von Hessen und Nassau mit der Schrift »Person und Institution – Volkskirche auf dem Weg in die Zukunft« (1992);4 inzwischen haben zahlreiche landeskirchliche Synoden und Räte einschlägige »Perspektivpapiere«, »Leitlinien« oder »Zielorientierungen« herausgegeben, in denen sich Analysen der kirchlichen Lage mit – mehr oder weniger konkreten – Modellüberlegungen oder Handlungsorientierungen verbinden.5

Dieser ausgesprochen pragmatische Grundzug stellt ein weiteres Charakteristikum der gegenwärtigen Debatte dar. Wenn das Impulspapier zur Hälfte aus »Leuchtfeuern der Zukunft« besteht, die für kirchliche Handlungs- und Sozialformen, Mitarbeitsprofile und Strukturebenen recht konkrete Maßgaben und Ziele formulieren, so entspricht dies einer Fülle weiterer Publikationen, die Visionen einer zukünftigen Kirche entfalten6 und für deren ›Wachstum‹ konkrete Orientierungen zu geben beanspruchen.7 Die Kirchentheorie der Gegenwart ist zu einem guten Teil einer Theorie kirchlicher Gestaltung, genauer: kirchlicher Reformanstrengung.

Typisch für die aktuelle Debatte ist »Kirche der Freiheit« ferner darin, dass man empirischen Befunden einen hohen argumentativen Stellenwert einräumt.8 Zu den Publikationen im Gefolge der EKD-Mitgliedschaftsuntersuchungen, die das kirchliche Selbstverständnis seit Jahrzehnten prägen,9 sind inzwischen zahlreiche weitere religions- und kirchensoziologische Erhebungen getreten,10 die für einzelne Gemeinden ein »Wachsen gegen den Trend«11 oder für Religion und Kirche im Ganzen eine wachsende Pluralisierung vorstellig machen.12 Insbesondere die Milieudifferenzierung der kirchlichen Mitglieder hat – wiederum durchaus pragmatisches – Interesse auf sich gezogen.13 Und auch das kirchliche Personal, insbesondere die Pfarrerschaft, wird inzwischen zum Gegenstand sozialwissenschaftlicher Befragungen – mit weitreichenden kirchenpolitischen Folgerungen.14

Zur Wirkung des EKD-Impulspapiers dürfte weiterhin die Re­zeption außertheologischer Einsichten, Theoreme und Sprachformen beigetragen haben. Die ökonomische Diktion, die weite Teile des Papiers prägt, hat zwar innerkirchlich erhebliche Widerstände hervorgerufen; gleichwohl wird damit ein markanter Grund­zug der jüngsten Debatten aufgenommen.15 Auch wo nicht (mehr) ausdrücklich von ›Kirchenmarketing‹ oder ›Kirchenmanagement‹ die Rede ist, sind doch Zielvereinbarungen, Mitarbeitergespräche, Budgetierung16 und andere einschlägige Instrumente längst auch Bestandteil kirchlicher Selbststeuerung geworden – ganz abgesehen von der Selbstverständlichkeit, mit der allenthalben von kirchlichen ›Angeboten‹ und ›Zielgruppen‹ gesprochen wird.

Gleichwohl hat sich die These der 1990er Jahre, die Kirche könne als ein – wenn auch besonderes – »Unternehmen« begriffen und ge­staltet werden,17 nicht durchgesetzt; vielmehr ist stattdessen – auch im Papier der EKD – der Begriff der »Organisation« in den Vordergrund getreten. Wird die Kirche als Organisation verstanden,18 so können ihr Zielorientierung, formale Strukturen und klare Zugehörigkeitsregeln zugeschrieben werden, ohne dass sie auf Kunden- und Konkurrenzbeziehungen festgelegt werden muss. Über den Begriff der Organisation, der das Verständnis der Kirche als Institution weithin abgelöst hat,19 hat die gegenwärtige Debatte erneut Anschluss an soziologische Theoriebildungen gewonnen:20 Die Kirche erscheint geprägt, ja geradezu konstituiert durch eine moderne Gesellschaft, die wesentlich durch Organisationen gekennzeichnet ist.

Eine letzte Eigenart des gegenwärtigen kirchentheoretischen Dis­kurses, der sich in »Kirche der Freiheit« spiegelt, betrifft seine Fokussierung auf Strukturfragen: Die Passagen über neue Gemeindeformen, verstärkten Einsatz von Ehrenamtlichen, über die Ar­ron­dierung landeskirchlicher Grenzen und eine Stärkung der EKD-Organisation haben am meisten (kritische) Resonanz gefunden; auch der ›Reformprozess‹, der sich an das Impulspapier angeschlossen hat, konzentriert sich mit der Gründung diverser ›Kompetenzzentren‹ und eines recht agilen ›Projektbüros‹ bislang vor allem auf strukturelle Veränderungen der kirchlichen Organisation.

In den hier skizzierten Tendenzen kommt offenbar der real-his­torische Kontext der gegenwärtigen Debatte zum Ausdruck: Infolge sinkender Einnahmen, schwindender gesellschaftlicher Be­deu­tung und zunehmender Präsenz nicht-christlicher Religionsgemeinschaften sehen sich die evangelischen Großkirchen unter einem erheblichen »Veränderungsdruck«.21 Dieser Druck wird – im Unterschied zu den institutionellen Krisenerfahrungen der Vergangenheit – derzeit besonders stark auf den Leitungsebenen der Kirche, in Bischofskanzleien und Kirchenämtern wahrgenommen. Während die Kirche ›vor Ort‹ eher als Institution, als eingebettet in vielfältige biographische und kulturelle Lebensbezüge erscheint, tritt für die Leitungsinstanzen der Organisationscharakter der Großkirchen in den Vordergrund; kirchliche Reform lässt sich aus dieser Perspektive eher über Strukturveränderung bewerkstelligen als über die inhaltliche Arbeit an leitenden Begriffen und Theorien. Für jene Steuerungsbemühung scheinen zudem gängige Organisations- und Systemtheorien einschlägiger, auch hilfreicher als genuin theologische Theoriebildung: Unter den zwölf Autorinnen und Autoren des EKD-Impulspapiers findet sich – neben Wolfgang Huber – nur ein Universitätstheologe. 22

Für die (praktisch-)theologische Wissenschaft stellt diese De­battenlage zum Thema Kirche eine große Herausforderung dar. Einschlägige Tagungen, Konsultationen und Gespräche zwischen akademischer Theologie und Kirchenleitungen lassen erkennen: Praktisch-theologische Perspektiven und Einsichten, die den ›Veränderungsdruck‹ historisch und systematisch-begrifflich relativieren und die stärker zur Wahrnehmung als zum energischen Handeln anleiten, werden von den kirchlichen Organisationsspitzen derzeit nicht als hilfreich und schon gar nicht als Entlastung wahrgenommen. In dieser Situation dürfte es für eine praktisch-theologische Kirchentheorie wesentlich sein, bei den empirischen und organisatorischen Krisenerfahrungen der Gegenwart anzusetzen, sie jedoch in weitere theoretische Horizonte einzuordnen und von daher eine sowohl realistischere als auch sachgemäßere Sicht der gegenwärtigen Lage zu eröffnen. Eine solche genuin theologische Theoriebildung zum Thema »Kirche«, für die sich in Geschichte und Gegenwart bereits diverse Ansätze namhaft machen lassen, soll im Folgenden – in vier Schritten – skizziert werden.

2. Kirchentheorie als empirische Theorie

Die gegenwärtige Krise der Großkirchen wird meist als Mitglieder-, als Finanz- und als Relevanzkrise wahrgenommen; Forderungen nach verstärkter ›Mitgliederorientierung‹, der Erschließung neuer Finanzquellen und nach einer öffentlichen Profilierung der Kirche stehen daher im Fokus der meisten Reformprogramme. Die einschlägigen empirischen Befunde, auf die sich jene Forderungen stützen, bedürfen freilich der theoretischen Differenzierung, auch der Relativierung.

a) Die soziologische Religionsforschung zeigt an den Phänomenen der Kirchenbindung und Kirchenmitgliedschaft, ungeachtet deren weiter Verbreitung, ein relativ geringes Interesse.23 Die praktisch-theologische Rezeption der einschlägigen Forschung zur religiösen Individualisierung24 wird daher die kirchenkritischen Traditionen des Faches mitlesen müssen, kann dann aber zu interessanten Einsichten über Pluralität und Konventionalität der Religiosität im Rahmen der Großkirchen gelangen.

Die großen Untersuchungen zur Kirchenmitgliedschaft, die seit den 1970er Jahren durchgeführt werden,25 haben den Perspektivwechsel von einer institutionellen Binnen- zu einer erfahrungsorientierten Außensicht nachhaltig befördert. Insbesondere haben sie das Phänomen der distanzierten Kirchlichkeit in den Blick ge­rückt, dessen empirische wie theoretische Deutung nach wie vor hochgradig umstritten ist.26 Wird jene Kirchlichkeit – wie in den EKD-Erhebungen selbst – im Rahmen einer Theorie der Kirche als religiöser Organisation der Gesellschaft wahrgenommen, so markiert sie die außerordentlich stabile, vielschichtige und geradezu fraglose Einbettung des kirchlichen in das gesellschaftliche Leben. Wird diese Eigensicht der Kirche jedoch – unter dem Druck schwindender Ressourcen – fraglich, so werden aus den ›Distanzierten‹ alsbald ›Kirchenferne‹, die von der Organisation gezielt (neu) »beheimatet« werden müssen. 27

Ganz ähnliche Beobachtungen lassen sich zum Thema »Milieus in der Kirche« machen. Aus einer kritischen, religionssoziologischen Perspektive unterstreichen die empirischen Untersuchungen die ›Milieuverengung‹ der evangelischen Großkirchen;28 wird die »Milieuperspektive« jedoch als »Zauberbrille« begriffen, die kirchliche Arbeit ganz neu zu analysieren und zu planen ermöglicht,29 dann fördert sie einen Gestaltungsoptimismus, der den Konstruktionscharakter jener Perspektive übersieht und den kirchlichen Handlungsspielraum überschätzt.

b) Wie stark auch die finanzielle Ausstattung der Großkirchen gesellschaftlich, und vor allem gesellschaftsgeschichtlich bedingt ist, das hat schon vor zwei Jahrzehnten ein Projekt der FEST in Heidelberg aufgezeigt.30 Eine theologisch-theoretische Deutung dieser herkömmlichen Verhältnisse wie der Veränderungen, die sich gegenwärtig unter dem Stichwort »fundraising« vollziehen, ist aber bisher nur punktuell und ansatzweise zu erkennen.31 So lange dies nicht geschieht, besteht jedoch sowohl die Gefahr einer theologischen Überhöhung des etablierten Kirchensteuersystems wie umgekehrt einer Verklärung alternativer, mehr auf Eigeninitiative und Projektbezug setzender Finanzierungskonzepte. – Erst recht harren die gegenwärtigen Umstellungen des innerkirchlichen Zu­weisungs- und Rechnungswesens, die das Verhältnis von Ortsgemeinde, Kirchenkreis und Landeskirche erheblich verändern werden, einer praktisch-theologischen Analyse und Kritik.

c) Was die gesellschaftsöffentliche Stellung der Kirche angeht, so sind die gegenwärtigen Veränderungen zwar empirisch-valide nur schwer zu beschreiben. Dass der kirchliche Einfluss in den ›großen‹ sozialethischen und -politischen Debatten, etwa zur Bioethik oder zur Gestaltung des Ökonomischen, abgenommen hat, lässt sich aber kaum in Abrede stellen. Die Kirchen haben auf diesen Relevanzverlust in den letzten Jahrzehnten mit dem vielfältigen Ausbau ihrer Öffentlichkeitsarbeit, auch der episkopalen Medienpräsenz reagiert 32 sowie mit einer Verstärkung des ›event‹-Charakters vieler ihrer Veranstaltungen. Was dies für das Gefüge und das Selbstverständnis der Großkirchen selbst bedeutet, wird allmählich auch praktisch-theologisch reflektiert.33 Dass auch und gerade die Kirche vor Ort – mit ihren Gebäuden, ihren Gottesdiensten und Gruppen, mit ihren Mitarbeitenden – in der lokalen und regionalen Öffentlichkeit höchst präsent ist, das wird freilich – wie auch das EKD-Impulspapier zeigt – seitens der Kirchenleitungen weniger wahrgenommen; wiederum lässt sich hier eine gewisse positionelle Einengung der Perspektive erkennen.

Einen guten Indikator für die gesellschaftliche Stellung der Kirche stellen seit Langem die Debatten im Staatskirchenrecht dar. Symptomatisch für die aktuellen Veränderungen ist eine neue Fachbezeichnung: Wird immer öfter vom »Religionsrecht« gesprochen,34 so sind offenbar auch nichtchristliche (und nichtjüdische) Religionsgemeinschaften öffentlich inzwischen so präsent, dass ihr Verhältnis zu Staat und Gesellschaft einer juristischen Diskussion bedarf, die mittelbar auch die rechtliche Stellung der christlichen Großkirchen betreffen wird.

Der Gesprächsfaden zwischen (Kirchen-)Rechtswissenschaft und (Praktischer) Theologie ist in den letzten Jahrzehnten dünn geworden35 – nicht zuletzt deswegen, weil die Kirchen selbst sich derzeit weniger als gesellschaftliche Institutionen, und dann auch als Körperschaften öffentlichen Rechts, verstehen, sondern viel mehr als zielbewusste Organisationen, die eher betriebswirtschaftlich als juristisch zu beschreiben wären. Umso wichtiger sind die vereinzelten Arbeiten, die die – nach wie vor wesentlich rechtsförmige – Verfassung der Großkirchen ihrerseits in einen gesellschaftstheoretischen Rahmen stellen. 36

Der knappe Durchgang durch einige der empirischen Kontexte, die derzeit den Handlungsdruck der kirchlich Verantwortlichen motivieren, vermag anzudeuten, wie stark (auch) die Wahrnehmung der kirchlichen Lage geprägt ist durch die herangezogenen theoretischen Horizonte sowie – auch das gehört zum methodologischen Basiswissen der Sozialwissenschaften – durch die Position der Wahrnehmenden selbst: Die Art und Weise, in der empirische Befunde ausgewählt, gedeutet und kommuniziert werden, spiegelt stets auch, wenn nicht zuerst, eine bestimmte kirchliche Selbstwahrnehmung. Dieses Selbstbild ist durch unmittelbare Erfahrungen der Handelnden, es ist aber auch seinerseits wesentlich durch theologische und soziologische Theorien über die Kirche in der modernen Gesellschaft bestimmt. Eine praktisch-theologische Kirchentheorie, die realistische Einsichten vermitteln soll, ist da­her auf eine gründliche gesellschaftstheoretische Reflexion angewiesen (s. u. 3.).37

Zugleich zeigt die Reflexion auf die empirischen Verhältnisse der Großkirchen, wie stark deren theoretisches Verständnis eine historische, eine gesellschafts- wie organisationsgeschichtliche Be­sinnung voraussetzt: Weder die aktuellen Finanzprobleme noch das komplexe Profil individueller Bindung an die Kirche sind zu begreifen ohne Hinweise auf die jeweiligen Entstehungsbedingungen. Dazu kommt, dass auch die Begriffe, in denen sich die Kirche über ihre Lage und ihre Handlungsoptionen verständigt, historisch geprägt und damit auch historisch begrenzt sind: Was »Mitgliedschaft«, was »Kirchlichkeit« oder auch was »Gemeinde« nä­herhin bedeuten kann, das ist gegenwärtig auch deswegen höchst umstritten, weil alle diese Begriffe in der kirchlichen Selbstreflexion eine lange (Vor-)Geschichte haben.38

Die praktisch-theologische Kirchentheorie wird darum mit Gewinn auch ihre eigene Theoriegeschichte wahrnehmen: In den Hoch- oder Achsenzeiten kybernetischer Reflexion39 sind Einsichten ausgearbeitet worden, die für eine Theorie kirchlichen, auch kirchenleitenden Handelns bis heute bedeutsam sind. Dieser theo­retische Gewinn soll im Folgenden im Rückblick auf drei solche Achsenzeiten angedeutet werden.

3. Kirchentheorie als Institutionstheorie

Besonders seit den 1880er und bis in die 1930er Jahre hat das Thema »Kirche« in der deutschen religiösen Publizistik wie in der theologischen Literatur eine außerordentliche Prominenz entfaltet.40 Den institutionellen Hintergrund der vielschichtigen Diskussion bildete die institutionelle Verselbständigung der evangelischen Landeskirchen, die im 19. Jh. begann und ihren rechtlichen Kulminationspunkt 1919/20 mit dem Ende der Staatskirche fand. Die politischen, die theologischen und auch die juristischen Debatten zur »praktischen Ekklesiologie« (Peter Bloth41) gingen jedoch auch in der Weimarer Republik und am Beginn der NS-Zeit unvermindert weiter, denn die neue Lage der Kirche war nach außen, im Blick auf Staat und Gesellschaft, wie nach innen, im Blick auf das Verhältnis von Einzelgemeinde und übergeordneten Instanzen, allererst zu begreifen und zu gestalten. Die in dieser Zeit ausgearbeiteten Argumentationen und Schlüsselbegriffe sind für die praktisch-theologische Reflexion der Kirche als einer sozialen Institution bis heute bedeutsam.

a) Nach außen waren die evangelischen Landeskirchen nach 1919 bekanntlich genötigt, das Verhältnis zum Staat ganz neu zu ordnen. Auf dem Hintergrund einer höchst komplexen, auch um­strittenen staatskirchenrechtlichen Tradition42 wurden – zum Teil in harten Konflikten – auf der Ebene der Reichsverfassung wie in Landesverfassungen und Einzelgesetzen Regelungen gefunden, die oft bis heute gelten: etwa im Blick auf den Status der Kirche als »Körperschaft öffentlichen Rechts«, auf ihre Stellung im Schulwesen, in der Wohlfahrtspflege, in der Publizistik oder in der Universität, auch im Blick auf die Gestaltung des Mitgliedschaftsrechts. Nicht nur die (verfassungs-)rechtliche, auch die gleichsam realpolitische Stellung der deutschen Großkirchen ist gegenwärtig nur zu verstehen, wenn diese Entstehungsgeschichte im Blick ist.

b) Im Blick auf die innere Ausgestaltung selbständiger kirchlicher Institutionen war schon im 19. Jh. ausführlich über die Stellung der Einzelgemeinde im kirchlichen Verfassungsaufbau und über die Organisation ihrer praktischen Arbeit diskutiert worden, etwa bei der Gewinnung hauptamtlicher Kräfte oder der Integration der diversen christlichen Vereine.43 Die ›Gemeindebewegung‹ konnte viele ihrer Anliegen in die neuen Kirchen- und Fi­nanzver­fassungen einbringen. Und in der Folgezeit, auch durch die Auseinandersetzungen nach 1933, verbreitete sich die Einsicht weiter, dass nicht nur Bischöfen und Kirchenämtern Leitungsverantwortung in der kirchlichen Institution zukommt. Auch synodale Gremien, vor allem aber auch kirchliche Instanzen vor Ort, vom Pfarrer über eine wachsende Zahl von haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitenden bis zum Kirchenvorstand, werden seither als eigenständige Subjekte kirchlicher Gestaltung und kirchlicher Leitung verstanden.

Dieses Selbstverständnis der evangelischen Kirchen, das sie nach­haltig vom römisch-katholischen Verständnis unterscheidet, bedarf freilich seinerseits der historischen Vergewisserung. Das Nebeneinander diverser Leitungsinstanzen in der Ortsgemeinde wie auf landeskirchlicher Ebene44 kann nur begriffen und angemessen gestaltet werden, wenn etwa die geschichtliche Entwick­lung der synodalen Versammlungen oder der zentralen Kirchenverwaltung bedacht wird45 – sind in diesen Leitungsformen doch immer bestimmte historische Kirchenbilder, ja ganze Institutionskonzepte eingelagert.

Eine historische Betrachtung legt sich für die praktisch-theologische Kirchentheorie zudem auch insofern nahe, als die Komplexität der großkirchlichen Institution, die besonders nach 1919 zum Bewusstsein kam und sich seither noch erheblich gesteigert hat, ihrerseits als ein Nebeneinander verschiedener, auch konkurrierender Sozialgestalten wahrgenommen und begriffen werden muss. Zu einer evangelischen Landeskirche (die ihrerseits eine spezifische kirchliche Sozialgestalt ist) gehören nicht nur Ortsgemeinden, die institutionsgeschichtlich eine Mischung aus mittelalterlicher Parochie und modernem Vereinsleben darstellen. Sondern zur Großkirche gehören auch zahlreiche Verbände und Anstalten; sie umfasst sodann kirchlich-konfessionelle und territoriale Kirchenbünde ebenso wie zahlreiche Gruppen, die sich unterhalb, aber durchaus auch neben der ortsgemeindlichen Ebene bilden.

Alle diese kirchlich-institutionellen Sozialformen implizieren bestimmte Kommunikations- und Gesellungsformen, die ihrerseits sozialgeschichtlich bedingt sind; sie implizieren zudem un­ter­schiedliche Bindungsmuster, Funktionspositionen und Leitungsstrukturen. Nur eine historisch-strukturelle Differenzierung, z. B. zwischen einem ›ständischen‹ Vereinsleben, das dem Ge­meindehaus des 19. Jh.s entstammt, und den ›Dienstgruppen‹ oder ›Selbsthilfegruppen‹, die sich im allgemeinen Reformklima der 1960er Jahre gebildet haben, erlaubt es, das Leben einer gegenwärtigen Kirchengemeinde realistisch wahrzunehmen.

c) Die kybernetische Achsenzeit vor und nach 1919 hat der praktisch-theologischen Kirchentheorie schließlich auch be­stimm­te begriffsgeschichtliche Aufgaben hinterlassen. So hat sich der Begriff der ›Gemeinde‹, der schon seit Luther obrigkeits- und kirchenkritische Konnotationen besitzt, durch die Gemeindebewegung mit weiteren Bedeutungen aufgeladen, etwa – wie bereits skizziert – hinsichtlich der Beteiligung engagierter Laien oder stärkerer lokaler Autonomie. Die Bekenntnissynoden seit 1932 haben die theologische Dignität der Gemeinde dann kirchenpolitisch gegen die Tendenzen der ›Gleichschaltung‹ akzentuiert; das entsprechende Selbstbe­wusst­sein der ›Kerngemeinde‹ ist bis heute spürbar. 46 Angesichts der vielfältigen Kontexte, in denen gegenwärtig mit ›der Gemeinde‹ für oder (öfter) gegen Veränderungen argumentiert wird, ist eine be­griffshistorische Analyse unabdingbar.

Ähnliches gilt für den Begriff der ›Volkskirche‹, der zwar bereits bei Schleiermacher begegnet und in einigen Konzepten des 19. Jh.s Verwendung fand, aber erst nach 1919 breit diskutiert wurde.47 Indem die Volkskirche sowohl der Staatskirche als auch – etwa von Ernst Troeltsch – der weltabgewandten Sekte gegenübergestellt wurde, indem – etwa von Karl Barth – nach ihrem Bekenntnis ge­fragt wurde wie nach der Verankerung kirchlicher Sitte in der Breite der Bevölkerung (Otto Dibelius), erhielt der Begriff ein außerordentlich breites Bedeutungsspektrum, das seine – kritische wie konstruktive – Verwendung im Blick auf die kirchliche Institution bis heute prägt.

4. Kirchentheorie als Konflikttheorie


Im Kontext eines gesamtgesellschaftlichen Reformklimas wurde die kirchliche Praxis in den 1960er Jahren von vielen Stimmen inner- wie außerhalb der Institution (erneut) kritisch kommentiert. Nicht nur Handlungsfelder w ie Predigt oder Seelsorge er­schienen als weltfremd, autoritär und irrelevant; auch die gesellschaftliche Stellung der Kirche im Ganzen wirkte immer prekärer. In der Folge wurden Themen aufgenommen und zugespitzt, die schon die kybernetische Debatte der 1920er Jahre bestimmt hatten: Kirche und Staat, Kirche und individueller Glaube, die Rolle der Laien, auch die Bedeutung ›para-‹ oder ›übergemeindlicher‹ Sozialformen.

Während die akademische Praktische Theologie sich nur sehr zögernd auf die Fragen der Kirchenreform einließ,48 entwickelte der Gemeindepfarrer und Publizist Ernst Lange Ende der 1960er Jahre eine Art kirchlicher Konflikttheorie, die in ihrem thematischen Umfang wie in ihrer Argumentationsstruktur bis heute anregend erscheint. Im Blick auf die pastorale Rolle sprach er 1972 von einem »Spannungsfeld, das durch drei nicht auflösbare Konflikte bestimmt ist«,49 nämlich den »vertikalen« Konflikt zwischen den Ansprüchen der Kirchenleitung und den Forderungen vor Ort, durch einen »horizontalen« Konflikt zwischen den Erwartungen verschiedener Mitgliedergruppen und einen »temporalen« Konflikt zwischen kirchlich-religiöser Bewahrung und Erneuerung. Alle diese Konflikte sind, so betont Lange, deshalb unauflösbar, weil sämtliche Positionen – die Gemeinde wie die Kirchenleitung, die volkskirchlichen wie die vereinskirchlichen Mitglieder, auch die Konservativen wie die Reformer – nicht nur gesamtgesellschaftlich verbreitete Bilder und Erwartungen an die Kirche zum Ausdruck bringen. Sondern alle Konfliktparteien können auch ein theo­logisches Recht beanspruchen: Im Streit über Ausrichtung und Gestalt der Kirche spiegelt sich nicht weniger als die spannungsvolle Vielfalt des Christentums selbst.

Angesichts eines »wachsenden Pluralismus der Kirchenverständnisse, der theologischen Positionen und religiösen Einstellungen«, dazu einer »gesellschaftlichen Bedürfnislage«, die »in sich selbst widersprüchlich ist«, konzipierte Lange in mehreren Anläufen eine »Theorie kirchlichen Handelns«50, die jene Spannungen, Konflikte und Widersprüche gerade nicht vorschnell zu lösen versucht, sondern sie empirisch wie theologisch aufklärt, und die dazu anleiten will, diese Konflikte als Lernfeld gemeinsamer Verantwortung zu begreifen, ja geradezu zu inszenieren.51

Eine orientierungskräftige Kirchentheorie muss daher interdisziplinär vorgehen; sie wird, um jene Konfliktlinien zu verstehen, sozialwissenschaftliche, pädagogische und psychologische Einsichten zu rezipieren haben. Ob dagegen die traditionelle, akademische (Praktische) Theologie der spannungsvollen und zugleich weithin erstarrten Verhältnisse überhaupt ansichtig werden kann, das erschien Lange durchaus zweifelhaft: »Eine ›blinde‹ kirchliche Praxis und eine ›leere‹ theologische Theorie treten immer weiter auseinander, vermittelt nur noch im Leiden der Pfarrer, die beides nicht mehr miteinander verbinden können.«52

Langes Plädoyer, die kirchliche Selbstwahrnehmung interdisziplinär anzulegen, hat seit den 1970er Jahren weithin Schule ge­macht; hinter die seither gewonnenen sozialempirischen wie -theoretischen Einsichten wird die Kirchentheorie nicht zurückfallen dürfen.53 Langes höchst differenzierte Analyse der vielfältigen Konflikte, die das kirchliche Handeln bestimmen, ist in der Folge jedoch immer wieder trivialisiert worden. Schon die Debatte der 1970er Jahre über das Konzept der ›Volkskirche‹54 fixierte sich oft auf das schlichte Gegenüber von ›konservativer‹ und ›liberaler‹ Kirchentheorie; auch die Diskussionen zum Gemeindeaufbau in den 1980er Jahren sind großenteils in diesem Schema befangen geblieben.55

Erst in jüngster Zeit werden einzelne kirchlich-institutionelle Konfliktlinien (wieder) als solche wahrgenommen. So hat Uta Pohl-Patalong die gängige Auseinandersetzung um »Ortsgemeinde und übergemeindliche Arbeit« nicht nur historisch und soziologisch, sondern auch konflikttheoretisch rekonstruiert,56 um dann ein die Gegensätze vermittelndes »Modell kirchlicher Strukturen« zu skizzieren. Und im Anschluss an das Impulspapier »Kirche der Freiheit« ist zuletzt auch der »vertikale« Konflikt (Ernst Lange) zwischen kirchenleitender und ortsgemeindlicher Perspektive systematischer entfaltet worden.57

Freilich: Die theologische Valenz von kirchlichen Struktur- und Zielkonflikten, wie sie Ernst Lange bereits unter dem Stichwort ›Konziliarität‹ skizziert hatte,58 wird für die Orientierung der kirchlichen Praxis nur gelegentlich genutzt.59 Eine Kirchentheorie, die unlösbare, weil in den Grundstrukturen des Glaubens und der Kirche begründete Konflikte nicht zu überwinden beansprucht und die sie auch nicht in neuen Struktur-Modellen aufzuheben versucht, sondern die solche Konflikte allererst differenziert be­schreibt, ihre theologischen Grundlinien freilegt und ihre produktive Kraft wahrnimmt – eine solche Kirchentheorie ist erst in Ansätzen erkennbar. Sie könnte sich, wie abschließend zu zeigen ist, nicht zuletzt an Schleiermachers Konzept der Theologie als Theorie der Kirchenleitung orientieren.

5. Kirchentheorie als theologische Theorie


Für die gegenwärtige Kirchentheorie ist die ›Achsenzeit‹ der Wende vom 18. zum 19. Jh. schon deswegen von großer Bedeutung, weil die religiösen, die kulturellen und die politischen Umwälzungen jener Jahrzehnte den äußeren Bestand der deutschen evangelischen Kirchentümer, aber auch ihre innere Orientierung so nachhaltig wie selten in Frage gestellt haben. In dieser Situation hat insbesondere Schleiermacher mit einer theoretischen Radikalität reagiert, die bis heute ihresgleichen sucht: Die gesamte wissenschaftliche Theologie wird bei ihm nicht mehr aus der Idee des Glaubens oder der christlichen Kirche heraus deduziert, sondern konsequent funktional, genauer: professionsbezogen verstanden; sie ist, wie er in der »Kurzen Darstellung« konstatiert, keine »reine«, sondern »eine po­sitive Wissenschaft«, deren Einsichten und Theorien »zur Lö­sung einer praktischen Aufgabe erforderlich sind«.60 Die Theologie erscheint von daher als Grundlage einer spezifischen Kompetenz; ihr Studium dient der Aneignung »derjenigen wissenschaftlichen Kenntnisse und Kunstregeln, ohne deren Besitz und Gebrauch eine zusammenstimmende Leitung der christlichen Kirche ... nicht möglich ist«.61

Dieses Konzept der Theologie als Theorie der Kirchenleitung wird von Schleiermacher bekanntlich durch einen dreigliedrigen Aufbau konkretisiert,62 in dem die »philosophische Theologie« das Wesen des Christentums und seiner Gemeinschaftsformen be­stimmt; gleichsam fundamentaltheologisch werden Kriterien und Grundsätze aller Kirchenleitung herausgearbeitet. Die »historische Theologie« vermittelt »die Kenntnis des zu leitenden Ganzen« in seinem jeweils geschichtlich gewordenen Zustand; sie umfasst genetische, auch exegetische wie empirisch-statistische Wissensbereiche zur Verfassung der Großkirchen, und zwar in ihrer sozialen, kulturellen und politischen Verflechtung. Und der »praktischen Theologie« weist Schleiermacher die Reflexion der Regeln und Methoden zu, denen die konkreten Leitungsvollzüge einer »besonderen Kirchengemeinschaft« im Ganzen wie im Einzelnen zu folgen haben. 63

Was dieses Zusammenspiel von »philosophischer« Wesensbestimmung, historisch-empirischen Detaileinsichten und methodischer Reflexion für das kirchenleitende Handeln konkret aus­trägt, das lässt sich besonders eindrücklich in Schleiermachers Theo­rie des »Kirchenregiments« studieren, die – zum ersten Mal – auch die Fragen und Probleme kirchlicher Gestaltung jenseits der Ortsgemeinde zum theologischen Thema gemacht hat.64 Es ge­lingt ihm hier nicht nur eine luzide empirische Darstellung der einschlägigen Konflikte, etwa zwischen »Klerus und Laien« (a. a. O., 569 ff.), zwischen Einzelgemeinde und Kirchenregiment (a. a. O., 587 ff.) oder zwischen einzelnen Landeskirchen (a. a. O., 699 ff.), nicht zuletzt zwischen verschiedenen Richtungen der Frömmigkeit (a. a. O., 630 ff.) – sondern diese Konflikte werden zugleich theo­logisch rekonstruiert. Auch wo diese Deutungen nicht (mehr) überzeugen, führen sie doch vor, wie die evangelischen Prinzipien des allgemeinen Priestertums, der individuellen Selbständigkeit im Glauben oder des Gewichts der lokalen Gemeindeversammlung konkrete Gestaltungsoptionen eröffnen.

Vorbildlich ist Schleiermachers praktisch-theologische Theorie der Kirchenleitung auch darin, dass sie die verschiedenen Subjekte jenes Handelns in den Blick nimmt und ins Verhältnis setzt: etwa Geistliche und Gemeinden, Gemeinden und kirchenleitende In­stanzen, Kirche und Staat (a. a. O., 664 ff.). Insbesondere in der Diskussion verschiedener Verfassungstypen (a. a. O., 538 ff.) wird deutlich, dass »Consistorial«-, »Episkopal«- und »Presbyterialsys­tem« nicht nur ›Basis‹ und Obrigkeit, sondern auch weltlichen und geistlichen Akteuren je unterschiedliche Leitungskompetenzen zuweisen.

Zu den Instanzen, die für »das evangelische Kirchenregiment« konstitutiv sind, gehört für Schleiermacher neben dem durch Verfassung und kirchliches Amt »gebundenen« auch ein »ungebundenes Element«, das in der »freien Einwirkung auf das Ganze, welches jedes Mitglied der Kirche versuchen kann« besteht und ohne das eine »Verbesserung der Verfassung« nicht denkbar ist.65 Diese »freie Geis­tesmacht«, die Schleiermacher programmatisch stets am Schluss seiner Ausführungen thematisiert, wird durch theologisch-akademische Lehre und religiöse Publizistik ausgeübt; sie ist darum, stärker noch als das »gebundene Element« der Kirchenleitung, auf eine »möglichst unbeschränkte Öffentlichkeit« des religiösen und wissenschaftlichen Austauschs angewiesen (a. a. O., § 328). Dass eine Kirchenleitung nach evangelischem Verständnis auch und gerade durch freie theologische und religiöse Kommunikation geschieht, dass sie also wesentlich ein öffentliches Kommunikationsgeschehen ist und erst in zweiter Linie ein »amtliches« Feststellen und Entscheiden, diese Einsicht erscheint bis heute kaum eingeholt.

Diese Auffassung von Kirchenleitung hat offenbar mit Schleiermachers Verständnis der (christlichen) Religion als eines wesentlich kommunikativen, auf subjektiver Expression und freier Aneignung beruhenden Phänomens der »Mitteilung« zu tun.66 Weil ihm die religiöse Mitteilung, und so auch der Gottesdienst, als ästhe­tisches Phänomen erscheint, darum bestimmt er en passant auch das Ziel des kirchenleitenden Handelns primär als ein Ausdrucksphänomen: Das Kirchenregiment kann nur den »Zweck haben, die Idee des Christentums nach der eigentümlichen Auffassung der evangelischen Kirche in ihr immer reiner zur Darstellung zu bringen, und immer mehr Kräfte für sie zu gewinnen« (a. a. O., § 313). Indem diese Zielbestimmung präzise bezogen ist auf die zeitgenössische Situation kultureller Marginalisierung und institutioneller Verunsicherung der Kirche, kann sie auch heute, angesichts ganz ähnlicher Herausforderungen, die empirisch wie theologisch an­gemessene Ausrichtung evangelischer Kirchenleitung anregen: nämlich darauf, eine profilierte, öffentlich wie individuell überzeugende Darstellung des Glaubens zu fördern. 67

Funktionsbestimmungen dieser Art eröffnen der praktisch-theologischen Kirchentheorie schließlich einen differenzierenden Blick auf ihren Gegenstand: dasjenige Handeln, welches der »zu­sam­menstimmenden« Gestaltung und Leitung der Kirche dient. Indem Schleiermacher die gesamte Theologie als Theorie der Kirchenleitung konzipiert, bringt er zum Ausdruck, dass alles Handeln der Geistlichen zur Ausprägung, zur Klärung oder Verwirrung jener öffentlichen »Darstellung« beiträgt, die der »Idee des Chris­tentums« und seiner sozialen Institutionen gilt. Nicht nur die Predigt,68 auch unterrichtliche, seelsorgliche oder administrative Vollzüge vermitteln und prägen stets ein bestimmtes Bild der Kirche; alles kirchliche Handeln trägt implizit zu ihrem öffentlichen Profil und insofern zu ihrer Leitung bei.

Diese Einsicht ermöglicht aber zugleich die Reflexion von Akten expliziter Kirchenleitung, nämlich solcher, in denen die Aufgabe einer gezielten und »zusammenstimmenden« Darstellung ausdrücklich in den Vordergrund tritt.69 Hier ist von Schleiermacher zuletzt noch dies zu lernen, dass ein solches Handeln weniger als ein technisch-organisierendes, auch nicht primär als ein entscheidungsförmiges Handeln zu konzipieren ist,70 sondern dass »alle besonnene Einwirkung auf die Kirche, um das Christentum in derselben reiner darzustellen, nichts anderes ist als Seelenleitung«.71 Zielt jene kirchenleitende »Einwirkung« sachlich auf die öffentliche Überzeugungskraft des Christentums, dann kann sie auch methodisch auf nichts anderes setzen als auf die Überzeugungskraft ihrer Argumente – ebendiese Freiheit der individuellen Überzeugung meint »Seelenleitung« hier.

Als genuine Medien evangelischer Kirchenleitung treten damit die Argumentation, die wechselseitige Auseinandersetzung, der deutende Umgang mit Konflikten in den Vordergrund. Angesichts des unhintergehbaren »Pluralismus der Kirchenverständnisse, der theologischen Positionen und religiösen Einstellungen« (Ernst Lange) kann eine bindende Übereinkunft über die Gestalt der Kirche nicht mehr autoritativ, durch unmittelbaren Rekurs auf Schrift oder Bekenntnis, oder durch administrative Entscheidungen hergestellt werden. Vielmehr ist eine evangelische Kirchenleitung offenbar auf Auslegung, auf Deutungen jener Grundlagen, auf inhaltliche Begründung ihrer Entscheidungen angewiesen – und damit auf theologische Einsichten, die den Grund, die gegenwärtige Gestalt und das Ziel der Kirche betreffen1.

Insofern eine praktisch-theologische Kirchentheorie solche klärenden Begriffe, erhellenden Einsichten und konsensfähigen Argumente bereit zu stellen versucht, wird sie sich ihrerseits als einen integralen Teil des kirchlichen Leitungshandelns begreifen – und bewähren müssen.

Summary


The current debate on the future of Protestant mainline churches in Germany concentrates on problems of structure, administration and leadership. For these questions empirical data are very important. The article underlines the relativity of those data, seen in their historical and theoretical horizons. Referring to three paradigmat­ic debates in the past two centuries, the article outlines some se­mantic and structural aspects of a practical-theological theory of church that comprises a theory of institution, a theory of conflict and, following Schleiermacher, a genuinely theological theory of joint church-leadership.

Fussnoten:

1) Kirche der Freiheit. Perspektiven für die evangelische Kirche im 21. Jahrhundert. Ein Impulspapier des Rates der EKD, hrsg. v. Kirchenamt der EKD, Hannover 2006; im Internet zugänglich unter www.ekd.de/ekd­­-kirchen/ zukunftskongress­­-text.html.
2) Vgl. die literarischen Debatten, die die EKD selbst im Internet dokumentiert (www.ekd.de/ekd­­-kirchen/materialien.html); dazu etwa EvTh 67 (2007), Heft 5; Hermelink, Jan/Wegner, Gerhard (Hrsg.): Paradoxien kirchlicher Organisation. Niklas Luhmanns frühe Kirchensoziologie und die aktuelle Reform der evang. Kirche, Würzburg 2008; Karle, Isolde (Hrsg.): Kirchenreform. Interdisziplinäre Perspektiven, Leipzig 2009.
3) Vgl. die Hinweise bei Hermelink, Jan: Die »Zukunft« der kirchlichen Organisation. Eschatologische Aspekte in der gegenwärtigen Debatte zur Kirchenreform, in: Körtner, H.-U. (Hrsg.), Die Gegenwart der Zukunft. Geschichte und Eschatologie, Neukirchen-Vluyn 2008, 85–103.
4) Evangelische Kirche in Hessen und Nassau (Hrsg.): Person und Institution. Volkskirche auf dem Weg in die Zukunft, Frankfurt a. M. 4. Aufl. 1993.
5) Die einschlägige Literatur wird gründlich aufgearbeitet bei Schwöbel, Marlene: Kirche auf dem Prüfstand. Eine Untersuchung zu den theologischen Orientierungen kirchlicher Strukturplanung, Marburg 2003; Beckmann, Jens: Wohin steuert die Kirche? Die evangelischen Landeskirchen zwischen Ekklesiologie und Ökonomie, Stuttgart 2007.
6) Vgl. etwa Pohl-Patalong, Uta: Ortsgemeinde und übergemeindliche Ar­beit im Konflikt. Eine Analyse der Argumentationen und ein alternatives Modell, Göttingen 2003; Hahn, Udo/Mügge, Marlies (Hrsg.): Zukunft wagen! Träume und Visionen deutscher Bischöfinnen und Bischöfe, Gütersloh 2006; Lück, Wolfgang: Die Zukunft der Kirche. Evangelische Gemeinden im 21. Jahrhundert, Darmstadt 2006.
7) Eine Auswahl aus den letzten Jahren: Dusza, Hans Jürgen: Schritte nach vorn. Wie Gemeinden Zukunftsperspektiven entwickeln, Bielefeld 2001; Böhlemann, Peter: Wie die Kirche wachsen kann und was sie davon abhält, Göttingen 2006; Hemminger, Wolfgang/Hemminger, Hansjörg: Wachsen mit weniger. Konzepte für die Evangelische Kirche von morgen, Gießen-Basel 2006; Herbst, Michael: Wachsende Kirche. Wie Gemeinde den Weg zu postmodernen Menschen finden kann, Gießen-Basel 2008.
8) Vgl. Kirche der Freiheit, a. a. O., 15 ff.18 ff.21 ff. u. ö.
9) Vgl. zuletzt Friedrich, Johannes/Huber, Wolfgang/Steinacker, Peter (Hrsg.): Kirche in der Vielfalt der Lebensbezüge. Die vierte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Gütersloh 2006.
10) Vgl. den Überblick bei Hermelink, Jan/Latzel, Thorsten (Hrsg.): Kirche empirisch. Ein Werkbuch, Gütersloh 2008.
11) Härle, Wilfried/Augenstein, Jörg u. a.: Wachsen gegen den Trend. Analysen von Gemeinden, mit denen es aufwärts geht, Leipzig 2008.
12) Vgl. zuletzt Bertelsmann-Stiftung (Hrsg.): Woran glaubt die Welt? Kom­mentare und Analysen zum Religionsmonitor 2008, Gütersloh 2009; Bo­chinger, Christoph/Engelbrecht, Martin/Gebhardt, Winfried: Die unsichtbare Religion in der sichtbaren Religion. Formen spiritueller Orientierung in der religiöser Gegenwartskultur, Stuttgart 2009.
13) Schulz, Claudia/Hauschildt, Eberhard/Kohler, Eike: Milieus praktisch. Analyse- und Planungshilfen für Kirche und Gemeinde, Göttingen 2008; Vögele, Wolfgang/Bremer, Helmut/Vester, Michael (Hrsg.): Soziale Milieus und Kirche, Würzburg 2002.
14) Institut für Wirtschafts- und Sozialethik Marburg (Hrsg.): Antworten – Fragen – Perspektiven. Arbeitsbuch zur Pastorinnen- und Pastorenbefragung der Evang.-lutherischen Landeskirche Hannovers, Hannover Juli 2005; dazu Hermelink, Jan: »Sind Sie zufrieden?«. Die Domestizierung des Pfarrberufs durch die kirchliche Organisation, in: Ders./ Grotefeld, S. (Hrsg.), Religion und Ethik als Organisationen – eine Quadratur des Kreises?, Zürich 2008, 119–143.
15) Vgl. aus der jüngsten Zeit nur Abromeit, Hans-Jürgen u. a. (Hrsg.): Spirituelles Gemeindemanagement. Chancen – Strategien – Beispiele, Göttingen 2001; Dietzfelbinger, Daniel/Teuffel, Jochen (Hrsg.): Heils-Ökonomie? Zum Zusammenwirken von Kirche und Wirtschaft, Gütersloh 2002; Famos, Cla Reto: Kirche zwischen Auftrag und Bedürfnis. Ein Beitrag zur ökonomischen Reflexionsperspektive in der Praktischen Theologie, Münster 2005; Stöber, Anna: Kirche – gut beraten? Betrachtung einer Kirchengemeinde aus betriebswirtschaftlicher und funktionalistisch-systemtheoretischer Perspektive, Heidelberg 2005; Fleßa, Steffen/Jähnichen, Traugott: Auf dem Weg zu einer »Kirchenbetriebslehre«. Impulse für eine Weiterentwicklung der Organisations- und Verwaltungsstrukturen kirchlichen Handelns, in: PTh 94 (2005), 196–216; Halfar, Bernd/Borger, Andrea: Kirchenmanagement, Baden-Baden 2007.
16) Vgl. Bassler, Karin: Finanzmanagement als Chance kirchlichen Lernens. Betriebswirtschaftliche und praktisch-theologische Analysen zu neuen Steuerungsinstrumenten der evangelischen Kirchen in Baden-Württemberg, Leipzig 2006.
17) Brummer, Arnd/Nethöfel, Wolfgang (Hrsg.): Vom Klingelbeutel zum Profitcenter? Strategien und Modelle für das Unternehmen Kirche, Hamburg 1997; Hauschildt, Eberhard: Ist die Kirche ein Unternehmen? Ökonomische Gütertheorie und die Praxis im Evangelischen Dekanat Wiesbaden, in: PTh 93 (2004), 514–528.
18) Vgl. Hauschildt, Eberhard: Hybrid evangelischer Großkirche vor einem Schub an Organisationswerdung. Anmerkungen zum Impulspapier »Kirche der Freiheit« des Rates der EKD, in: PTh 96 (2007), 56–66; Hermelink/Wegner, Paradoxien kirchlichen Organisation, a. a. O. – Klassische Texte sind Luhmann, Niklas: Die Organisierbarkeit von Religionen und Kirchen; in: Woessner, J. (Hrsg.), Religion im Umbruch, Stuttgart 1972, 245–285; Herms, Eilert: Religion und Organisation; in: Ders., Erfahrbare Kirche, Tübingen 1990, 49–79.
19) Vgl. Marsch, Wolf-Dieter: Institution im Übergang. Evangelische Kirche zwischen Tradition und Reform, Göttingen 1970; Preul, Reiner: Kirchentheorie, Berlin-New York 1997, 128 ff.
20) Gesellschaftstheorie wird gegenwärtig besonders rezipiert von Beck­mann, Wohin steuert die Kirche?, a. a. O.; Kurz, Alex: Zeitgemäß Kirche denken. Analysen und Reflexionen zu einer postmodernen kirchlichen Erwachsenenbildung, Stuttgart 2007; Fischer, Ralph: Kirche und Zivilgesellschaft. Probleme und Potentiale, Stuttgart 2008; Reppenhagen, Martin/Herbst, Mi­chael (Hrsg.): Kirche in der Postmoderne, Neukirchen-Vluyn 2008.
21) Vgl. (vor allem aus ostdeutscher Sicht) Ratzmann, Wolfgang/Ziemer, Jürgen (Hrsg.): Kirche unter Veränderungsdruck. Wahrnehmungen und Perspektiven, Leipzig 2000.
22) Auch in der Gesamtdebatte bilden die Beiträge aus der theologischen Wissenschaft nur ein kleines Segment; aus jüngster Zeit sind vor allem zu nennen: Abraham, Martin: Evangelium und Kirchengestalt. Reformatorisches Kirchenverständnis heute, Berlin-New York 2007; Beckmann, Wohin steuert die Kirche?, a. a. O.; Fischer, Kirche und Zivilgesellschaft, a. a. O., Hermelink/ Wegner, Paradoxien, a. a. O.; Kumlehn, Martin: Kirche im Zeitalter der Pluralisierung von Religion. Ein Beitrag zur praktisch-theologischen Kirchentheorie, Gütersloh 2000; Kurz, Zeitgemäß Kirche denken, a. a. O., Nüchtern, Michael: Kirche evangelisch gestalten, Heidelberg 2008; Pohl-Patalong, Ortsgemeinden, a. a. O.; Schwöbel, Kirche auf dem Prüfstand, a. a. O.
23) Vgl. nur Knoblauch, Hubert: Religionssoziologie, Berlin 1999, 152 ff.; Bochinger u. a., Die unsichtbare Religion, a. a. O.
24) Vgl. nur Weyel, Birgit/Gräb, Wilhelm (Hrsg.): Religion in der modernen Lebenswelt. Erscheinungsformen und Reflexionsperspektiven, Göttingen 2006.
25) Vgl. Huber/Friedrichs/Steinacker, Kirche in der Vielfalt, a. a. O., 26 ff.; zum Ganzen Hermelink, Jan: Praktische Theologie der Kirchenmitgliedschaft, Göttingen 2000, 191 ff.
26) Vgl. Kretzschmar, Gerald: Distanzierte Kirchlichkeit. Eine Analyse ihrer Wahrnehmung, Neukirchen-Vluyn 2001.
27) Vgl. Kirche der Freiheit, a. a. O., 49 ff.77 ff.; mit ähnlicher Tendenz auch Zimmermann, Johannes (Hrsg.): Kirchenmitgliedschaft. Zugehörigkeit(en) zur Kirche im Wandel, Neukirchen-Vluyn 2008.
28) Vgl. Vögele/Bremer/Vester, Soziale Milieus und Kirche, a. a. O.; ähnlich auch schon Wegner, Gerhard: Alltägliche Distanz. Zum Verhältnis von Arbeitern und Kirche, Hannover 1988.
29) Schulz u. a., Milieus praktisch, a. a. O., 12–15.
30) Vgl. Lienemann, Wolfgang (Hrsg.): Die Finanzen der Kirche. Studien zu Struktur, Geschichte und Legitimation kirchlicher Ökonomie, München 1989.
31) Vgl. Bassler, Finanzmanagement, a. a. O.; Erbacher, Volker/Kaiser, Thomas/Kaiser, Andrea (Hrsg.): »Wenn das Geld im Kasten klingt ...«. Die Kirche und das Geld, Stuttgart 2003; Andrews, Claudia/Dalby, Paul/Kreuzer, Tomas (Hrsg.): Geben, Schenken, Stiften – theologische und philosophische Perspektiven, Münster 2005.
32) Vgl. Hahn, Udo: Kirchliche Medienarbeit, in: Hermelink/Latzel, Kirche empirisch, a. a. O., 279–293.
33) Vgl. etwa Drägert, Christian u. a. (Hrsg.): Medienethik. Freiheit und Verantwortung. FS Manfred Kock, Stuttgart 2001; Hauschildt, Eberhard (Hrsg.): Kirche und Eventkultur. Wenn Christentum sich exponiert, in: PTh 91 (2001), H. 6; Uden, Ronald: Kirche in der Medienwelt. Anstöße der Kommunikationswissenschaften zur praktischen Wahrnehmung der Massenmedien in Kirche und Theologie, Erlangen 2004; König, Andrea: Medienethik aus theologischer Perspektive. Medien und Protestantismus, Marburg 2006.
34) Als Lehrbuch einschlägig ist Classen, Claus-Dieter: Religionsrecht, Tübingen 2006.
35) Vgl. zuletzt das Sammelwerk Rau, Gerhard/Reuter, Hans-Richard/ Schlaich, Klaus (Hrsg.): Das Recht der Kirche, 3 Bde., Gütersloh 1994–1997; Preul, Kirchentheorie, a. a. O., 224 ff.; Hermelink, Jan/Nottmeier, Christian: Kirchenrecht und kirchliche Praxis, PrTh 43 (2008), H. 3.
36) Vgl. zuletzt Kippenberg, Hans G./Schuppert, Gunnar F. (Hrsg.): Die verrechtlichte Religion. Der Öffentlichkeitsstatus von Religionsgemeinschaften, Tübingen 2005; Schmiedeke, Richard: »Unter eigener Leitung und Ordnung«. Die Kirchenordnung der Evangelischen Kirche im Rheinland, systemtheoretisch untersucht, Neukirchen-Vluyn 2009.
37) Dies hat zuletzt noch einmal deutlich gemacht: Fechtner, Kristian: Kirche und Gesellschaft. Volkskirche/öffentliche Kirche/Kirchlichkeit/christliche Gemeinschaft, in: Gräb, Wilhelm/Weyel, Birgit (Hrsg.), Handbuch Praktische Theologie, Gütersloh 2007, 89–100.
38) Besonders gut erforscht ist die Begriffsgeschichte von »Kirchlichkeit«, vgl. Rendtorff, Trutz: Theorie des Christentums, Gütersloh 1972; Burkhardt, Martin: Die Diskussion über die Unkirchlichkeit, ihre Ursachen und möglichen Abhilfen im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1999.
39) Vgl. Kunz, Ralph: Kybernetik, in: Grethlein, Christian/Schwier, Helmut (Hrsg.), Praktische Theologie – eine Theorie- und Problemgeschichte, Leipzig 2007, 607–684, hier 634 ff. im Blick auf das letzte Viertel des 19. und das erste Viertel des 20. Jh.s (dazu s. u. 3.). Auch die beiden weiteren hier betrachteten Achsenzeiten werden schon bei Kunz hervorgehoben, vgl. a. a. O., 643 ff. (Kirchenreform seit den 1960er Jahren), 622 ff. (Schleiermacher).
40) Vgl. Bloth, Peter C.: Praktische Theologie, Stuttgart u. a. 1994, 64 f.: »Schon in den Jahren vor und während des Ersten Weltkrieges ... hat wohl keine theologische Frage ein solches Echo und eine ähnliche Intensität der öffentlichen Debatte ausgelöst wie die sog. Kirchenfrage. ... In der ›revolutionär‹ offenen Situation nach dem Kriege stellte sich aber diese Frage hinsichtlich ihrer Motive und Antworten noch einmal anders. Dass sich daran nun und für lange Zeit Theologen aller Disziplinen, neben den Praktischen Theologen auch Systematiker, aber auch Theologen aus der inzwischen weit ausdifferenzierten ›Praxis‹ so stark beteiligten, verdient besondere Beachtung.«
41) Bloth, Praktische Theologie, a. a. O., 65 f.
42) Einen Überblick gibt Link, Christoph: Kirchliche Rechtsgeschichte: Kirche, Staat und Recht in der europäischen Geschichte von den Anfängen bis ins 21. Jahrhundert, München 2008.
43) Vgl. als wichtige Position Sulze, Emil: Die evangelische Gemeinde, Gotha 1891, 2., z. T. neu bearb. Aufl. Leipzig 1912; einen (pragmatischen) Überblick gibt Schian, Martin: Die evangelische Kirchengemeinde, Gießen 1907; stärker theoriebezogen referiert Pohl-Patalong, Ortsgemeinden, a. a. O., 97–109.
44) Vgl. nur Barth, Thomas: Elemente und Typen landeskirchlicher Leitung, Tübingen 1995; Rauhaus, Martin: Das kirchenrechtliche Gemeindeprinzip und seine Auswirkungen auf die kirchliche Verfassungsgestaltung, Frankfurt a. M. 2005.
45) Zur Geschichte der Synode vgl. nur Hölscher, Lucian: Kirchliche Demokratie und Synodalbewegung, in: D. Bockermann u. a. (Hrsg.), Freiheit gestalten. FS Günter Brakelmann, Göttingen 1996, 107–129; Huber, Wolfgang: Synode und Konziliarität, in: Rau, G./Reuter, H.-R., u. a. (Hrsg.), Das Recht der Kirche, Bd. 3, Gütersloh 1994, 319–348; Mehlhausen, Joachim: Art. »Synode«, in: EKL3 4, 1996, 609–615. Zur Historie der Kirchenverwaltung vgl. Heun, Werner: Art. »Konsistorium«, in: TRE 19, 1990, 483–488.
46) Vgl. die Skizze bei Hermelink, Jan: Doppelsinnigkeiten von »Gemeinde«. Potenzen eines Begriffs, in: Pohl-Patalong, Uta (Hrsg.), Kirchliche Strukturen im Plural. Analysen, Visionen und Modelle aus der Praxis, Hamburg 2004, 55–68.
47) Vgl. vor allem Rendtorff, Trutz: Volkskirche in Deutschland. Eine historisch-theologische Problemskizze, in: Nicolaisen, C. (Hrsg.), Deutsche und nordische Kirche im 20. Jahrhundert, Göttingen 1982, 290–317; zur neueren Diskussion vgl. Leipold, Andreas: Volkskirche. Die Funktionalität einer spezifischen Ekklesiologie in Deutschland nach 1945, Göttingen 1997.
48) Eine Ausnahme bildete die Skizze von Schröer, Henning: Inventur der Praktischen Theologie (1969), in: Krause, G. (Hrsg.), Praktische Theologie, Darmstadt 1972, 445–459. Schröer forderte eine »Lehre von der Kirchenreform ..., in der eben die Strukturplanung des kirchlichen Handelns konkret entfaltet wird« (a. a. O., 449) und nannte als deren Hauptprobleme etwa »die ›Demokratisierung‹ der Kirche (Änderung der Amts- und Ämterstruktur), die gesellschaftliche Diakonie, das Gruppenpfarramt, der Ausbau der Region« (ebd.).
49) Lange, Ernst: Die Schwierigkeit, Pfarrer zu sein (1973), in: Ders., Predigen als Beruf. Aufsätze zu Homiletik, Liturgie und Pfarramt, München 2. Aufl. 1982, 142–166, hier 145.
50) Lange, Ernst: Überlegungen zu einer Theorie kirchlichen Handelns (1972), in: Ders., Kirche für die Welt. Aufsätze zur Theorie kirchlichen Handelns, hrsg. v. R. Schloz, München-Gelnhausen 1981, 197–214, Zitate a. a. O., 197.198. Vgl. auch ders.: Der ›Antirassismus-Streit‹ in der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau. Möglichkeiten und Ansätze zu einer Konfliktanalyse (1972), in: Ders., Kirche für die Welt, a. a. O., 215–266.
51) Vgl. Lange, Überlegungen, a. a. O., 204; zur Inszenierung von Konflikten als Lernchancen vgl. auch ders., Sprachschule der Freiheit. Bildung als Problem und Funktion der Kirche, hrsg. von R. Schloz, München-Gelnhausen 1980, 89 ff. (zu P. Freire); 117 ff.133 ff.
52) Lange, Überlegungen, a. a. O., 208.
53) Das akzentuiert auch der kürzlich erschienene Band von Karle, Isolde (Hrsg.): Kirchenreform. Interdisziplinäre Perspektiven, Leipzig 2009.
54) Vgl. Lohff, Wenzel/Mohaupt, Lutz (Hrsg.): Volkskirche – Kirche der Zukunft?, Hamburg 1977; Kirchenkanzlei der EKD (Hrsg.): Thema Volkskirche. Ein Arbeitsbuch für die Gemeinde, bearb. v. Rüdiger Schloz, Gelnhausen 1978.
55) Daran hat auch die einschlägige Zusammenfassung wenig geändert, vgl. Möller, Christian: Lehre vom Gemeindeaufbau, 2 Bde., Göttingen 1987/1990.
56) Vgl. Pohl-Patalong, Ortsgemeinde, a. a. O., bes. 34 ff.; zum Modell vgl.a. a. O., 212 ff.
57) Vgl. Thomas, Günter: 10 Klippen auf dem Reformkurs der Evangelischen Kirche in Deutschland. Oder: Warum die Lösungen die Probleme vergrößern, in: EvTh 67 (2007), 361–387; Hermelink, Jan: Die Freiheit des Glaubens und die kirchliche Organisation. Praktisch-theologische Bemerkungen im Impulspapier des Rates der EKD »Kirche der Freiheit«, in: PTh 96 (2007), 45–55.
58) Vgl. Lange, Ernst: Die ökumenische Utopie oder Was bewegt die ökumenische Bewegung (1972), München 1986, 246–253.
59) Vgl. Huber, Wolfgang: Konziliarität – die Lebensform einer Kirche, die Frieden stiften will, in: Ders., Der Streit um die Wahrheit und die Fähigkeit zum Frieden, München 1980, 119–147; Cornehl, Peter: »Das Konziliaritätsmodell ist und bleibt vielversprechend«. Zur Aktualität von Ernst Langes Kirchentheorie, in: PTh 86 (1997), 540–566, bes. 546 ff.; Lindner, Herbert: Kirche am Ort. Eine Gemeindetheorie, Stuttgart 1995, 85 ff.
60) Schleiermacher, Friedrich D. E.: Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen (1811/1830), Kritische Ausgabe v. Heinrich Scholz, Leipzig 1910, ND 5. Aufl. Darmstadt 1982, § 1.
61) Schleiermacher, a. a. O., § 5.
62) Vgl. a. a. O., §§ 24–31.
63) A. a. O., § 259, vgl. §§ 260–265.
64) Vgl. Schleiermacher, Friedrich D. E.: Die praktische Theologie nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Aus Schleiermachers handschriftlichem Nachlass und nachgeschriebenen Vorlesungen hrsg. v. Jacob Frerichs, Berlin 1850 (SW I/13), Nachdruck Berlin-New York 1983 u. ö., 521–728. – Zu Schleiermachers Theorie der Kirche vgl. Dinkel, Christoph: Kirche gestalten. Schleiermachers Theorie des Kirchenregiments, Berlin-New York 1996; Gräb, Wilhelm: Praktische Theologie als Theorie der Kirchenleitung: Friedrich Schleiermacher, in: Grethlein, Christian/Meyer-Blanck, Michael (Hrsg.), Geschichte der Praktischen Theologie, Leipzig 2000, 67–110; Kumlehn, Kirche im Zeitalter, a. a. O., 50–109.
65) Schleiermacher, Kurze Darstellung, a. a. O., § 312.
66) Vgl. die Skizze dieses Zusammenhangs bei Luther, Henning: Praktische Theologie als Kunst für alle. Individualität und Kirche in Schleiermachers Verständnis der Praktischen Theologie, in: ZThK 84 (1987), 371–393.
67) In diese Richtung argumentieren besonders Dinkel, Christoph: Die Kirche in die Zukunft führen. Schleiermachers Theorie des Kirchenregiments, in: EvTh 58 (1998), 269–282; Gräb, Wilhelm: Kirche als Ort religiöser Deutungskultur, in: Ders., Lebensgeschichten – Lebensentwürfe – Sinndeutungen. Eine praktische Theologie gelebter Religion, Gütersloh 1998, 79–99.
68) Vgl. Hermelink, Jan: Die kirchenleitende Funktion der Predigt. Überlegungen zum evangelischen Profil der Kybernetik, in: PTh 94 (2005), 462–479.
69) Vgl. ähnlich, wenn auch (zu sehr) handlungstheoretisch gedacht, die Unterscheidung kirchlichen Handelns in ein kommunikatives und ein »disponierendes Handeln«, das »institutionell-organisatorische ... Rahmenbedingungen« für jene kommunikativen Vollzüge setzt, bei Preul, Kirchentheorie, a. a. O., 6.
70) So aber Preul, Kirchentheorie, a. a. O., 38 ff.
71) Schleiermacher, Kurze Darstellung, a. a. O., § 263.
72) Vgl. dazu die Skizze bei Rössler, Dietrich: Moderation der Diskurse. Praktisch-theologische Erwägungen zu Art und Aufgabe der evangelischen Kirchenleitung, in: Hauschildt, Friedrich (Hrsg.), Sine vi, sed verbo. Die Leitung der Kirche durch das Wort, Leipzig 2005, 157–172.