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Ausgabe:

Dezember/1996

Spalte:

1197–1199

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Koch, Traugott

Titel/Untertitel:

Zehn Gebote für die Freiheit. Eine kleine Ethik

Verlag:

Tübingen: Mohr 1995. IV, 194 S. 8°. Lw. DM 39,­. ISBN 3-16-146372-2

Rezensent:

Udo Kern

Dieses Buch ist nicht so sehr eine "kleine Ethik", sondern eher eine ethische Meditation dessen, was "sich im alltäglichen Leben der Menschen vollzieht" (1). Sie versteht sich als eine "Ethik der Wahrnehmung" (3) der Lebenswirklichkeit. Das letztlich allen Menschen Gemeinsame sei das Gute. Um die Auslegung dieses Guten geht es. "Ethisch geboten... ist das bewußte und tätige Einstehen für das, was das Leben lebenswert sein läßt. Dieses Gute... ist der Geist des Verstehens..., gelebt in der Freiheit der Gemeinsamkeit." (190) Demjenigen, dem sich das Gute "für sein Leben erschließt, der erkennt, daß er davon immer schon... lebt, allem eigenen Verkennen und Sichverschließen zum Trotz. Das ist wohl die grundlegende Einsicht überhaupt." (190) Damit haben wir so etwas wie Traugott Kochs ethisches Credo zitiert.

Die Themen des Dekalogs, auf dessen theologischen Auslegungspotential (biblisch-exegetisch und historisch-systematisch) der Vf. leider bewußt verzichtet und sie auch nicht wenigstens andeutend heranzieht, dienen K. als Explikationsrahmen seines ethischen Credos. Die Reihenfolge der Gebote ordnet der Vf. gemäß der eigenen ethischen Intention. Er beginnt mit den für ihn ethisch fundamentalen Geboten 8 (Thema: Wahrheit sagen und leben) und 5 ("Das Lebensrecht jedes Menschen"), ihnen folgen die Gebote 7 ("Das Eigentum und die Wirtschaft"), 4 ("Die Familie als Elternhaus"), 9/10 ("Das Begehren und das freie Sichöffnen"), 6 ("Das erotische Verlangen und die eheliche Lebensgemeinschaft"), 3 ("Die Feier der Gottesgegenwart"), 1 ("Der Glaube an den wahren Gott") und 2 ("Die Problematik unserer Bilder" und "Das Nennen des Namens Gottes"). Jedem dieser Hauptabschnitte stellt K. eine Trias voran, bestehend aus (1.) altestamentlichen Dekalogtext, (2.) neutestamentlichen entsprechenden Bezug und (3.) aktuellen Gebotstext im Stile einer moralischen Vermahnung. Aber K. will "keine Ethik der Imperative und Normen" (5), sondern eine Darlegung der "Überlegungen zum Bedenken dessen, was wir tun können, um dem uns aufgegebenen Leben gerecht zu werden" (7), geben. Die angesprochenen ethischen Themen werden unter fast totalem Verzicht des gesamten diesbezüglichen theologischen und philosophischen Diskurses entfaltet. In klarer, wenig Fremdworte und kaum Fachidiome benutzender Sprache wird bedacht, "was immer auch ­ und ohne sie (sc. die Ethik) ­ sich im alltäglichen Leben... vollzieht: Menschen machen sich Gedanken darüber, was gut und fördernswürdig und was schlecht, böse und verwerflich ist." (1)

Das Gute als ethischer Fundamentalhorizont impliziert streng die Wahrheitsrelation. Wahrheit sei bezogen auf andere. Deswegen sei sie auch diesen verständlich zu sagen. Wahrheit, auf Vertrauen angewiesen, wolle gelebt werden. So sei ein das Vertrauen entbehrendes schonungsloses Offenlegen eines Tatbestandes, das den von diesem Betroffenen alleine läßt, nun gerade nicht das Wahre. Die "Einsicht des Glaubens" in bezug auf die Wahrheit bestehe darin: "Lebensentscheidend, die Einsicht des Lebens, dürfte es sein... zu erfassen: Die Wahrheit selbst, auch die Wahrheit meines Liebens, erschöpft sich nicht in dem, was sich mir bislang von ihr mitgeteilt hat,... sie ist noch ungleich mehr und kann sich noch neu mit unbekannt anderen Seiten zeigen." (29) Unsere Erkenntnis übersteigend sei die Wahrheit. Sie stehe nicht zu unsere Disposition. Sie gelte in ihrer Unbedingtheit und Verbindlichkeit. Um "die eine Wahrheit jeder Sache" sei Konflikten und Schmerzen nicht ausweichend zu streiten. (31) Der Streit um die Wahrheit sei aber ein friedlicher, wenn denn tatsächlich um die Wahrheit gerungen werde, d. h. den Streitenden gemeinsam die Wahrheit unbedingte Intention sei. Wahrheit ließe sich nicht jemanden oktroyieren. Zwang und Gewalt seien ihr fern. "Nur wehrlos siegt die Wahrheit ­ nur frei. Sie kann sich nur selbst erschließen. Wir machen das nicht." (32)

Ethik sei grundsätzlich auf das Recht angewiesen, "eine Ethik ohne einen Begriff des Rechts" sei "nicht denkbar", denn notwendig für reale Freiheit sei eine gesellschaftlich durchgesetzte Rechtssicherheit. (33) Die jedem Menschen aufgrund seiner Menschenwürde zustehenden Attribute Freiheit, Menschenschwürde und Lebensrecht könnten nur reale Freiheit für den Menschen werden, wo tatsächlich staatlich geltendes Recht sich vollzöge. So sei z. B. der Rechtsstaat notwendig, um die Wahrheit sagen zu können. Im bedingten staatlichen Recht zeige sich, wenn es tatsächlich Recht sei, "immer auch etwas Unbedingtes, etwas, das die Wahrheit und die Würde des Menschseins betrifft und also auch Gottes Sache ist." (42).

Das positive Recht des Staates bedeute aber keine "Werteordnung" oder gar "objektive(n)r Nomos", den es staatlich durchzusetzen gelte, sondern der weltanschaulich und religiös neutral zu seiende Staat habe "das Recht der Selbstbestimmung jedes Einzelnen" mittels positiven Rechts "zu achten und d. h. einzuräumen." (42) Für legitimes geltendes Recht müsse "die geltende Rechtsordnung formales und nicht ethische Inhalte vorschreibendes Recht sein" (43). Der Rechtsstaat selbst "folgt aus der Menschenwürde als dem ursprünglichen Menschenrecht" (52). Selbstbestimmung, Eigenintiative und damit wirtschaftlich gesehen freie Marktwirtschaft ließe dieser Rechtsstaat zu. Damit sei auch Konkurrenzkampf gegeben. Als sozialer Rechtsstaat achte der der Menschenwürde raumgebende Staat auf "einen gewissen sozialen Ausgleich zugunsten der im Konkurrenzkampf des freien Marktes Unterlegenen", und zwar qua sozialer Marktwirtschaft (43).

Die dem Rechtsstaat entsprechende politische Form sei nur die durch ein freigewähltes Parlament und Gewaltenteilung kontrollierte Demokratie. Das bedeute aber ethisch keine Idealisierung und Absolutsetzung des demokratischen Staates, denn auch dieser sei von menschlicher Bosheit durchtränkt und perennierend zu meliorieren. Aber er sei die bisher "geschichtlich erreichte ­ und in dieser Relativität die Gott-gegebene ­ Gestaltung staatlichen Rechts: als Recht der äußeren Freiheit in Gemeinsamkeit." (54) Die Sanktionsgewalt dieses Staates sei "Durchsetzungsgewalt des Staates für das Recht" (45). Als äußerstes Mittel sei auch das Instrument Krieg (der wegen "der unantastbaren Würde und des unbedingten Lebensrechtes eines jeden Menschen willen, prinzipiell niemals sein" [45 f.] dürfe) als Durchsetzung des Rechts gegen drohende Existenzvernichtung eines Staates anzuwenden. ­ Unrecht hinnehmender Rechtsverzicht, wie er vom Jesus der Bergpredigt und bei Paulus (1. Kor. 6,1-8) postuliert wird, ist generell nach K. für den am öffentlichen Leben partizipierenden Menschen (und Christen) wegen der Verantwortung des Rechts gegenüber dem anderen nicht verpflichtend. (Einen Hinweis auf die Zweireichelehre gibt K. hier nicht.)(1) Allerdings sei ­ und das mache Mt 5, 39 ff. evident ­ das Recht nicht frei von Unzulänglichkeiten und damit nicht Höchstes. Höher als das gesamte Recht sei "die frei gebende Zuwendung zum Anderen" (48).

Dem ethischen Grunddatum Freiheit der Person entspricht nach K. das Recht auf Eigentum. Zu Recht wendet er sich gegen das zuweilen modische Desavouieren jeglichen Habens und Haben-wollens als ethisch verwerflich, egoistisch. Das Recht auf Eigentum sei "ein Freiheitsrecht". (58) Eigentum(2), Verfügen über Sachen sei Instrumentarium menschlicher Freiheitsäußerung, sei "Schutzraum um die Person" (58; vgl. das Negativbeispiel Obdachloser). Die Selbständigkeit einer Person sei in gesellschaftlicher Hinsicht nur durch Eigentum gegeben. Das Freiheitsrecht auf Eigentum habe zwar jeder, aber "wer nichts hat, geht leer aus, muß in Unfreiheit existieren." (65) Diesem Widerspruch muß widersprochen werden wegen der ihm eignenden Destruktion in bezug auf Recht, Wirtschaft und Gesellschaft. Gegen diese Willkürlichkeit in der Marktwirtschaft müsse effizient angegangen werden. "Die mit der Willkürfreiheit zugelassene Marktwirtschaft kann nur ­ gegen ihre Willkürlichkeit ­ als soziale, also sozialstaatlich regulierte Marktwirtschaft funktionieren, in der der Staat" als sozialer Rechtsstaat am Markt zuvor frei erwirtschaftete "Einkünfte einzieht und umleitet, um für einen sozialen Ausgleich zu sorgen." (65)

Nachdrücklich plädiert K. in der Sexualethik für die auch öffentlich rechtsverbindliche Ehe zwischen Mann und Frau, allerdings ohne Desavouierung anderer Verhältnisse. Er wirbt überzeugend für erstere und versucht ihre Vorteile einsichtig zu machen. Angesichts der Bedeutung der Ehe sei überlegte gelebte Vorbereitung unerläßlich, insbesondere in der Hinsicht, ob das inaugurierte Eheverhältnis auf Dauer geschlossen werden könne. Wo es gelänge "die Ehe zweier Menschen zu einer einmaligen Gestaltung des Menschlichen werden zu lassen ­ ist sie... zu einem Ebenbild Gottes geworden." (138) Höchsten Belang habe die öffentlich-rechtliche dokumentiere Ehegemeinschaft für Kinder, indem ihnen ein Raum von rechtsicherheitlicher Verläßlichkeit, der notwendig für gedeihliches Heranwachsen und Reife "zu einem menschenwürdigen Leben freier Gemeinsamkeit" (80) ist, eröffnet wird. Die Familie sei, wenn es auch entartet "Terror der Familie" (78) gäbe, nicht am Ende und nicht ersetzbar, sondern bedürfe der Erneuerung.

Mit Emanuel Hirsch nennt K. die Familie "ein schicksalhaftes füreinander da Sein" (83). Wenn K. fragend konstatiert, daß der auch durch Versöhnung charakterisierte innere Zusammenhalt von Eltern "ohne Religion, ohne den Glauben an die versöhnende und vergebende Liebe Gottes" nicht durchgehalten werden könne (90), so ist das reichlich ungeschützt, denn dieses könnte ja die Desavouierung nichtreligiöser Ehepaare bedeuten: als gäbe es bei ihnen nicht inneren Zusammenhalt. Hilfreich sind K.s Ausführungen zum Begehren. Mit Recht weist er auf das seit Augustin in den christlichen Kirchen dominierende unangemessene Verstehen des Begehrens hin. Der Pejorisierung des Begehrens als zerstörerische Selbstliebe (Selbstbezogenheit) = Sünde müsse widersprochen werden. Denn Begehren sei ja gerade ein Über-sich-hinaus. Von Außen, vom Anderen erregt, passiere das Begehren des Ichs. "Und so ist das Begehren nie ohne Objekt: ohne das, was ein Mensch entbehrt und deshalb begehrt. ...Es ist kein Leben ohne Begehren". (112) Aber es gibt auch die zerstörerische Begierde, die den anderen destruierend verzweckt um der eigenen Ich-Gefangenschaft willen.

K. lädt ein, den "Feiertag fürs Leben", "die sonntägliche Feier der Gottesgegenwart" (146) zu begehen. Der "Besinnung auf Gott, den unausschöpflich guten Geist" (153) diene der Gottesdienst. In allem Guten sei der Geist des eindeutig Guten, der Geist Gottes lebensschaffend am Werk. "An die Wirklichkeit und an die Überlegenheit des Guten, gerade wider allen Augenschein zu glauben, das ist der Sinn des Gottesglaubens." (166 f.) Ethisch geboten sei daher aus der Perspektive des Glaubens "ein Handeln im Guten" (190). Zu vertrauen sei auf die Selbstdurchsetzung des Guten, d. h. auf das durch Gott gesetzte Gute. "Gottes Leben ist so... unser Lebendigwerden im lebenswert Guten" (192).

Auch bei seiner ethischen Zentralkategorie des Guten berücksichtigt K. (ebenso bei seinen sonstigen Ausführungen) kaum den nun m. E. auch bei einer Erörterung des Guten nicht zu vernachlässigenden theologischen und philosophischen Diskurs. Manch einem wird diese Abstinenz wohl auch willkommen sein, denn der Vf. schafft eine ebene Bahn für ein ethisches Gespräch, das die Gründungen und Fundamente nicht problematisiert, sondern sich konzentriert auf der ersteren bewegt. Kritisch muß aus reformatorischer Perspektive der Vf. gefragt werden, ob der Vf. hinreichend das Sündersein des Menschen, das er zwar nicht generell ausblendet, aber auch nicht profiliert genug einbringt, in seinen ethischen Überlegungen berücksichtigt.

K.s Buch ist keine theologische Ethik im Sinne einer ethischen Fachmonographie und schon gar nicht ein theologisch-ethisches Lehrbuch. Das hat der Vf. auch nicht intendiert. Es ist eine sehr hilfreiche ethische Besinnung aus theologischer Perspektive, wobei das Theologische sich zwar fast selbstverständlich (oft nicht ausgesprochen und defizient), aber nicht genügend profiliert einstellt. K.s allgemeinverständliche ethische Besinnung kann der "Erbauung" dienen, und zwar nicht als fundamentalistische Engführung, sondern im Sinne der oikodome von Römer 15,2.

Fussnoten:

(1) Nicht zugestimmt werden kann K.s verengter und auch sachlich nicht zutreffender Bestimmung und aktuelle Eliminierung des "homo politicus" (54 f.).
(2) Zu Recht weist K. auf den in der Neuzeit sich gewandelten Eigentumsbegriff hin: Eigentum werde in ihr primär "nun erwirtschaftet und durch Arbeit erworben ­ und nach wie vor vererbt." (64)