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Ausgabe:

Januar/2010

Spalte:

107-108

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

[Starck, Christian]

Titel/Untertitel:

Die Ordnung der Freiheit. Festschrift für Christian Starck zum siebzigsten Geburtstag. Hrsg. v. R. Grote, I. Härtel, K.-E. Hain, Th. I. Schmidt, Th. Schmitz, G. F. Schuppert u. Ch. Winterhoff.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2007. XX, 1267 S. m. 1 Porträt. gr.8°. Lw. EUR 179,00. ISBN 978-3-16-149166-5.

Rezensent:

Hartmut Kreß

Die Festschrift ist in fünf Hauptteile gegliedert: Geschichte und Theorie des Rechts; Deutsches öffentliches Recht; Europarecht; Rechtsvergleichung, ausländisches und internationales öffentliches Recht; Staat und Kirche. Die Autoren greifen immer wieder das umfassende Schrifttum des Rechtswissenschaftlers Christian Starck auf, dem der Band gewidmet ist. Zu »Staat und Kirche« spielt als Anknüpfungspunkt auch Starcks Vorsitz bei den »Essener Gesprächen zum Thema Staat und Kirche« eine Rolle, den Heiner Marré in seinem Übersichtsartikel »Staat-Kirche-Modelle in Europa und in den USA« einleitend erwähnt (1165). Zum Staatskirchenrecht wird z. B. der Sachverhalt diskutiert, dass das Grundgesetz in Artikel 93 I 4a den Kirchen nicht die Möglichkeit zur Verfassungsbeschwerde eingeräumt hat (Hartmut Maurer, 335–350). Darüber hinaus wird eine Bestandsaufnahme derzeitiger Regelungen über den Religionsunterricht vorgelegt – hinsichtlich neuerer Konzeptionen des Religionsunterrichts freilich in recht zurückhaltender Form (Martin Heckel, 1093–1128).
Einen überaus bemerkenswerten Akzent setzt der Aufsatz über die Menschenwürde, den der Präsident des Bundesverfassungsgerichts Hans-Jürgen Papier beigesteuert hat (371–382). Im Spiegel der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts befasst er sich mit einigen Themen, für die diese Grundnorm der Verfassung zu beachten ist: Luftsicherheitsgesetz, Sicherungsverwahrung, Großer Lauschangriff, Folterproblematik oder soziale und wirtschaftliche Existenzsicherung. Um es abzuwehren, dass die Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes ausufernd in Anspruch genommen wird, hält Papier fest, sie gewähre »maximalen Schutz … bei eingegrenzter Reichweite« (379). Besondere Aufmerksamkeit verdienen seine Überlegungen zum Würde-Status bzw. zur Schutz­würdigkeit früher Embryonen, aus denen sich humane embryonale Stammzellen gewinnen lassen. Die Legitimität des Zugriffs auf frühe Embryonen – indirekt in der embryonalen Stammzellenforschung; direkt in der Reproduktionsmedizin – ist in der Bundesrepublik Deutschland zum Gegenstand kulturkampfähnlicher Kontroversen geworden. Die deutschen Rechtsnormen, das Em­bryonenschutzgesetz von 1991 und das Stammzellengesetz von 2002/2008, sind auch aufgrund kirchlicher Interventionen sehr viel restriktiver gefasst als die Regelungen in anderen europäischen Staaten. Es ist sehr gut vorstellbar, dass sich das Bundesverfassungsgericht in Zukunft damit wird befassen müssen, ob der Frühembryo tatsächlich so rigoros und unbedingt zu schützen ist, wie die deutsche Gesetzgebung es zurzeit vorsieht. Papier möchte einer eventuellen Entscheidung des Gerichtes nicht vorgreifen und trägt seinen Gedanken »ins Unreine« vor (381): So sehr Würdeschutz (Artikel 1 Grundgesetz) und Lebensschutz (Artikel 2 Abs. 2 Grundgesetz) miteinander verschränkt sind, sind sie auch voneinander »abzuschichten«. Ihm zufolge ist angesichts embryonaler Stammzellenforschung überdies die Therapieoption für künftige Patienten als Abwägungsaspekt sehr ernst zu nehmen. Es ist hinzuzufügen, dass diese Aussage Papiers auch noch nach dem Jahr 2007 gilt, als erstmals humane induzierte pluripotente Stammzellen (iPS-Zellen) hergestellt wurden; diese sind nämlich nur im ständigen Vergleich mit embryonalen Stammzellen beforschbar. Aus der »Abschichtung« von Würde und Lebensschutz des noch unentwi­ckelten Frühembryos ergibt sich für Papier ein Abwägungsspielraum, der es er­laubt, gesetzliche Restriktionen des Zugriffs auf Embryonen zu lockern. Zu hoffen ist, dass künftige rechtspolitische und verfassungsrechtliche Debatten diese Argumentation, die auch ethisch sehr plausibel ist, rezipieren. Der Sache nach ist die »Flexibilität«, die Papier empfiehlt, gleicherweise in Anbetracht reproduktionsmedizinischer Therapien geboten, bei denen der Gesundheitsschutz der betroffenen Frau und der erhofften Kinder zu berück­sichtigen ist.
Überaus anregend sind noch weitere Beiträge der Festschrift. So wird kritisch gefragt, ob das Thukydides-Zitat in der Ursprungsfassung der Präambel des EU-Verfassungsvertragsentwurfs von 2003 der heutigen Demokratie tatsächlich gerecht wird (Hans-Hugo Klein, 579–592). Ein anderer Aufsatz führt die heutige, der Menschenwürde und individuellen Freiheit verpflichtete Rechtsordnung einlinig auf das Christentum zurück (Paul Kirchhof, bes. 281 ff.). Hier wäre freilich eine angemessenere Gewichtung des philosophischen Erbes sinnvoll gewesen. Auch ethisch und theologisch ist lehrreich, welcher Stellenwert im heutigen internationalen Recht dem Toleranzbegriff zukommt (María J. Roca, 905–928). Abschließend sei eine andere Thematik im Schnittfeld von Rechtswissenschaft und Ethik erwähnt: Grundrechte sind nicht nur als Abwehrrechte, sondern auch als staatliche Schutzpflichten zu deuten. Hierauf gehen Christian Callies (201–218) oder Chien-liang Lee (297–317) ein. Es ist zu erwarten, dass dieser Sachverhalt zukünftig z. B. im Blick auf das Grundrecht auf Gesundheitsschutz und ge­sundheitliche Versorgung von Menschen eine große Rolle spielen wird (vgl. hierzu auch Hans-Jürgen Papier, 381; Peter-To­bias Stoll, 1024).
Auf zahlreiche Impulse der Festschrift werden Rechtswissenschaften, Religionsrecht und Ethik in Zukunft jedenfalls nutzbringend zurückgreifen können.