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Ausgabe:

Januar/2010

Spalte:

103-104

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Link, Christoph

Titel/Untertitel:

Kirchliche Rechtsgeschichte. Kirche, Staat und Recht in der europäischen Geschichte von den Anfängen bis ins 21. Jahrhundert. Ein Studienbuch.

Verlag:

München: Beck 2008. XVIII, 277 S. gr.8° = Kurzlehrbücher für das juristische Studium. Kart. EUR 39,00. ISBN 978-3-406-58091-8.

Rezensent:

Hendrik Munsonius

Dieses Buch schließt eine Lücke. Eine lehrbuchartige Darstellung der Kirchlichen Rechtsgeschichte, die insbesondere auch dem evangelischen Kirchenrecht die gebotene Aufmerksamkeit widmet, hat bislang gefehlt. Dies wurde der Bedeutung der kirchlichen Rechtsgeschichte für Theorie und Praxis des Kirchenrechts nicht gerecht. Ist doch das Bewusstsein der konfessionellen, territorialen und temporalen Partikularität jeder geschichtlichen Erscheinungsform der Kirche und ihr Spannungsverhältnis zur Universalität der geglaubten Kirche im evangelischen Kirchenverständnis konstitutiv, so gilt dies in spezifischer Weise für das Kirchenrecht als die jeweilige verbindliche Ordnung des kirchlichen Handelns.
Hervorgegangen ist das Buch aus dem Vorhaben, den rechtsgeschichtlichen Teil für das Lehrbuch zum evangelischen und katholischen Kirchenrecht von de Wall und Muckel zu schreiben. Das nun vorliegende Ergebnis zeigt, wie richtig die Entscheidung war, es als eigenständiges Werk zu publizieren. Jede weitere Kürzung hätte einen empfindlichen Verlust an Substanz oder Verständlichkeit bedeutet. Es liegt nunmehr ein Lehrbuch vor, in dem 2000 Jahre kirchlicher Rechtsgeschichte auf 250 Seiten dargestellt werden. Dabei werden sowohl die Entwicklungen in der evangelischen und der römisch-katholischen Kirche als auch die Wechselwirkungen mit dem staatlichen Recht entfaltet.
L. leitet die Darstellung mit Deutungsansätzen von Rudolf Sohm, Adolf von Harnack und Hans von Campenhausen zur Entstehung des Kirchenrechts ein. Dabei wird deutlich, dass das Recht in der Kirche vom Glauben zu unterscheiden, nicht aber zu trennen ist. Die anschließende Darstellung umfasst in sieben Abschnitten die Entwicklung von der Urgemeinde bis zur Gegenwart (1. Die Kirche in der antiken Welt [8–25], 2. Das Mittelalter [26–53], 3. Kirchenspaltung und Konfessionalisierung [54–91], 4. Die Kirche und das Entstehen des »Modernen Staates« [92–122], 5. Das »lange 19. Jahrhundert« [123–162], 6. Die Umwälzungen des 20. Jahrhunderts [163–207], 7. Neubeginn, Kontinuität und Wandel. Die Kirchen vor den Herausforderungen der zweiten Jahrhunderthälfte [208–253]). Der Aufbau folgt im Wesentlichen der Chronologie. Dabei treten Entwicklungslinien, Kontinuitäten und Brüche deutlich zutage. Wiederholt werden Zusammenhänge durch Vorblicke und Rück­verweise herausgestellt. Die zunehmende Ausdifferenzierung der territorialen Rechtsordnungen wird dadurch abgebildet, dass nach einer Darstellung der größeren Zusammenhänge die Entwicklung in einzelnen Territorien kurz und prägnant referiert wird. Zudem findet mit der Neuzeit eine zunehmende Konzentration auf das Gebiet des Alten Reichs und schließlich auf Deutschland statt. – Beispielhaft sei auf einzelne Themen hingewiesen:
Die Sammlung und Kodifizierung des kanonischen Rechts wird der Chronologie entsprechend an drei Stellen behandelt: Zunächst wird die Entstehung und Sammlung der Schriften des Corpus Iuris Canonici von 1140 bis 1582 im Zusammenhang geschildert (35–43). Dabei geht L. auch auf die Wirkungen für das weltliche Recht ein und benennt als Errungenschaften, die auf das kanonische Recht zurückzuführen sind, die Berücksichtigung von Vorsatz und Schuld neben der äußeren Tatbestandsverwirklichung, die Klagbarkeit formloser Verträge und das Eherecht sowie die Ausbildung einer Korporationentheorie. Im Zusammenhang der Reformation weist L. auf die (subsidiäre) Fortgeltung des kanonischen Rechts in der evangelischen Kirche hin (85–87). Der zweite Entwicklungsschritt war der Erlass des Codex Iuris Canonici von 1917 im Gefolge des 1. Vatikanischen Konzils (156–159). Dabei ging es darum, das römisch-katholische Kirchenrecht umfassend darzustellen und abzugrenzen, was die Kirche als ihre eigenen Angelegenheiten an­sieht. Schließlich ist mit dem Codex Iuris Canonici von 1983 die Bewegung des 2. Vatikanischen Konzils »aufgenommen, fortgeführt, teilweise indes auch kanalisiert« worden (230–237). Der neue CIC erscheint hier als moderner, entwicklungsoffener und ökumenisch anschlussfähiger als der CIC von 1917.
Der Reformation kommt besonderes Gewicht zu. L. schildert ebenso überschaubar wie instruktiv, wie aus theologischen Einsichten, tradierten Rechtsvorstellungen und Machtpolitik der Territorialherren eine Umgestaltung der Ordnung bewirkt wird. Paradigmatisch wird an der Ausbildung des landesherrlichen Kirchenregiments deutlich, wie die theologische Begründung in Spannung steht zur landesherrlichen Anknüpfung an vorreformatorische Vorstellungen, wonach das Herrscheramt die Sorge für das Kirchenwesen ebenso einschließt wie diejenige für das Seelenheil der Untertanen (62 f.82 f.). Der Faden wird mit der Ausdifferenzierung durch das Territorial- und das Kollegialsystem im Zusammenhang mit der Ausbildung des modernen Staates in der Aufklärung wieder aufgegriffen (102–105). Der Abschnitt über das 19. Jh. veranschaulicht, wie durch zunehmende Differenzierung und Ausbildung einer eigenen kirchlichen Ordnung das Ende des landesherrlichen Kirchenregiments und die Trennung von Staat und Kirche 1917/18 heraufgeführt worden sind.
Das Verhältnis von Kirche und weltlicher Macht wird nicht zuletzt an der Geschichte von Konkordaten und Kirchenverträgen deutlich. Nach der Erwähnung von Konkordatsschlüssen im Mit­telalter geht L. in jeweils eigenen Abschnitten auf die Konkordatspolitik des frühen 19. Jh.s (124–128), die erste Phase der Konkordate und Kirchenverträge nach der Trennung von Staat und Kirche in der Weimarer Republik (183–191), die zweite Phase in der frühen Bundesrepublik (222–224) und die dritte Phase nach der deutschen Wiedervereinigung ein (246–248). Dabei wird die Entwicklung von einem Instrument päpstlicher Privilegiengewährung oder landesherrlicher Staatskirchenhoheit über ein Koordinationssystem zweier je eigenständiger Ordnungsmächte hin zu einer »Ordnung grundrechtsgesicherter Freiheit« anschaulich.
Indem L. die Entwicklung des Kirchen- und Staatskirchenrechts bis in die unmittelbare Gegenwart darstellt, wird einerseits plausibel, wie die gegenwärtige Gestalt der Kirche in einem historischen Zusammenhang mit der Urgemeinde steht. Andererseits ist damit zu rechnen, dass die Darstellung und Bewertung der neuesten Entwicklungen mit zunehmendem zeitlichen Abstand noch einmal in einem anderen Licht erscheint.
Der Text ist detailliert in Paragraphen gegliedert und mit Randnummern versehen, ohne dass der Zusammenhang der Darstellung dadurch zerrissen würde. Hilfreiche Erläuterungen sind zudem oft in den Fußnoten zu finden. Die konzentrierte Ausführung ist in sich geschlossen; über die kirchenrechtliche Fragestellung hinaus erfährt der Leser allerhand über Kirchengeschichte und die Entwicklung des Staatsverständnisses. Jedem Paragraphen sind reichlich Hinweise auf weiterführende Literatur beigegeben. Sorgfältig erarbeitete Personen- und Orts-/Sachregister ermöglichen es, Themen aufzufinden und durch die Zeit zu ver­folgen.
Das Buch wird seinen Platz behaupten. Eine derart umfassende, differenzierte und konzentrierte Darstellung der kirchlichen Rechtsgeschichte setzt stupende Kenntnis voraus, wie sie nur aus langjähriger und umfangreicher Forschungsarbeit erwachsen kann. Man wird es L. so leicht nicht nachtun können.