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Ausgabe:

Dezember/1996

Spalte:

1195 f

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Bödege-Wolf, Johanna

Titel/Untertitel:

Menschen, Müll und Moral. Konflikte bei der Ansiedlung von Deponien und Verbrennungsanlagen –­ ein Beitrag zur politischen Ethik der Risikogesellschaft

Verlag:

Münster-Hamburg: LIT 1994. XI, 305 S. gr.8° = Schriften des Instituts für christliche Sozialwissenschaften, 29. DM 48,80. ISBN 3-85258-2200-1.

Rezensent:

Traugott Jähnichen

Die vorliegende Dissertationsschrift untersucht exemplarisch für viele umweltpolitische Auseinandersetzungen die Konflikte bei der Ansiedlung von Müllverbrennungsanlagen und stellt die Frage, inwieweit Loyalität zu politischen Entscheidungen eingefordert werden bzw. wann Widerstand gegen solche Entscheidungen moralisch berechtigt sein kann. Dementsprechend geht es in dieser Studie wesentlich um die Konfliktdimension und damit die sozialen Aspekte der umweltpolitischen Diskussion und weniger um naturwissenschaftliche und technische Fragen.

Ausgehend von einer Analyse von Fallbeispielen gesellschaftlicher Konflikte um Abfallentsorgungsanlagen führt B.-W. soziologische Bestimmungen des Risikobegriffs ­ es werden hier die entsprechenden Arbeiten von Beck und Luhmann referiert ­ ein, da gerade ein soziologisch präzisierter Risikobegriff angesichts vor allem lokal virulenter Auseinandersetzungen die individuelle wie die gesellschaftliche Prägung der Wahrnehmung und Bewertung von Risiken sowie die Vehemenz der Konflikte und die mangelnde Konsensbereitschaft zu erklären vermag. Im folgenden werden die Risikoerfahrungen von Menschen als Kontrasterfahrungen gedeutet und auf ihre ethisch relevanten Aspekte sowie auf ihre Wissensbestände hin untersucht, bevor auf der Basis einer christlich geprägten Anthropologie die grundlegende Frage nach der ethischen Berechtigung von Widerstand bzw. Loyalität gegenüber dem allgemein Gewollten erörtert wird.

B.-W. kommt im Verlauf ihrer Überlegungen zu dem Ergebnis, daß all diejenigen unter dem Vorbehalt des Risikos stehenden Handlungen, bei denen nicht alle Folgen zu überblicken sind und die zur Erreichung eines Zieles gleichzeitig auch negative Folgen nach sich ziehen, "eine besonders sorgfältige Legitimation in einem gesellschaftlichen Entscheidungsablauf erfordern." (202) Dennoch sind diese Handlungen nicht prinzipiell zu unterlassen, sondern sie können und müssen sogar, wenn angemessene Gründe vorliegen, ausgeführt werden. Diese Gründe werden im Rahmen eines schöpfungstheologisch fundierten Kapitels über Handlungsnormen einer Umweltethik erörtert.

Die Studie grenzt sich hier kritisch gegen Formen eines ideologischen Mißbrauchs von Ethik im Sinn einer Legitimierung der eigenen Interessen ab. Stattdessen hat der ethischen Argumentation im öffentlichen Diskurs eine eigenständige, kritisch-korrigierende Funktion zuzukommen, welche Ermessensurteile deutlich von ethischen Urteilen der Bevorzugung oder Verurteilung zu trennen hat. Konkret urteilt B.-W., daß trotz der gesellschaftlich aufweisbaren Pluralität der Begründungsformen für den Umweltschutz "die Konsequenzen für die Vorzugsregeln häufig nicht weit auseinander liegen. Alle ethischen Entwürfe votieren für einen Schutz der Menschen und fordern ihn für alle Menschen gleichermaßen. Alle erkennen die Verpflichtung zum Artenschutz und die Ablehnung von Tierversuchen unter bestimmten Bedingungen an." (149)

Von diesen Prämissen her erscheinen ihr Abfallentsorgungsanlagen "nicht als ablehnungsbedürftig, da ohne sie der Umweltschutz noch weniger verwirklicht wird." (202) Allerdings ist diese Option an die Bedingung einer umfassenderen abfallwirtschaftlichen Umstrukturierung der Gesellschaft rückzubinden, so daß die weitestgehende Vermeidung von Abfällen sowie eine entsprechende Reaktion auf zurückgehende Abfallmengen oder neue technologische Erkenntnisse stets zu gewährleisten sind.

Eine solche umweltethische Position, die, da sie auch den Schutz zukünftiger Generationen und der Tiere einfordert, stets ein advokatorisches Element enthält, hat sich in einer pluralistischen Gesellschaft mit anderen Interessen und Ansprüchen zu vermitteln. Da eine autoritative Durchsetzung umweltethischer Belange ­ hier wird kritisch auf die Vorstellungen Hans Jonas’ einer ökologisch sensiblen Machtelite eingegangen (vgl. 161 ff.) ­ auf Grund ihrer totalitären, die Gewissen der einzelnen bindenden Tendenzen abgelehnt wird, kommt alles darauf an, die Verfahrensweisen zur Beschlußfassung umweltpolitischer Entscheidungen im Sinn der formalen Gerechtigkeit zu verbessern, um nicht zuletzt auch die Akzeptanz der Entscheidungen zu erhöhen. Dementsprechend reflektiert der Schlußteil der Arbeit gängige und perspektivische Verfahrensregeln, um schließlich ein sozialethisch verantwortliches Verfahren aufzuzeigen.

Hier kommt B.-W. zu dem Ergebnis, die gängige Praxis des Planfeststellungsverfahrens dahingehend zu ergänzen, daß die jeweils betroffenen Gruppen nicht erst in der Anhörungsphase, sondern bereits in der Phase der Projektsuche und -beschreibung beteiligt werden sollten. Durch diese Vorverlagerung sollen so früh wie möglich die Perspektiven der Expertenlogik und die der Betroffenen verschränkt werden und sich beide kompromißbereit "in den Kriterien für die Standortsuche niederschlagen." (269)

Problematisch bleibt, daß nur schwer alle relevanten Gruppen an den Verfahren zu beteiligen sein werden. Bestimmte Interessen, wie die der zukünftigen Generationen, die der häufig indirekt betroffenen Menschen in den Ländern des Südens oder die der Tiere sind per se nicht in die Verfahrensprozesse einzubinden, so daß diesbezüglich die bleibende Notwendigkeit einer advokatorischen Ethik herausgestellt wird. B.-W. sieht hier eine besondere Aufgabe von Christen und Kirchen, sich als Träger einer advokatorischen Ethik zu profilieren.

Obwohl angesichts der Fülle der zur Urteilsbildung herangezogenen Fragestellungen manche nur recht knapp verhandelt werden ­ dies gilt vor allem für das Kapitel über "Handlungsnormen einer Umweltethik" (108 ff.) aber auch für die zu wenig erörterte Problematik jeder advokatorischen Ethik (187 ff.; 274 ff.) -, überzeugt die Studie mit ihrer gut durchdachten Anlage und ihrem kritischen Urteilsvermögen. B.-W. ist es gelungen, den möglichen Beitrag theologisch-sozialethischer Analysen an Hand einer exemplarischen umweltethischen Konfliktkonstellation aufzuweisen. Der von dieser Studie aufgezeigten Perspektive, durch eine kritische ethische Argumentation in der öffentlichen Diskussion zur Versachlichung und zur Suche nach konsensfähigen Lösungen beizutragen, wird man eine zentrale Bedeutung für künftige umweltethische Konflikte kaum absprechen können.