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Ausgabe:

Januar/2010

Spalte:

99-101

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Daniels, Justus von

Titel/Untertitel:

Religiöses Recht als Referenz. Jüdisches Recht im rechtswissenschaftlichen Vergleich.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2009. XIII, 239 S. gr.8°. Kart. EUR 44,00. ISBN 978-3-16-149900-5.

Rezensent:

Helmut Goerlich

Bei diesem Buch handelt es sich um eine Dissertation, die an der Humboldt-Universität zu Berlin von Bernhard Schlink betreut wurde, aber nicht ohne Forschungsaufenthalte des Autors an der Benjamin N. Cardozo School of Law der Yeshiva-Universität und an der Columbia-Universität, beide in New York City, möglich geworden wäre. Zudem ging der Arbeit ein Studium der Philo­sophie und Rechtswissenschaft auch in Leipzig und Budapest voraus.
Die Untersuchung hat ein religiöses Recht zum Gegenstand, das nicht staatlich ver­ankert ist. Ähnlich anderen älteren Religionen ist das jüdische Recht mit Kategorien des staat­lichen Rechts nicht einzufangen. Das war im frühen Christentum ähnlich, worauf D. allerdings nicht eingeht. So sehr es wohl berechtigt sein mag, die gemeinsame Geschichte von jüdischem und christlichem Recht einer besonderen Untersuchung zuzuführen, so sehr bildet doch der zu knappe historische Bezugs­rahmen der Untersuchung ein Problem. D. benutzt Begriffe wie Staat, Recht und Religion, öffentliche Gewalt, Gewaltmonopol und Gesellschaft ohne weitere theoretische Reflexion. Sicherlich aber ist »der« Staat in der Antike – mindestens außerhalb des römischen Rechts – ebenso etwas anderes als der heutige Staat wie die öffentliche Gewalt in einem anderen Kontext steht und die damalige Gesellschaft und Religion anders zu fassen sind, als wir das heute tun. Solche Erwägungen ignoriert die Arbeit, sie benutzt moderne Begriffe wie »Transnationalität«, »Pluralismus« oder »Rechtskultur«, ohne zu prüfen, ob die dahinterliegenden Denkmuster übertragbar sind. Das ist allerdings vielleicht angesichts des Themas nicht anders möglich. Denn müsste bei einer solchen juristischen Dissertation zunächst ein historischer und rechtstheoretischer Bezugs­rahmen erstellt werden, so würde die Arbeit wahrscheinlich in dieser Anstrengung stecken bleiben und gar nicht zu ihrem eigentlichen Gegenstand kommen. Dass aber in der jüdischen Tradition diese Kategorien selbst ein Problem sind, das wird nicht nur am eigenartigen »Staatsreligionsrecht« des heutigen Staates Israel sichtbar, sondern auch an der jüdischen Orthodoxie, die mit der Kategorie eines säkularen Staates nichts an­fangen kann.
Was den Aufbau der Arbeit angeht, so beginnt sie – nach einer Einleitung, die jüdisches Recht als Rechtskultur sieht und das Ziel des Vergleichs mit deutschem Recht formuliert – zunächst damit, Grundlagen und Strukturmerkmale des jüdischen Rechts darzustellen. Danach werden einige Vergleichsfelder abgeschritten: Biomedizin, Todesstrafe, Kollision von Rechtsordnungen und autoritative Interpretation von Recht. Ein weiteres Kapitel greift die Ziele des Rechtsvergleichs auf und erörtert seinen Ertrag. Am Ende steht als Schlusskapitel eine Zusammenfassung.
Auf den Vergleichsfeldern zeigt sich, wie nah und fern zugleich die Versatzstücke der Argu­mentation sind. Zudem wird sichtbar, wie tendenziell ähnliche Kategorien – etwa die der absoluten Verbindlichkeit von Recht – sowohl im religiösen als auch im säkular-staat­lichen Recht anzutreffen sind. Dies erinnert deutlich daran, dass letztlich im frühen Christen­tum ähnliche Dissonanzen mit einem säkular-absoluten Anspruch auftreten konnten. Außerdem zeigt sich, in welchem Maße innerhalb des religiösen Rechts Reform und Wandel möglich sind. Die Bearbeitung des Problems der Kollision von Rechtsordnungen und die Fragen nach einer autoritativen oder anders definierten Interpretationsmacht führen zu aktuellen Themen der jüngeren Zeit hin, also etwa zur Frage der Konstitu­ierung eines Rechtspluralismus bei fortbestehender, wiewohl durch transnationale Strukturen veränderter Staatlichkeit. Diese Pluralismusdebatte kann heute auch hier nicht mehr übergan­gen werden. Sie ist einerseits durch die Studien des Ehepaars Benda-Beckmann zu Indonesiern in Deutschland und den Niederlanden geprägt, andererseits hat sie einen indischen und englisch-britischen Erfahrungshintergrund. In diesem Zusam­men­hang steht die kanadische Debatte um eine religiös geprägte Schiedsgerichtsbarkeit, die – den staatlichen Gerichten vorgeschaltet – den jeweiligen Gruppen und der Wahrung deren personal-religiösen Rechts dienen soll. In Ländern wie Großbritannien wird diese Frage erörtert, weil man realisiert, dass ein großer Teil der Bevölkerung überhaupt nur äußerlich und nicht real den Regeln des staatlichen Rechts folgt. Dabei wird man sicher sagen müssen, dass die jeweiligen Staaten gewiss auf der Wahrung eines Mindeststandards des ordre public ihres Rechts werden behar­ren müssen – anders als in Indien, wo ein von zumeist in England ausgebildeten Politikern der Congress-Partei favorisierter Verfassungsauftrag aus dem Jahr 1950, ein einheitliches Zivilrecht (vor allem in Bezug auf das Familien- und Erbrecht) zu schaffen, wegen des Widerstandes aller größeren religiösen Gruppen nicht durchsetzbar war.
Für all das Verständnis solcher Rechtspluralismen bedarf es aber nicht nur der Kenntnis der verschiedenen Rechte und ihrer Ge­schichte. Es verlangt auch, dass man Literatur auf den Weg bringt, die sie bekannt macht, vergleicht und vermittelt. Dem dient die Arbeit von D., die, wie schon gesagt, erhebliche methodische, his­torische, sprachliche, rechtssoziologisch-kulturwissenschaftliche sowie staatstheoretische Schwierigkeiten zu bewältigen hatte. Dennoch ist unzweifelhaft der Versuch erkennbar, die Tragfähigkeit der Ergebnisse sicherzustellen. Die Tiefe der strukturellen Analyse erreicht das aber nicht ganz. Das ist der Preis dafür, dass tradierte, dem Juristen unproblematische Begriffe das Feld beherrschen. Auch besitzen wir weder die sprachliche noch die historische oder gar insgesamt sozial- und staatswissenschaftliche Vorbildung, derlei zu leisten. Daher schwimmt die Arbeit auf einer von der Selbstverständlichkeit säkularer Staatlichkeit, liberaler Gesell­schafts­modelle und deren Rechtsstrukturen geprägten Oberfläche. Die Tiefenschichten der kulturellen Differenz zu religiösem Recht in seinem Totalitätsanspruch werden nicht erreicht.
Dennoch ist die Arbeit ein Anfang, in der deutschen Rechtswissenschaft einen Ge­genstand zu thematisieren, demgegenüber un­ser selbstverschuldetes, provinzielles Unwissen endlich überwunden werden muss – zumal es immer die Gefahr in sich trägt, zu stupiden, politisch gefährlichen, aber auch zu unter Gebildeten und ebenso deren Verächtern wieder nicht mehr ganz so seltenen Verirrungen zu führen.