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Ausgabe:

Januar/2010

Spalte:

96-98

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Reininghaus, Richard

Titel/Untertitel:

Die hausgemachte Religion. Kommunikation und Identitätsarbeit in Hauskreisen. Eine Untersuchung zu religiösen Kleingruppen in Württemberg und etablierter Kirche am Ort.

Verlag:

Tübingen: Tübinger Vereinigung für Volkskunde e. V. 2009. 358. S. 8° = Untersuchungen des Ludwig-Uhland-Instituts der Universität Tübingen, 108. Kart. EUR 23,00. ISBN 978-3-932512-56-8.

Rezensent:

Johannes Zimmermann

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Baumann-Neuhaus, Eva: Kommunikation und Erfahrung. Aspekte religiöser Tradierung am Beispiel der evangelikal-charismatischen Initiative »Alphalive«. Marburg: Diagonal-Verlag 2008. 349 S. m. Abb. 8° = Religionswissenschaftliche Reihe, 27. Kart. EUR 30,00. ISBN 978-3-939346-08-1.


Bei den hier vorgestellten Arbeiten handelt es sich um zwei sozialwissenschaftliche Dissertationen, die sich beide einem »boomenden« religiösen Phänomen »in einer ›schwindenden‹ Landeskirche« (Baumann-Neuhaus, 27) mit ethnographischen Methoden zuwenden. Richard Reininghaus, emeritierter württembergischer Dekan, untersucht Hauskreise in Württemberg in kulturwissenschaftlicher Perspektive, die Schweizer Religionswissenschaftlerin Eva Baumann-Neuhaus wendet sich dem »Alpha-Kurs« mit religionssoziologischer Motivation zu.
Der kulturwissenschaftliche Zugang bei Reininghaus zeigt sich bereits bei Themen wie dem Tisch, den Liedern, die gesungen werden, der Lektüre der Hauskreisleute, ihrer häuslichen Religionsausübung und deren »Requisiten«. Er befasst sich mit dem Selbstverständnis der Hauskreise, mit ihrem »Innenleben«, mit Formen der Interaktion und mit Rollen. Die kulturelle Bedeutung der Kommunikation in den Hauskreisen sieht er in der »Identitätsarbeit«.
Der »Eigen-Sinn« der Hauskreise besteht für Reininghaus im Umgang mit der tradierten Religion, insbesondere der Bibel. Hauskreisleute nehmen sich »die Freiheit, in biblischen Texten eine neue und sie betreffende Bedeutung zu finden, auch wenn diese Sicht nicht der herrschenden Lehre ihrer Kirche, ihrer Praxis und deren ›amtlicher‹ Interpretation entspricht« (60).
Spannend ist insbesondere das Kapitel »Hauskreise, die Macht und die Kirche« (145-196). Dabei liegt ein Fokus auf Konflikten mit Vertretern der Pfarrerschaft. Wo ein Teil der Gemeinde eigene Versammlungsformen entwickelt, die dem Pfarramt nicht unterstellt sind, kann das zu Konflikten und Konkurrenz führen: »Toleranz, geschwisterliches Denken und Einfühlungsvermögen erscheinen … wie weggeblasen, sobald die Position in der eigenen Gemeinde berührt wird« (170). Umgekehrt gibt es auch Hauskreise, die sich machtbewusst verhalten. Aber auch dort, wo Pfarrerinnen und Pfarrer die Hauskreise in die Gemeinde »einbinden« wollen, kann es zu Konflikten kommen. Reininghaus beobachtet eine »Resistenz von Kleingruppen gegenüber kirchlichen ›Programmen‹« (172).
Weiter fragt Reininghaus nach »Kirchenkonzepten«: »Hauskreise eignen sich offenkundig besonders gut, um … weitreichende Erwartungen für eine grundlegende Erneuerung der (evangelischen) Kirche an ihnen festzumachen« (236). Das hindert ihn nicht daran, in den Hauskreisen ein »kulturell bedeutsames Erneuerungspotenzial der Religion« (319) zu sehen: »Mit ihrer besonderen und differenzierten Form von Eigenständigkeit, Kreativität und meist freundlicher Distanz zu den hegemonialen Kräften des Systems ›Kirche‹ zeigen sich Hauskreise als eine leistungsfähige Energie der Veränderung überkommener kirchlicher Strukturen und so als ein Motor religiösen Wandels« (314).
In der Arbeit von Baumann-Neuhaus geht es um den Alpha-Kurs, in der Schweiz aus markenrechtlichen Gründen »Alphalive« ge­nannt. Nach der Vorstellung des Kurses, von seiner Herkunft und Prägung her der charismatischen Bewegung zuzurechnen, hebt sie im Hinblick auf die Didaktik das Bemühen um eine »demokratische und partizipative Lernatmosphäre« (90) hervor. Der Kurs fördere »die teilnehmenden Subjekte als selbständige und aktive Produzenten religiösen Denkens und Erfahrens« (258).
Inhaltliches Thema ist für Baumann-Neuhaus »Erfahrung«, religionshistorisch bettet sie den Alpha-Kurs in die »›Rede von der Erfahrung‹ seit dem Pietismus« (104) ein. Im Zentrum steht die Frage nach der kommunikativen Konstruktion der »Erfahrbarkeit« und »Erfahrung« von »transzendenter Wirklichkeit«. Dies erfolgt durch eine »frame extension« der Alltagswirklichkeit hin zur religiösen Wirklichkeit. Das Religiöse wird nicht zu einer Sonderwelt, sondern als in der Alltagswelt erfahrbar dargestellt. Auf diese Weise werden die »religiösen Inhalte« für heutige Menschen anschlussfähig. Die Anleitung zur totalen Umkehr bzw. zum Wechsel in ein ganz anderes Sinnsystem wird dabei zu keinem Zeitpunkt gefordert (196). Die Folge: »Im Umfeld von Alphalive kann es … immer nur zu Teiltransformationen kommen« (197). – Gott wird stärker als Vater und Freund, weniger als Autorität und Majestät dargestellt. »Macht und Distanz bleiben so als Merkmale Gottes marginal, während seine Nähe und Empathie zu den Menschen stark betont wird« (233). Baumann-Neuhaus sieht im Alpha-Kurs einen »kundenorientierten Kurs«, der »bei den Teilnehmenden einen individualisierten und situativ anpassungsfähigen Glauben« (300) fördert und zu einer privaten und verinnerlichten Gottesbeziehung führt.
Die temporäre Kursgemeinschaft hat zur Folge, dass die resultierenden individuellen religiösen Wirklichkeitskonstruktionen po­tentiell instabil bleiben, wenn die Individuen nicht dauerhaft Mitglieder einer religiösen Gemeinschaft werden. Hier sieht Baumann-Neuhaus die »messbare Kehrseite« des großen Erfolgs des Alpha-Kurses, »nämlich die der erfolglosen Integration der Kursabgänger und -abgängerinnen in die bestehenden Gemeinschaften« (329). Das hält sie für ein typisch spätmodernes Phänomen: Die »starke, aber tendenziell kurzfristige Resonanz« auf der Seite des In­di­viduums könne nicht wirklich eine Lösung »für die Problematik der schwindenden Bindekraft religiöser Gemeinschaften« bieten (331).
Über die unterschiedlichen »Tonlagen« und Einschätzungen am Ende wäre zu diskutieren. Bei allen Unterschieden der beiden Arbeiten ergeben sich gleichwohl interessante Konvergenzen: Beide Ar­beiten befassen sich erstens mit Arbeitsformen, die schwerpunktmäßig Menschen im mittleren Lebensalter (25–50 Jahre) erreichen, für kirchliche Arbeit ansonsten eher ein Problemfeld. Zweitens führen beide Male Linien hin zum Pietismus, entsprechend fällt auch die gegenwärtige Verortung aus. Beide Arbeiten wenden sich drittens den mittlerweile ökumenisch verbreiteten Phänomenen im Bereich der evangelischen Landeskirchen zu. Viertens geht es in beiden Arbeiten schon dem Titel zufolge um (religiöse) »Kommunikation« und fünftens gelingt es beiden Autoren vorbildlich, »zwischen der empathischen Feldarbeit und der wertneutralen Analyse zu vermitteln« ( Baumann-Neuhaus, 10). Reininghaus verbirgt seine theologischen und kirchlichen Interessen nicht, bei Baumann-Neuhaus bleibt die Frage nach ihrer eigenen Positionalität bis zum Ende un­beantwortet.
In der praktisch-theologischen Diskussion war die Debatte zu Glaubenskursen und Hauskreisen bisher von Gegensätzen ge­prägt: Vom Mainstream wurden sie kaum beachtet, von Protagonisten der Gemeindeentwicklung als unentbehrlicher Baustein für Mission und Gemeindeaufbau betrachtet. Der empirische Zugang kann hier einen wichtigen Beitrag zur Versachlichung der Debatte liefern. Die sozialwissenschaftliche Außenperspektive fordert die einen zu einer Auseinandersetzung mit dem Erfolg der beiden Formen heraus – die anderen dazu, Erwartungen an der Realität zu überprüfen.
Beide Arbeiten werfen Themen auf, bei denen sich die theologische Vertiefung und Weiterführung lohnt: Die Fragen nach dem Umgang mit Macht, nach Potenzialen der Erneuerung, nach Ge­meinschaftsbildung, nach »Nachhaltigkeit« und »Kundenfreundlichkeit«, aber auch nach religiöser Kommunikation, Erfahrung und Gewissheit sind über Hauskreise und Glaubenskurse hinaus Fragen an das gesamte kirchliche Handeln.