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Ausgabe:

Januar/2010

Spalte:

94-96

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Hermelink, Jan, u. Stefan Grotefeld [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Religion und Ethik als Organisationen – eine Quadratur des Kreises?

Verlag:

Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2008. 289 S. 8° = Christentum und Kultur, 8. Kart. EUR 30,00. ISBN 978-3-290-17454-5.

Rezensent:

Thomas Schlag

Der Organisationsbegriff hat im Kontext kirchenleitenden Handelns in jüngerer Zeit unverkennbar Konjunktur. An ökonomischen Leitbildern orientiert, gehören Fragen von Organisationsmanagement und -entwicklung gegenwärtig offenbar zum »must« kirchenreformerischer Überlegungen. Umso mehr erstaunt es, dass eine tiefgründige Debatte über den Organisationsbegriff selbst bisher innerhalb der gegenwärtigen Theologie kaum zu konstatieren ist. Die hier versammelten Beiträge, die aus einer interdisziplinären Vorlesungsreihe an der Universität Göttingen im Wintersemester 2006/2007 hervorgegangen sind und von dem an der dortigen Theologischen Fakultät angesiedelten Forschungsschwerpunkt »Glaube – Ethik – Organisation« beauftragt wurden, versuchen diesen notwendigen Diskurs breit und multiperspektivisch zu befördern.
Nun ließen sich die Beiträge durchaus im Einzelnen der (im Band eher etwas irritierenden) Abfolge entlang referieren und jeder von ihnen wäre die nähere Darstellung zweifellos wert.
Dies gilt einerseits für die Beiträge, die die Frage nach Ethik und Religion als Organisationen aus der außertheologischen Perspektive angehen: so die prägnanten Ausführungen des Soziologen Matthias Koenig zu den Determinanten und Resultanten der institutionellen Persistenz des deutschen Religionsrechts in Gestalt eines spezifischen Staat-Kirche-Verhältnisses (9–22), die aus juristischer Perspektive gewonnenen Überlegungen zur Organisation von Re­ligionsgemeinschaften von Werner Heun mit einem ausgesprochen aufschlussreichen religionshistorischen Abriss insbesondere des protestantischen kirchlichen Selbstverständnisses im Rahmen staatlichen Rechts (23–52) sowie die auf dem Boden einer begrifflichen Differenzierung von Moral, Recht und Ethik erfolgende kritische Einschätzung kirchlich-organisatorischer Zweckrationali­tät durch den Rechts- und Sozialphilosophen Dietmar von der Pfordten (161–178).
Dass durch den Band wertvolle Überlegungen zur Frage von Ethik und Religion als Organisation und in Organisationen geliefert werden, gilt auch für die gleichsam innertheologischen Beiträge: so, wenn in kirchengeschichtlicher Hinsicht Thomas Kaufmann die Grundfrage »›Kirche‹ vs. ›Organisation‹« luzide als konfessionelle, geschichtstheologisch, ekklesiologisch und nicht zuletzt hochpolitisch grundierte Konfrontation zwischen Lutheranern und dem Jesuitenorden im späten 16. und frühen 17. Jh. nachzeichnet (73–92), Joachim Ringleben in systematischer lutherischer Perspektive im ausführlichen kritischen Rekurs auf Troeltsch, Kant und W. von Humboldt das Verhältnis von Wort bzw. Sprache und Organisation beleuchtet und dabei in produktiv-warnendem Sinn die notwendige Spannung von Glaubenssubjekt und System betont (53–72) und Christine Axt-Piscalar einen protestantisch verantwortbaren Organisationsbegriff im Sinn der »sich entziehenden Momente« gerade in der klaren Unterscheidung zur internen Codierung der katholischen Kirchenorganisation und deren hierarchischem Amtsverständnis herausarbeitet (93–118).
Zur differenzierten Auseinandersetzung tragen auch die in dezidiert ethischer Perspektive angestellten Überlegungen zum Organisationsbegriff bei: So macht Stefan Grotefeld in kritischer Auseinandersetzung mit Rawls und der Neutralitätsthese des politischen Liberalismus in überzeugender Weise die Frage nach der moralischen Legitimität staatlicher Machtausübung zum An­knüpfungs­punkt für sein Plädoyer öffentlicher Rechtfertigung religiöser Überzeugungen auch in organisatorischer Gestalt (179–196). Reiner Anselm erschließt durch den Blick auf Klinische Ethikkomitees ein Verständnis von Organisationen als eben nicht nur zweck-, sondern wertrationalen Größen, die im konkreten Fall einer Klinik und deren »institutioneller Moral« durch ebensolche Komitees selbst eine ihnen entsprechende Kommunikationskultur im Sinn eines verstehenden Austausches unterschiedlicher Sichtweisen bzw. eines theologisch inspirierten Ausgleichs zwischen Wirklichem und Möglichem befördern können (197–211). Im weiteren ethikbezogenen Zusammenhang legt Andreas Grünschloß aus religionswissenschaftlicher Perspektive eine ausführliche und detaillierte Analyse der Scientology-Organisation vor und markiert deren ethisch-technologische, »strukturell perfide« Diskursstrategien, wobei seine Hoffnung, »irgendwann einmal, nachhaltig Ethik in Scientology hineinzubekommen«, doch einigermaßen überrascht (213–257).
Vonseiten der Praktischen Theologie konkretisiert zum einen Jan Hermelink mit Verve den Beitrag der Organisationsdebatte zur Analyse kirchlichen Handelns durch eine Beleuchtung der EKD-Mitgliedschaftsstudien sowie weiterer Reformpapiere und entwi­ckelt daraus die nachdenkenswerte These, dass die Pfarrerinnen und Pfarrer schon durch das Design der Befragungen mit Fokus auf ihr berufliches Handeln »immer ausdrücklicher – auch als Funktionsträger einer kirchlichen Organisation in Anspruch genommen« und dadurch geradezu für das System »domestiziert« werden (119–143). Zum anderen nimmt Martin Rothgangel auf dem Hintergrund des bildungspolitischen und universitären Reformeifers die Konsequenzen für die Lehramtsausbildung Religion in den Blick und benennt dabei angesichts der »operativen Geschlossenheit« des Gesamtsystems kritisch die Folgen für die »Organisation Theologische Fakultät« und ihre fachspezifischen Gestaltungsmöglichkeiten (145–159).
Dass nun aber über die bloße Abfolge und Zusammenstellung hinaus die Herausgeber die Notwendigkeit eines systematischen Gesamtertrags der einzelnen Beiträge selbst erkannt haben und tatsächlich bei aller Vielfalt die aufgezeigten Perspektiven durchaus stringent miteinander verknüpfbar sind, macht das abschließende »Evangelisch-theologische Resumé« Jan Hermelinks deutlich (257–279). Neben einer ausführlicheren Zusammenfassung der versammelten Beiträge führt er dabei verschiedene Grundzüge der organisationstheoretischen Debatte, wie die Bezeichnung eines spezifisch neuzeitlichen Typus der Vergemeinschaft, ein hohes Maß an Zweck­rationalität sowie die Wirkungsweise von Organisationen im Modus öffentlicher Erkennbarkeit und sozialer Prägnanz auf. Von dort aus werden Sinn und Grenzen einer theologischen Adaption benannt, wobei hier vor allem die nicht-normative, sondern deskriptiv-analytische Verwendung des Begriffs etwa im Blick auf die brisante Be­stimmung von Mitgliedschaftsverhältnissen hervorgehoben wird. Dass es letztlich aber die Eigenart der evangelisch-theologischen Lehre selbst ist, die über die Legitimität und Plausibilität der pragmatischen Rede von »Kirche als Organisation« entscheidet, wird ebenso einleuchtend betont wie die zukünftige Aufgabe, »einen spezifisch evangelischen Organisationsbegriff im interdisziplinären Gespräch« zu entfalten. Der Band liefert insofern jenseits altherge­brachter theologischer Fundamentalkritik im Namen exklusiver Wortverkündigung und nicht zuletzt durch die abschließende inhaltsbezogene Synopse Hermelinks wertvolle Grundlagen für die theologische Theoriebildung und Praxis in Blick auf die Organisationsformen von Religion, Ethik und Kirche.