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Ausgabe:

Januar/2010

Spalte:

91-93

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Dahlgrün, Corinna

Titel/Untertitel:

Christliche Spiritualität. Formen und Traditionen der Suche nach Gott. M. e. Nachwort v. L. Mödl.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2009. XIV, 694 S. gr. 8° = de Gruyter Studienbuch. EUR 29,95. ISBN 978-3-11-017802-9.

Rezensent:

Karl-Friedrich Wiggermann

Das Buch von Corinna Dahlgrün, die Praktische Theologie in Jena lehrt, enthält sechs große Teile und ein ausführliches Nachwort (599–639) des katholischen Theologen Ludwig Mödl, der in München lehrte. Wir folgen zunächst in kurzen Zügen der umfangreichen Gesamtdarstellung.
Der erste Teil bietet eine phänomenologische Annäherung an Erscheinungsformen gelebten Glaubens. Dargestellt wird, wie Menschen Gott suchen. Dabei werden zumeist Namen genannt, die in der Gottsuche herausragend sind. 1. Gott suchen in der Einsamkeit (Thomas Merton und Symeon Stylites); 2. Gott suchen im anderen (Mutter Teresa und Elisabeth von Thüringen); 3. Gott suchen in der Gemeinschaft (die Shaker und die Regula Benedicti); 4. Gott suchen in mir selbst (Athanasius von Alexandrien und Evagrius Ponticus bzw. Bernhard von Clairvaux und Meister Eckhart); 5. Gott vergebens suchen (Johannes vom Kreuz und Thérèse von Lisieux); 6. Gott suchen im Alltag (Martin Luther und Dietrich Bonhoeffer). Es kann im Laufe eines menschlichen Lebens zu Veränderungen kommen.
Der zweite Teil führt sodann zu einem Ertrag des Begriffes »Spiritualität« in den folgenden Elementen: »ein initiales Handeln Gottes (1), sein Gebot (2), die Erfahrbarkeit dessen (3), das von Liebe und Hingabe konstituierte anthropologische Dreieck (4), die Betonung des Handelns (5), das Ineinander von Tradition und gegenwärtigem Wirken des Geistes (6), das Gegenüber von einzelnen Menschen und (christlicher) Gemeinschaft (7), die Reflexion (8), das Moment des Prozesshaften sowohl im Hinblick auf eine Kontextgebundenheit, d. h. eine wechselseitige Beeinflussung der Elemente (9) wie auf eine zeitliche Ausdehnung des Prozesses über diese Welt hinaus (10)« (131 f.).
Dieser Ertrag weist auf eine Definition der christlichen Spiritualität, nachdem u. a. biblische, hellenistische und moderne Termini sowie Begriffe wie Erfahrung, Beziehung, Gestaltung und Prozess berücksichtigt worden waren. Diese Definition ist umfangreich, wird dann aber einfach zusammengefasst: »Spiritualität ist die von Gott auf dieser Welt hervorgerufene liebende Beziehung des Menschen zu Gott und Welt, in der der Mensch immer von neuem sein Leben gestaltet und die er nachdenkend verantwortet.« (153)
Der dritte Teil zeigt die vielfältige christliche Spiritualität in historischer Perspektive – von der Bibel und der Alten Kirche über das Mittelalter (besonders eindrucksvoll dargestellt) bis zur Neuzeit. Es geht z. B. um Diakonissen, den Deutschen Evangelischen Kirchentag, die Theologie der Befreiung und weitere spirituelle Suchbewegungen der Neuzeit. Dabei werden zum Teil Aspekte zur Ewigkeit hervorgehoben.
Im vierten Teil wird die praxis pietatis in theologischer Reflexion hervorgehoben. Hervorgehoben werden die spirituelle Erfahrung und die Unterscheidung der Geister (das Heilige und der Heilige), die Rechtfertigung und Heiligung sowie geistliche Führung, Begleitung, Beratung. Angesprochen wird – zusammengefasst – das Doppelgebot der Liebe. Das ist das Leben in Demut, in verantwortetem Gehorsam, in evangelischer Freiheit, in bleibender »Un­gesichertheit, die den Menschen auf dem Weg christlicher Spiritualität daran erinnert, alles von Gott zu erwarten, aus dem er täglich lebt« (422).
Der fünfte Teil handelt über Methoden und Medien christlicher Spiritualität. Beispielhaft sind das Kirchenjahr mit seinen Festen, die Andacht (besonders im Blick auf die Musik), die Beichte, die Meditation, die Kunst, die Wallfahrt, das Bibliodrama und Heilige und Heiligenverehrung. Wichtig ist der Abschnitt zur Meditation, in dem es heißt: »Christlich ist eine Meditation, wenn sie das Ganze des Seins in dieser Welt, also auch alle Ambivalenzen und Spannungen, und das Ganze des Glaubens, also auch alle Dunkelheiten, einbezieht, wenn sie dem Meditierenden ermöglicht, als der, der er ist, vor dem dreieinigen Gott zu leben im Wissen um seine Angewiesenheit auf ihn, und wenn sie ihn darin bestärkt, in seiner ganzen unvollkommenen, schwachen Existenz auf Gott bezogen zu sein.« (531) Hier geht es um die Unterscheidung zu nichtchristlichen Meditationen, welche Meisterschaft versprechen. Die fünf Teile betonen eine evangelisch geprägte Spiritualität. Ökumenizität (katholische und orthodoxe Spiritualität) ist überall spürbar. Gemeinsamkeiten und Unterschiede werden nicht unterschlagen. So ist der Band zu einem Dialog-Buch geworden.
Es folgt ein »Nachwort« von Ludwig Mödl, der in drei Hauptabschnitten katholische Prägungen der Spiritualität darlegt: Kirche und Spiritualität (liturgisch-rituelle Dominanz); die Bedeutung der Orden für die Spiritualität; Volksfrömmigkeit als Element katholischer Spiritualität. Mödl war zunächst eingeladen mitzuschreiben, hat aber absagen müssen. Die Vfn. hat dann das Buch allein verfasst. Mödls Beitrag ist aber mehr als ein »Nachwort«; er ist ein kurzer eigener Teil.
Die Darstellung der Vfn. ist eine umfassende Darlegung christlicher Spiritualtät. Es gibt knappe Hinweise auf neureligiöse Bewegungen und außerchristliche Religionen, vor allem auf den Islam, dessen Bedeutung in Deutschland und in Europa zunimmt.
Hervorgehoben wird mit Recht die Unterscheidung der Geister in der christlichen Spiritualität, denn sie ist seit der Alten Kirche lebendig. Es gilt auch heute, die Kunst des Unterscheidens zu leben und zu lehren. So wird das vorliegende Buch zu einem Studienbuch, in dem eine nüchterne Wahrnehmung und ein geistliches Notabene gleichermaßen hervortreten, die beide zum geistlichen Leben und zur Theologie gehören. Nach einzelnen Abschnitten folgen »treffliche kurze Texte« zur »Auswertung«, zum »Ertrag« und zur »Einschätzung«. Die Vfn. zeigt, dass die Spiritualität in ihrer Vielfalt zu lebendigen Spiritualitäten und Theologien führt – gegen alle Starrheiten. Theologie und Spiritualität beeinflussen sich wechselseitig.
Wichtig für das Studienbuch sind ein ausführliches Inhaltsverzeichnis und ein sehr gutes Stichwortregister. Es fehlen leider ausführliche Literaturangaben. Im Ganzen ist das Werk eine vorbildlich luzide und lebendige Darstellung.