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Ausgabe:

Januar/2010

Spalte:

88-89

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Volf, Miroslav

Titel/Untertitel:

The End of Memory. Remembering Rightly in a Violent World.

Verlag:

Grand Rapids-Cambridge: Eerdmans 2006. 244 S. gr.8°. Geb. US$ 22,00. ISBN 978-0-8028-2989-4.

Rezensent:

Siegfried Wiedenhofer

Der zuerst freikirchliche und jetzt anglikanische Theologe Miroslav Volf, der seit 1998 an der Yale Universität Systematische Theologie lehrt, erörtert in diesem Buch die Frage der Erinnerung an erlittenes Unrecht im Kontext des christlichen Erlösungsglaubens und der christlichen Vollendungshoffnung sowie im Kontext des christlichen Liebesgebotes, das das Gebot der Feindesliebe einschließt (3–18.85–87.103 f.234–236). Diese Erörterung geschieht so­wohl im Modus systematisch-theologischer Argumentation als auch im Modus einer eindrucksvollen persönlichen Auseinandersetzung mit peinigenden Erfahrungen im Zusammenhang monatelanger Verhöre und Repressionen durch den Hauptmann G. im Jugoslawienkrieg 1983/84.
Der erste Teil (Remember!; 1–35) des eher essayistisch als streng systematisch angelegten Buches führt auf die eigentliche Fragestellung hin, indem angesichts des häufig undifferenziert und unterbestimmt verwendeten Erinnerungsbegriffs im boomenden heutigen Erinnerungsdiskurs erste Unterscheidungen eingeführt werden: Die eigentliche Frage ist nicht zu erinnern oder nicht zu erinnern, sondern in rechter Weise zu erinnern. Wir, unsere Identitäten, sind nicht nur durch unsere Erinnerungen geprägt, sondern wir prägen auch unsere Erinnerungen. Erinnerungen sind nicht eo ipso wahr, erlöst, erlösend und solidaritätsfördernd, sie können das werden, wenn sie in den Rahmen entsprechender grundlegender Überzeugungen und Handlungen eingefügt werden.
Der zweite Teil (How Should We Remember?; 37–128) beantwortet diese Grundfrage dann ausführlicher und vor allem in der Grundperspektive des christlichen Glaubens. Die essayistische Gesamtanlage führt dabei zu einer engen Verknüpfung philosophischer und theologischer Argumentation. Was rechte Erinnerung ist, wird von rechter christlicher Erinnerung her bestimmt und in exemplarischer Auseinandersetzung mit anderen Positionen als Verständnis rechter Erinnerung heutigem Denken angeboten. Erinnerung muss also in rechter Weise geschehen. Sie tut das, wenn sie wahrhaft ist, wenn sie geheilt ist und wenn man daraus etwas lernen kann (93). Diese Imperative erhalten allerdings erst in bestimmten umfassenden Überzeugungsrahmen ihre Bestimmtheit und Überzeugungskraft. Hier wird der Rahmen, wie gesagt, der christlichen Tradition entnommen, indem die Exodusgeschichte und die Passionsgeschichte als exemplarische Erinnerungen an die Heilsgeschichte Gottes mit den Menschen verstanden werden, die (nicht nur dem Gläubigen) zeigen können, was rechte Erinnerung ist. Steht in der Exodusgeschichte die Rettung des Unterdrückten neben der Strafe des Unterdrückers (104–110), so erweitert die Passionsgeschichte den Rahmen: Sie erstreckt die Gnade Gottes auf die ganze Menschheit. Sie ehrt die Opfer und dehnt die Gnade auf die Täter aus. Sie missachtet die Sünde nicht, aber lässt in der Hingabe des Stellvertreters die Schuld vom Täter hinweggenommen sein. Sie hilft Tätern und Opfern zur Versöhnung (wenn der Täter bereut) und antizipiert so die gemeinsame Auferstehung der Toten und die Bildung einer versöhnten Ge­meinschaft (117–122).
Der dritte Teil (How Long Should We Remember?; 129–214) ergänzt die soteriologische durch die eschatologische Perspektive. Die Grundthese lautet, dass in der vollendeten Welt nicht mehr an erlittene Untaten erinnert werden wird, weil die beseligende Gottesschau alles vergessen lässt, außer die unendliche Gutheit Gottes und was ihr im irdischen Leben entspricht. Begründet wird die These zum einen durch den Hinweis auf Zeugen in der christlichen Tradition (Gregor von Nyssa, Augustinus, Calvin, Karl Rahner, Karl Barth), zum anderen durch Weiterführung bestimmter philosophisch-theologischer Ansätze (Dante, Kierkegaard), in kritischer Auseinandersetzung mit Alternativen (Nietzsche, Freud) und Einwänden, vor allem aber durch Lokalisierung in der christlichen Vollendungshoffnung selbst (Jüngstes Gericht und Ewiges Leben). Damit ist das Ziel der Arbeit, wie es am Schluss noch einmal formuliert wird, in der Tat erreicht: Zwei verbreitete Imperative erweisen sich als problematisch: Unrecht soll erinnert werden allein aus Sorge für die Opfer, und: Unrecht soll für immer erinnert werden. Die alternative These erhält eine hohe Plausibilität: Das eigentliche Ziel der Erinnerung erlittenen Unrechts ist die Gemeinschaft der Liebe zwischen allen Menschen (234–236). Die Arbeit verdient eine weite Beachtung.