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Ausgabe:

Januar/2010

Spalte:

83-86

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Korsch, Dietrich

Titel/Untertitel:

Religionsbegriff und Gottesglaube. Dialektische Theologie als Hermeneutik der Religion.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2005. XI, 399 S. 8°. Kart. EUR 39,00. ISBN 978-3-16-148698-2.

Rezensent:

Friederike Nüssel

In diesem Buch verbindet der Marburger Systematiker Dietrich Korsch umfassende Einzelstudien aus den letzten Jahren zu einem theologischen Gesamtentwurf, in dem die hermeneutische Bedeutung des Religionsbegriffs für die Auslegung des christlichen Gottesglaubens und seiner Geltung erschlossen wird. Den Ausgangspunkt bildet die These, dass in der europäischen Moderne das Christentum durch die Reflexion auf die Differenz »zwischen hi­s­torischer Herkunft und geistlicher Geltung« (Vorwort, V) eine Un­terscheidungskompetenz erworben habe, die es christlicher Theologie erlaube, nicht nur »zu einer religiösen Selbstbestimmung der Kirche beizutragen, sondern sich darüber hinaus in aufklärender Weise an den Selbstdeutungen der Kultur zu beteiligen« (ebd.). Der kirchlichen und kulturellen Aufgabe könne die Theologie allerdings nur als dialektische Theologie gerecht werden, weil sich die in der Religion thematische Einheit von Gott und Mensch »nicht als begriffliche Synthese« (ebd.) konstruieren lasse, sondern »im Glauben lebendig gewiß werden« (ebd.) müsse.
Im ersten Teil zu »Religion, Religionsbegriff, Theologie« sucht K. zunächst »eine vorläufige Beschreibung der funktionalen Struktur des neutralisierenden, konfessionsindifferenten Religionsbegriffs zu geben« (10). Der Religionsbegriff sei ein »analytischer Schlüssel für die moderne Kulturgeschichte« (24) und meine »das Wirksamsein letzter Überzeugungen, in denen sich eine schlechthin normierende Instanz unbedingt zur Geltung bringt« (10), die sich in allen Motivationen und Handlungen ausprägt, darin allem Wählen und Handeln vorausgeht, aber »selbst nur in so oder so konkretisierten Positivierungen« (ebd.) gegeben sei. Religionsphilosophisch lasse sich die Funktionalität des Religionsbegriffs in der Rede »von der unmittelbaren Präsenz des Absoluten im Individuellen« (11; vgl. 24) beschreiben. Auf der Basis dieser begrifflichen Klärung wendet sich K. sodann im zweiten und dritten Teil in theologiehistorischer Perspektive der Reflexion auf Religion zu und versucht zu zeigen, »daß sich durch den Wandel der Recht­fer­ti­gungs­instanzen hindurch eine hermeneutische Identität der christlichen Religion nachweisen läßt, die jenseits der unmittelbaren real- und intellektualgeschichtlichen Abläufe für einen nachvollziehbaren Weg des Christentums durch die Moderne einsteht« (27). Während sich die Konzeptionen von Schelling, Schleiermacher und Hegel »jenseits der normativen Offenbarungsautorität und diesseits der aufklärerischen Moralisierung« (33) bewegten und Religion im Prozess der Vernunft als dem ersten Leitmedium der religionstheo­retischen Entwicklung verorteten (33 ff., vgl. 95), werde bei Otto Pfleiderer und Wilhelm Herrmann die Transformation der Religion im Progress der Geschichte als dem zweiten entscheidenden Leitmedium der Entwicklung vollzogen und der »integrative, individuelles Selbstsein und gesellschaftliches Ganzes synthetisierende Religionsbegriff« (124) zersetzt. Auf diese Problemlage reagiere Troeltsch mit der Einsicht in »die Notwendigkeit einer kulturtheo­retischen Rechtfertigung der Religion« (125). Seine Theo­rie nehme dabei einerseits Abschied vom Absolutheitsanspruch des Christentums und entwerfe andererseits den Begriff des religiösen Apriori als den »Knotenpunkt für seine gesamte Konzeption von Geschichte, Religion und Philosophie« (151). Der nivellierende Zug, der in diesem Gedanken liege, stoße sich jedoch »mit der Tatsache, daß es nicht die Struktur des religiösen Apriori als solche ist, die religiöse Überzeugung fordert und erzielt, sondern daß es die jeweiligen Inhalte … sind, die in Geltung stehen« (ebd.).
Diese bei Troeltsch nicht gelöste Zwiespältigkeit lasse wiederum verstehen, dass in kritischer Wendung gegen Troeltsch die »Überführbarkeit von Religionsphilosophie in Dogmatik, die Auswechselbarkeit wissenschaftlicher und religiöser Sprachspiele« (152) bestritten und andere Wege gesucht wurden. Solche findet K. bei Karl Holl, Rudolf Bultmann und Karl Barth beschritten, deren Positionen er im vierten Teil seiner Studie vorstellt. In theologie­his­torisch innovativer Weise zeigt er hier, dass Religion bei Holl »als antinomische Konstruktion« (158 ff.), bei Bultmann »als authentisches Selbstverständnis« (174 ff.) und bei Barth »als Selbstauslegung des Wortes Gottes« (191 ff.) zu stehen kommt. In dezidierter Abkehr vom kulturtheoretischen Ausweis der Geltung des Christentums habe Barth die Geltung der religiösen Sprache »auf die in ihr wirkenden Geltungsmomente hin untersucht« (193) und dogmatisch den Aufbau einer religiösen Vorstellungswelt demonstriert, in der »das Geltende selbst am Ort der Geltungsansprüche gefunden, also das Absolute im Zusammenhang der religiösen Vorstellungswelt am Ort der endlichen religiösen Rede identifiziert wird« (193 f.). Dabei lasse sich die Semantik der dogmatischen Rede anhand des Begriffs der Selbstbestimmung rekonstruieren (209 ff.). In Barths dogmatischer »Antwort auf die Frage nach der Präsentation des schlechthin Geltenden im christlichen Glauben« (216) werde freilich das Geschehen religiöser bzw. christlicher Kommunikation und das Gegebensein eines religiösen Deutungsinteresses immer schon vorausgesetzt – eine Annahme, »für die in der Dogmatik kein Ort mehr bereitsteht« (ebd.). Es fehle »die entschlossene Einsicht in den Sachverhalt, daß auch die Vergewisserung christlicher Freiheit nur darum stattfinden und standhalten kann, weil sie ein Modell des Gewinns von Überzeugungsgewißheit des Geltenden in sich trägt, das über seinen Anwendungsfall im christlichen Glauben hinaus Bedeutung besitzt – und zwar gerade darin, daß es die spezielle Entdeckungsgeschichte aus dem Kontext des neuzeitlichen Christentums ebensowenig verdeckt wie die sachliche Maßgeblichkeit zum Urteil in Fragen der Religion« (217).
Trotz dieses Defizits kann K. in Barths Konzeption jedoch den Ansatz zur Überwindung desselben ausfindig machen. Denn seine Theologie enthalte einen Deutungsbegriff, der es erlaube, »Sachverhalte außerhalb der christlichen Verkündigung als Elemente kultureller und religiöser Kommunikation zu analysieren und zu kritisieren, die in den Prozeß der humanen Selbstauslegung gehören« (217). Indem K. im fünften Teil seines Buchs den entsprechenden Deutungsbegriff entfaltet, geht er mit Barth über dessen religionshermeneutischen Ansatz hinaus und demonstriert »Die Prägnanz der Religion im Profil der Kultur« (so die Überschrift von Teil V, 219). Im ersten Schritt wird der Zusammenhang von Religion und Deutungskultur erschlossen, indem im Ausgang von einer Analyse der Struktur des Deutungsbegriffs (219 ff.) dessen Eignung als Leitbegriff (223 ff.; im Verhältnis zu den Begriffen ›Geist‹, ›Gefühl‹, ›Verstehen‹, ›Sinn‹ und ›Symbol‹) erwiesen wird. Sodann erschließt K. »Kultur als Prozeß der Deutung« (238) in der Arbeit gegen den Tod (241), die »an den Selbstvollzug des Lebens anschließt und diesen auf neuer Ebene fortsetzt« (242). Dieser Prozess vollziehe sich, wie K. weiter zeigt, auf den Strukturebenen der Institutionalisierung, Ausdifferenzierung und Substituierung. Kultur als Arbeit gegen den Tod vollende sich dabei in der auf sich selbst gerichteten Deutung, die den Grund der Deutung erschließe. Dies wiederum sei die elementare Form von Religion (251). Religion lasse sich mithin als integrativer Begriff für die Deutungsarbeit der Kultur zur Geltung bringen und gewinne so selbst eine »grundbegriffliche Prägnanz in der Kultur« (ebd.). Strukturell maßgeblich für die spezifische Deutungskompetenz des Christentums ist dabei nach K. »die Menschwerdung Gottes, die ihre göttliche Voraussetzung in der Trinität besitzt und die ihre Konsequenzen in der Versöhnung der Menschen mit Gott heraufführt« (266).
Dass sich Religion nicht nur als explizite Vollendung der Kulturarbeit, sondern umgekehrt auch als gestaltende Hermeneutik der Kultur verstehen lässt, zeigt K. sodann im Rekurs auf den Übergang vom Kulturprotestantismus zur Kulturhermeneutik (273 ff.). Entscheidend sei hier »das Gegenüber von kirchlichem und freiem Protestantismus, das, im Wechselspiel miteinander und in Offenheit füreinander, am ehesten die doppelte Aufgabe wahrnehmen kann, religiöse Kultur zu formen und dann auch wieder zu verwandeln« (281). Die Implikationen für das Verhältnis von Religion und Kunst demonstriert K. im Rekurs auf Theodor Adornos kritische Ästhetik und an Stefan Georges Kritik am ästhetischen Absolutismus und macht so zugleich deutlich, dass Religion und Ästhetik ihrerseits eine herausgehobene Bedeutung für »die Bildung von selbständiger und selbstbewußter Individualität« (313) zu entfalten vermögen. In erneutem Rekurs auf Holl und dessen Deutung der Rechtfertigungslehre identifiziert K. die spezifische Leistung religiöser Bildung darin, im Zuge der Unterscheidung »zwischen sich selbst und dem Grund, der alle Deutungen trägt, … nach diesem Grund der Deutung zu fragen und damit die auch ästhetisch zu unterscheidenden Deutungsstile zu hinterfragen« (317).
K.s religionstheoretische Rekonstruktion zielt schließlich auf eine hermeneutische Dogmatik, die die theologischen Gehalte »auf ihren Sinn hin durchschaut, der darin besteht, den unverbrüchlichen Zusammenhang des Menschen mit Gott auszusagen, der in allen Deutungsakten in Anspruch genommen wird« (326). Dies demonstriert K. abschließend in vier Fallstudien zur Gegenständlichkeit Gottes, zur Innerlichkeit der Mystik, zur Einheit der Welt und zum Opfer des Lebens. Dabei tritt zum einen als das Grundmuster hermeneutischer Dogmatik das dialektische »Zueinander von Gott und Mensch als einem Miteinander freier Selbstbestimmung« (327) jeweils konkret zutage. Zum anderen präsentiert K. jeweils im Rekurs auf außertheologische Positionen, wie dieses christliche Religion bestimmende Grundmuster in den zentralen Fragen menschlichen Welt- und Selbstverständnisses kulturhermeneutische Dynamik zu entfalten vermag.
Folgt man K.s religionshermeneutischer Rekonstruktion und ihren Konsequenzen für die Umformung evangelischer Dogmatik, dann erscheinen die Anliegen einer dialektischen und einer kulturprotestantischen Theologie nicht länger als Gegensätze. Das Scharnier bildet, wenn ich recht verstehe, eine deutungstheoretische Durchdringung des lutherischen Paradigmas der Heilsgewissheit. In dem Aufweis dessen, dass eine Verbindung von theologischer, gewissheitstheoretischer und religions- bzw. kulturhermeneutischer Fokussierung der Theologie nicht nur gedanklich möglich ist, sondern in der Dynamik der protestantischen Theologieentwicklung selbst liegt, besteht das besondere Verdienst dieses an­spruchsvollen Buches.