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Ausgabe:

Januar/2010

Spalte:

78-80

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Bruckmann, Florian

Titel/Untertitel:

Die Schrift als Zeuge analoger Gottesrede. Studien zu Lyotard, Derrida und Augustinus.

Verlag:

Freiburg-Basel-Wien: Herder 2008. 495 S. 8°. Kart. EUR 39,00. ISBN 978-3-451-29811-0.

Rezensent:

Michael Coors

Wenn sich ein katholischer Theologe über ein solch protestantisches Thema wie eine Theologie der Schrift habilitiert, wird man als evangelischer Theologe kaum an dieser Arbeit vorbeikommen. B. grenzt dabei das Thema von vornherein klar auf die Frage nach der Schriftlichkeit der Schrift als Voraussetzung für Schrift überhaupt ein (20): Damit ist eine fundamentaltheologische Frage im Blick, deren Diskussion sowohl in evangelischer als auch katholischer Theologie ein Desiderat darstellt und somit die Chance haben könnte, neue Gesprächsgänge zwischen den Konfessionen zu eröffnen. Die Frage nach der Schrift(lichkeit) wird nun aber von B. von vornherein auch auf die Frage nach der Analogizität der Gottesrede – in der Tradition Karl Rahners – hin zugespitzt: In ihrer Schriftlichkeit wahrt die Schrift die Transzendenz Gottes (462). Für das Ge­wicht freilich, das dieser grundlegenden theologischen Entscheidung zukommt, fällt die Behandlung der Theorie der Analogizität aller Gottesrede recht knapp aus. Ähnliches lässt sich im Blick auf die Einordnung einer Theologie der Schrift(lichkeit) in den Horizont der theologischen Diskussion monieren: Zumindest die beiden Vertreter der evangelischen Theologie (Ringleben und Bader) können nicht unbedingt als Repräsentanten einer klassisch evangelischen Schrifttheologie gelten. Freilich stellt sich damit auch die Frage, wo denn in der evangelischen Theologie noch ernsthaft Dogmatik als Schrifttheologie betrieben wird (Mildenberger wäre eine der Ausnahmen).
B.s Leitthese ist, »dass die notwendige Analogizität allen Gottesdenkens und -erkennens mit der sprachlichen Verfasstheit des menschlichen Geistes zusammenhängt und in diesem noch einmal durch das Moment der Schrift(lichkeit) unterlaufen und durchkreuzt wird« (49). Entsprechend geht B. anhand der Texte von Lyotard, Derrida und Augustinus den Begriffen des Zeugnisses und der Schrift(lichkeit) nach, um aufzuweisen, dass von der Schrift als Zeuge analoger Gottesrede theologisch zu reden sei. Diese Leitfragen sind aber beim Lesen der umfangreichen und detaillierten Studien zu den einzelnen Autoren leider nicht durchgängig präsent. B. baut die Interpretationen zu den drei Autoren werkgeschichtlich auf. Dabei selektiert er zwar auch von seiner Themenstellung her, legt aber für jedes der behandelten Werke eine ausführliche Interpretation vor und zeichnet sie in die Entwicklung der Philosophie bzw. Theologie des jeweiligen Verfassers ein. Erst vom jeweiligen Ende her, bzw. bei Derrida und Augustinus auch in jeweils einer Zwischenbilanz, werden die Ergebnisse der Studien auf die Leitthese des Buches bezogen.
Ob die theologische Applikation der philosophischen Studien, die an diesen zentralen Stellen des Buches vollzogen wird, aber geglückt ist, scheint mir fraglich: Die theologischen Kriterien und Entscheidungen, anhand derer die Rezeption von Lyotard und Derrida sich vollzieht, werden nicht transparent, so dass die Rezeption mitunter willkürlich anmutet. Es sei dem protestantischen Theologen erlaubt, dies exemplarisch an einem Dissens zu verdeutlichen, bei dem die konfessionelle Prägung die theologische Re­zeption der Philosophie entscheidend prägt, nämlich bei den Konsequenzen, die B. aus Lyotards Philosophie im Blick auf die Ka­nonfrage zieht: Es gelte die Kirche als dynamischen Prozess zu verstehen, innerhalb dessen die Heilige Schrift entsteht. Darum müsse die Kirche von heute wiederum so aus der Heiligen Schrift leben, dass sie sie hervorbringen könne.
B. folgert dies aus der Notwendigkeit, eine Vertauschung der Positionen im sprachpragmatischen Dreieck offenzuhalten (163) – eine machtkritische Denkfigur in der Philosophie Lyotards (113 ff.). Aber ist es überhaupt angemessen, diese Denkfigur so auf die Kanonfrage anzuwenden? Theologisch entschieden ist hier bereits, dass die Schriftlehre in den Kontext der Ekklesiologie gehört. Gerade das aber ist konfessionell strittig: Nach reformatorischem Verständnis gehört sie in den Kontext der Soteriologie, näherhin der Rechtfertigungslehre, in der (sprachlogische) Strukturen des Verstehens der Heiligen Schrift expliziert werden. Auch hier ließe sich das Denkmodell der Vertauschung der Positionen im sprachpragmatischen Dreieck anwenden: Gott rechtfertigt uns und in demselben Sprachgeschehen rechtfertigen wir Gott – so zumindest konnte Luther es von Ps 51,6 aus deuten. Die theologische Entscheidung, ob die Ekklesiologie oder die Rechtfertigungstheologie den Rahmen der Kanonfrage darstellt, wäre aber zunächst einmal theologisch zu diskutieren.
Die sich anschließende Studie zu Derrida fällt sicher auch deshalb am umfangreichsten aus, weil dessen Werk von solch einer unübersichtlichen Weite ist, dass selbst bei einem selektiven Zugriff eine Unmenge an Texten zu diskutieren bleibt. Weil Derrida sich stets im kritischen Dialog mit philosophischen Texten unterschiedlichster Art bewegt, treibt B. den Leser mit Derrida von Levinas über Saussure, Heidegger, Hegel, Husserl bis hin zu Mallarmé und manchem Autor mehr, um immer wieder auf dasselbe Grundmotiv der Denkbewegung von Derrida zu stoßen: Alles Sprechen und Schreiben ist von einer différance durchzogen, die ihrem Wesen nach nicht mündlich, sondern schriftlich – nicht flüchtiger Laut, sondern materielle Differenz, sichtbare Differenz zwischen den Zeichen (196) – ist, gefasst in den Gedanken der Ur-Schrift (190 f.) als dem nicht-kausalen Ursprung der Differenz von Signifikat und Signifikant (249). Dieser »Ur-Sprung entzieht sich ständig selbst, indem er seine Spur verwischt« (247), gleichwohl er nur in dieser Spur erfahrbar wird (191). Die Ur-Schrift ist die geheime Triebfeder aller abendländischen Metaphysik und kann nur in einer dekonstruierenden Bewegung in und gegen die Bahnen dieser Metaphysik ins Denken gebracht werden (249).
Derridas Betonung der Materialität der Zeichen und damit der Schrift bietet sicher Anknüpfungspunkte für eine Theologie der Schrift(lichkeit). Zugleich aber ist die Denkbewegung Derridas von einer eigentümlichen Dynamik, die sich gegen jegliche Vereinnahmung zu sperren scheint. Ist das, was Derrida unternimmt, nicht letztlich eine negative Metaphysik, die in nicht auszulöschender Konkurrenz zu jeglicher negativer Theologie steht? Derrida selbst war sich dieser Spannung zwischen dem Denken der différance und der negativen Theologie offensichtlich bewusst (295 ff.). B. aber übergeht die hier wünschenswerte Diskussion dieser Spannung, wie er auch die Frage nach dem Charakter der Philosophie Derridas nicht wirklich stellt.
Die Probleme, die diese Leerstelle zeitigt, werden dann in dem Versuch deutlich, Augustin so zu lesen, dass bei ihm »die von Derrida gestellten Fragen nach dem Zusammenhang von Schrift(lichkeit) und Sprache in der Theologie immer schon mitbedacht wurden und von Augustinus in einer sehr instruktiven Weise beantwortet worden sind« (40). Die »Vorrangigkeit der Materialität« (225) bei Derrida reibt sich doch recht offensichtlich mit Augustins Ausgangspunkt beim gesprochenen Wort als dem primären Zeichen, dem gegenüber das geschriebene Wort sekundäres Zeichen bleibt, das nur an das mündliche Wort erinnert (313 f.). Zwar kann B. zeigen, dass es bei Augustin auch eine Gegenbewegung dazu gibt, dass es bei ihm zumindest auch Texte gibt, die »dem geschriebenen ge­genüber dem gerade ertönenden Wort einen Mehrwert« (316) zu­schreiben, weil nur »mittels der Schrift … ermessen werden [kann], was Sprechen ist, so dass das Sprechen seinen Wert durch die Schrift erhält« (ebd.). Aber gerade wenn gilt, dass »der Bezug auf die Schrift(lichkeit) immer dann auftritt, wenn Augustinus in Erklärungsnot gerät« (328), weist dies doch eher darauf hin, dass die Schrift(lichkeit) nicht im Fokus der Theologie von Augustin liegt. Erst recht scheint Augustins Lehre vom inneren Wort, »das weder Klang noch Sprache besitzt« (428), in einem radikalen Gegensatz zur Bedeutung der Materialität von Sprache zu stehen, wie sie Derrida im Begriff der Ur-Schrift denkt: In der völligen Vergeistigung des inneren Sprechens als einem »ton- und sprachlose[n] Gedankenwort« (ebd.) dürfte man doch eher das Übel sehen, gegen das Derrida in der Dekonstruktion ankämpft, nämlich die Entmaterialisierung der Zeichen in der abendländischen Metaphysik. Auf diesen Gegensatz aber geht B. nicht ein, sondern sucht in anderen Zu­sammenhängen aufzuweisen, dass Augustinus durchaus der Schrift(lichkeit) einen hohen Stellenwert beimisst. Das gelingt ihm am eindrücklichsten in der Darstellung von Augustins Traktat über das Johannesevangelium, in dem B. eine schöpfungstheologische und christologische Zuspitzung der Schrift(lichkeit) aufdeckt: »Jesus ist schlussfolgernd selbst sowohl Buchstabe … als auch Lehrer des Sinns, der Gott ist.« (437) »Schöpfung und Hl. Schrift sind Buchstaben, sind ein Text, der auf Gott hin gelesen werden will.« (439)
Hier wären allerdings die Analogien und Differenzen zu Derridas Programm der Dekonstruktion noch weitaus gründlicher auszuloten. Dass dies nur bedingt geschieht, ist wohl auch dem werkgeschichtlichen Aufriss geschuldet, der die Schlussfolgerungen und Beobachtungen in die bilanzierenden Zwischen- und Endpassagen verbannt. In summa bleibt der Gesamteindruck, dass die Theorie der Schrift(lichkeit) bei Augustin durch die Betonung der Mündlichkeit des Wortes eher an den Rand gedrängt wird. Dass er dennoch nicht umhinkommt, auch die materiale Textgestalt theologisch zu qualifizieren, ist dann freilich ein wichtiger Hinweis. Aber müsste man diese Spannungen mit Derrida nicht so deuten, dass hier die Spur der différance sichtbar wird, dass man also die Texte Augustins dekonstruieren muss, um diese Spur offenzulegen? Das freilich würde bedeuten, Augustin nicht als einen Derrida avant la lettre, sondern ihn von Derrida her kritisch, dekonstruierend zu lesen.
Die Arbeit ist sicher wegen ihrer detaillierten Darstellungen der in ihr verhandelten Positionen – insbesondere der von Lyotard und Derrida – lesenswert. Auch B.s Augustininterpretation regt zur Diskussion an. Der dogmatisch-theologische Gehalt, die Ausarbeitung der im Titel angekündigten These kommt aber schlussendlich zu kurz. B. verharrt zu dicht bei den von ihm behandelten Autoren. Nicht nur kann B. mich nicht von seiner eingangs zitierten Leitthese überzeugen, mehr noch gewinnt diese These nicht hinreichend an theolo­gischem Profil. Dass allerdings die gründlichen Darstellungen der behandelten Texte durch B. allein schon eine solide Grundlage bilden, um die aufgestellte These kritisch zu hinterfragen, verweist noch einmal darauf, dass die eigentliche Qualität der Arbeit in der gründlichen Erschließung dieser Positionen besteht.