Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Januar/2010

Spalte:

76-78

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Janke, Wolfgang

Titel/Untertitel:

Die dreifache Vollendung des Deutschen Idealismus. Schelling, Hegel und Fichtes ungeschriebene Lehre.

Verlag:

Amsterdam-New York: Rodopi 2009. X, 374 S. gr.8° = Fichte-Studien-Supplementa, 22. Geb. EUR 77,00. ISBN 978-90-420-2503-5.

Rezensent:

Malte Dominik Krüger

Für die Systematische Theologie in ihrer begründungstheoretischen und rechenschaftsfähigen Ausrichtung kann der Bezug auf die wirkmächtigen Argumentationsfiguren des Deutschen Idealismus als konstitutiv gelten. Insofern sind philosophische Untersuchungen dieser geistesgeschichtlichen Achsenzeit theologisch interessant. Dieses Interesse verdient ganz gewiss die anzuzeigende Studie des bekannten Fichte-Experten und Idealismus-Forschers. Die Studie bietet eine Interpretation des Hochidealismus und wendet sich gegen die These vom dialektischen Dreischritt der Entwicklung von Fichtes Ich-Philosophie über Schellings Naturphilosophie hin zur Vollendung in Hegels Theorie des Absoluten. Vielmehr handelt es sich nach J. bei den Philosophien Fichtes, Schellings und Hegels um drei Vernunftwissenschaften mit einander widerstreitenden Vollendungsansprüchen. Dabei gebührt nach J. eindeutig Fichtes sog. ungeschriebener Lehre der Vorrang. Denn in dieser von Fichte nach 1800 mündlich vorgetragenen Lehre wird J. zufolge das Absolute mit transzendentaler Besonnenheit begriffen. Dieser kritisch vollendete Idealismus Fichtes kann nach J. auch unser Zeitalter zum Denken herausfordern.
Wie besonders die Einleitung (1–41) und der Schluss (339–358) deutlich machen, diagnostiziert J. – unter anderem im kritischen Anschluss an Martin Heidegger – im Blick auf das gegenwärtige Zeitalter ein Räsonnieren ohne Ernst, eine Meinungsfreiheit ohne Tiefgang und eine interessegeleitete Funktionalisierung des Menschen. So können nach J. entsprechend Positivismus, Materialismus und Nihilismus auftreten. Entfremdung, Sinnlosigkeit und Angst sind mit dieser Entwicklung verbunden, der die Einsichten des Deutschen Idealismus produktiv und plausibel entgegengesetzt werden können. Denn die Einsichten des Deutschen Idealismus sind J. zufolge keineswegs realitätsfremde Spekulationen, sondern führen vernünftig in den Zustand der Reflexion, nämlich der prinzipiellen Besinnung des Menschen.
Im ersten Teil (43–108) legt J. Schellings Philosophie aus. Ausgehend von dem Identitätssystem über die verschlungene Entwick­lung bis zur Spätphilosophie geht J. dem Denkweg Schellings problemsensibel nach. Dabei deutet J. die Spätphilosophie Schellings stark auf der Linie von dessen frühem Konzept der intellektuellen Anschauung. Da Letztere von J. als reflexionsvergessene Schau des Absoluten kritisiert wird, gerät damit grundsätzlich auch Schellings Spätphilosophie ins Zwielicht. Doch J. sieht strukturell auch eine starke Affinität von Schellings Spätphilosophie zu Fichtes ungeschriebener Lehre, was das Erscheinen des Absoluten angesichts der Selbstnegation des Ich angeht. Auffällig ist, dass J. die In­terpretation von Schellings berühmter »Freiheitsschrift« von 1809 nicht in diesem Teil, sondern erst im Fichte-Teil vornimmt (206–209).
Im zweiten Teil (109–172) wird Hegels Philosophie interpretiert. J. erörtert den Systembau Hegels, thematisiert dessen Wege zum absoluten Wissen und wendet sich besonders dem Anfang der Seinslogik und dem Endpunkt der Ideenlogik zu. Damit können die problematischen Punkte von Hegels System von J. diskutiert werden. Insgesamt gilt J. der Versuch Hegels, die Grenzen des Selbstbewusstseins zu überwinden und das Absolute ganz im Bewusstsein zu konstruieren, als Ausblendung des Standpunktes der eigenen Reflexivität. Allerdings nimmt J. das System Hegels gegenüber den »platten« (136) Einwürfen des Aristoteles-Forschers Friedrich Adolf Trendelenburg in Schutz, der zwar Kierkegaard beeindruckt, aber argumentativ nicht den Deutschen Idealismus erreicht.
Der dritte Teil (173–337) über Fichtes Philosophie ist vom Umfang und Impetus deutlich das Zentrum der Studie. Im Mittelpunkt steht die Rekonstruktion von Fichtes ungeschriebener Lehre, die J. als kritische Weiterentwicklung von Fichtes früher »Wissenschaftslehre« auslegt. Das Haupttheorem von Fichtes ungeschriebener Lehre ist für J. die transzendental besonnene und mit der Selbstnegation des Ich verbundene Unterscheidung zwischen dem Absoluten und dem absoluten Wissen des Menschen. Das absolute Wissen ist das Dasein und Bild des Absoluten. Letzteres scheint im absoluten Wissen in transzendentaler Transzendenz auf. Das Absolute selbst verharrt strikt in sich und bleibt letztlich unbegreiflich. Insofern ist Fichtes ungeschriebene Lehre nach J. eine negative Theologie, deren Besonnenheit sich von Schellings und Hegels weiterer spekulativer, positiver Ausdeutung des Absoluten unterscheidet.
J. legt eine souverän argumentierende und gut lesbare Interpretation des Deutschen Idealismus vor, deren argumentationsanalytische Rekonstruktionskraft beeindruckt. Ohne Frage wird diese Studie zu Diskussionen reizen. Dies dürfte nicht nur die skeptische Diagnose des gegenwärtigen Zeitalters, sondern die Frage nach dem Verhältnis von Schellings Spätphilosophie und Fichtes ungeschriebener Lehre betreffen. Ebenso können J.s bildtheoretischen Ausführungen von Fichtes ungeschriebener Lehre unter Umständen für den gerade diskutierten »iconic turn« (Gottfried Boehm) erfrischend und animierend sein. Über ein Namenverzeichnis ist diese wichtige Studie gut erschlossen.