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Ausgabe:

Januar/2010

Spalte:

72-74

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Figal, Günter

Titel/Untertitel:

Gegenständlichkeit. Das Hermeneutische und die Philosophie.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2006. VIII, 447 S. gr.8°. Kart. EUR 39,00. ISBN 978-3-16-148857-3.

Rezensent:

Jure Zovko

Durch die ontologische Wende ist die Hermeneutik dank Gadamer zu einer Art Koine des interdisziplinären Dialogs im Bereich der Geisteswissenschaften (Vattimo) geworden. Als Folge dieser Universalisierung ist die Frage nach der Methodologie des richtigen Verstehens weithin verabschiedet und stattdessen zum Förderinstrument des Pluralismus äquivalenter Interpretationen geworden. Deshalb wird immer wieder eine normative Disziplinierung der Hermeneutik gefordert: anspruchsvolle Texte resp. Kunstwerke gegen beliebige Interpretationen abzusichern und dem Ver­stehen zugänglich zu machen, was nach Dilthey die eigentliche Aufgabe der Hermeneutik ist. Das philosophische Desiderat einer Hermeneutik, die als kritische Reflexionsinstanz imstande wäre, sub ratione veritatis die Errungenschaften und die Objektivationen des Geistes in ihrem Wahrheitsgehalt zu ergründen und zu würdigen, bleibt auch nach der Veröffentlichung dieses opus summum von Günter Figal offenkundig auf die lange Bank geschoben.
In sieben Kapiteln bemüht sich F., durch eine Wende von »der philosophischen Hermeneutik zur hermeneutischen Philosophie« (1. Kapitel) die neue Dimension der Interpretation offenzulegen (2. Kapitel). Es ist durchaus positiv, dass sich F. von der Heideggerschen als »Selbstverstehen des Daseins« konzipierten Hermeneutik der Faktizität distanziert, weil in ihr das Eigenste der traditionellen Hermeneutik, nämlich »das Auslegen von Wort und Schrift« (26) verloren ging, aber er begeht denselben Fehler, indem er die Frage nach der Bedingung des zuverlässigen Verstehens und Auslegens vollkommen ausklammert. Das ist vor allem deshalb relevant, weil F. seine Wende zum Theoretischen als hermeneutische Tat betrachtet und die traditionelle Philosophie »in ihrem theoretischen Wesen als Verstehen« hermeneutisch konzipiert (30). F. räumt zwar ein, dass die Schriften der Klassiker der Philosophie »eindeutig Gegenstandscharakter« haben, dass man auch deren Grenze erkennt, aber das Wort Kritik und die Frage nach dem kritischen Bewerten des traditionellen Denkens kommt bedauerlicherweise in F.s Werk gar nicht vor.
Als die primäre Intention dieser innovativen Hermeneutik erweist sich eine phänomenologische Erkundung bzw. Rehabilitierung des »Gegenständlichen«. Mit dieser Explikation versucht F. den Heideggerschen Hiatus der ungeklärten Differenz zwischen dem »Sein« des menschlichen Daseins und dem Sein des »nichtdaseinsmäßigen« Seienden zu beheben und somit die umstrittene Frage der »Verdinglichung« zu klären. Die Entschlüsselung des Rätsels findet man in der Heideggerschen obskuren Deutung vom »Ding« als »Thing«, das sich in seinem » gegenständlich sein« als »Anwesung« zeigt (135). Es wird weitergedeutet und behauptet, dass die Dinge »ihrem Wesen nach für sich« stehen; und als solche »können sie angeeignet« (129) oder sogar zum »Vermittler von Ich und Du« werden (132). Ein »Gegenstand« ist bei F. »kein beliebiges Ding, sondern etwas, sofern es gegenüber ist. Ein Gegenstand ist etwas im Gegen-Stand« (126). Hermeneutik erkundet das »Gegenständliche«, »indem sie es darstellt« (4.126). Eminente Texte, vorzügliche Kunstwerke, heilige Schriften der Religionen begegnen uns auch »gegenständlich«. Die Verpflichtung des Interpreten besteht darin, dem Anspruch des »Gegenständlichen« als »Gegenübertretenden« zu »entsprechen«. Das »Gegenübertretende« ist »einer Person vergleichbar, die einem begegnet, so dass man auf sie bezogen ist« (135). Alles, was verstanden werden bzw. uns begegnen kann, bildet eine »Gegenständlichkeit der Welt«, die eine Möglichkeit der Interpretation und des aus ihr sich entfaltenden Verstehens eröffnet. Das Gegenständliche lässt sich nicht im Interpretieren aneignen oder integrieren, es entzieht sich in seiner Undurchsichtigkeit in die Ferne, wie Benjamins Aura, sobald es nahe ist. F. setzt sich folglich mit der einseitigen Konzeption des Gegenständlichen in der modernen Philosophie, die sich als »ein großangelegtes Entgegenständlichungsunternehmen« erweist, kritisch auseinander und bemüht sich, hinter den Formen der Verdinglichung das im »Gegen-Stand« Präsente aufzuschlüsseln.
Das Positive an F.s hermeneutischem Ansatz deckt sich m. E. in nuce mit dem frühromantischen interpretativen Ansatz, worauf F. nur en passant im Blick auf Schlegels einzigartige Idee der Unverständlichkeit eingeht. Die Jenenser Romantiker haben das Interpretieren als Kunst des »symphilosophierenden« Gespräches mit dem Text verstanden. Die zu verstehenden Texte und Kunstwerke werden in ihren hermeneutischen Explikationen nicht bloß als Objekte potentieller wissenschaftlicher Analyse aufgefasst, sondern erweisen sich vielmehr als potentielle Gesprächspartner, die, wie F. Schlegel gesagt hat, für das Studium oder die »Symphilosophie da stehen«. Das Lesen stellt sich mithin als ein Prozess der dynamischen Wechselwirkung heraus, in dem der Interpret offen bleibt für das, was das Werk zu sagen hat, während das Werk im Verstehen seine neue Konkretisierung im Bewusstsein des Lesers erfährt.
Nach F.s Ansicht sind die vortrefflichen Werke »Gegenstände« par excellence, die immer wieder neue Anstöße zur unerschöpflichen interpretativen Tätigkeit bieten. In Anschluss an Platons Philebos (16c) wird der Text als etwas Ganzes, Geordnetes aufgefasst, das wiederum in keiner Darstellung als solcher aufgeht, sondern sich gleichzeitig entzieht: Jeder Text stellt F. zufolge ein dialektisches Verhältnis zwischen paras und apeiron dar; er ist einerseits geordnet, strukturiert, in seine Grenze festgelegt, und anderseits unabgeschlossen und zugleich unbegrenzt. F. setzt hiermit die von Flacius stammende Tradition der Berufung auf Platon fort, dass jede Rede (logos), i. e. jede Schrift, als eine organische Ganzheit (hosper zoon; Phdr 264c) verfasst werden soll, beachtet jedoch nicht die Anordnung, den Text getreu seiner sinngemäßen inneren Ordnung (dispositio) verantwortlich und stringent darzulegen. Der nach der makellosen Interpretation suchende Leser wird enttäuscht, da F. einerseits den Term »Text« gemäß der ursprünglichen Bedeutung des Wortes logos als »textus, Gewebe, Geflecht«, »Ordnung der Rede« deutet (68), aber anderseits bei der Darlegung seiner Interpretationskonzeption als zu erfüllende »Texterwartung« auf das unabdingbare Kohärenzkriterium völlig verzichtet.
Die Frage nach der Norm der Auslegung im Sinn des Prinzips der »hermeneutischen Billigkeit«, dem sich Auslegungen mehr oder weniger annähern, wird hier überhaupt nicht thematisiert. Dagegen besteht ein starkes Interesse an dem perspektivischen Charakter des Interpretierens, der für die Explikation der »Gegenständlichkeit« durchaus Grundvoraussetzung bleibt. Dem ist entgegenzustellen, dass man im Falle des Bestehens mehrerer Interpretationsalternativen nicht alle als hermeneutisch berechtigt und äquivalent akzeptieren soll, sondern der Interpret muss letztendlich beurteilen, welche Deutung vom hermeneutischen Standpunkt der Sinnerschließung plausibel und optimal ist. F.s Interpretation, notabene, ist allzu breit gefasst, sie ist mehr »Ausführung« als Klärung des Sachverhalts: »Die Rezitation einer Dichtung, die Inszenierung eines Schauspiels oder das Erklingenlassen eines Musikstücks sind Interpretationen in diesem Sinn.« (70) Hier müsste man unter Berufung auf Platons Kritik der Rhapsodenkunst darauf aufmerksam machen, dass eine gelungene Kunst des hermeneuein eine holistische Wissen- und Verstehensprüfung im Sokratischen Sinne erfordert.
F. ist ferner überzeugt, dass die kulturelle Gegenständlichkeit von Kunst, Philosophie und Religion nicht möglich wäre, wenn nicht das Leben selbst immer schon gegenständlich wäre. Damit tritt die »Welt als hermeneutischer Raum« in den Vordergrund der Überlegung (4. Kapitel) in dem sich das interpretative Verhältnis »von Darstellung und Gegenstand ereignet« (143). Deshalb geht es der hermeneutischen Philosophie F.s primär darum, das Ganze des Lebens in seinem Zusammenhang als »Darstellungsgefüge« aufzuhellen, aber nicht im Sinne einer Rückkehr zur »Lebensphilosophie«, so wie sie von Dilthey und Nietzsche als Gegenmetaphysik geprägt wurde, sondern in einem eigenartigen Rekurs auf Aris­toteles, wobei die »Seinsfrage« durch hermeneutische Darlegung des »Lebens« ersetzt wird. Damit visiert F. einen neuen hermeneutischen Raum an, in dem die Kluft zwischen der Welt der Dinge und der »Lebenswelt« überwunden werden soll: »Daß wir uns auf die Dinge beziehen und zugleich durch sie betroffen sind, daß wir inmitten der Dinge sind und doch anders als sie, ist ein Schlüssel dazu, was ›Leben‹ in Hinblick auf uns und für uns bedeutet.« (361)
Im letzten Kapitel versucht F. nachzuweisen, dass nicht mehr die Sprache als Medium des Verstehens, wie bei Gadamer, fungiert, sondern ein Leben, das verstehen kann und im Verstehen seine Wirklichkeit hat. Damit wird die umstrittene philosophische Fragestellung des Selbstverhältnisses zur Sprache gebracht, das hier als »Lebensgefüge« charakterisiert wird. F. hat offensichtlich in seiner Explikation die reflexive Letztbegründung bewusst übersehen, dass nämlich ein als »Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält« konzipiertes Leben lediglich als bewusstes Leben möglich ist.
Viele von F. unternommene phänomenologische Rückgänge auf Platon und Aristoteles, die zwecks der Vertiefung unserer philosophischen Begriffe unternommen wurden, bedürften der akribischen Detailanalyse vom sachlich hermeneutischen Standpunkt her. Als Beispiel der fragwürdigen Deutung könnte man den tripartiten Charakter der Seele im fünften Buch der platonischen Politeia als »Lebensgefüge«, als »Teile« der Lebendigkeit nennen oder auf die um­strittene Deutung des aristotelischen Begriffs »psyche« als Le­bensform verweisen, wodurch das pollachos legomenon als das eigentliche Merkmal der aristotelischen Philosophie verloren geht. Der Begriff »Lebensform« hat in der analytischen Philosophie, namentlich bei Wittgenstein, eine festgelegte Bedeutung und wird hauptsächlich im Kontext der verschiedenen Sprachspiele verwendet. Es ist ein Wagnis zu behaupten, dass sich die Psyche als Lebensform im hermeneutischen Raum derart entfalten lässt, dass nicht nur die Menschen in ihrer Kreativität durch Denken und Handeln frei sind, sondern auch die Dinge: »auch sie sind in Freiheit, Sprache und Zeit. Sie sind frei, sofern sie unabhängig von uns und in dieser Unabhängigkeit zugänglich sind« (357). Ein Denken, in welchem auch die Dinge aufgrund ihrer Bewegung des Ent- und Verbergens frei sind, stellt eine eigenartige »List« der Hermeneutik hinsichtlich des Fortschritts im Bewusstsein der Freiheit dar, die auch Hegel beneiden würde.