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Ausgabe:

Februar/1999

Spalte:

214–216

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Baeck, Leo

Titel/Untertitel:

(1) Dieses Volk. Jüdische Existenz. Hrsg. von A. H. Friedlander u. B. Klappert.
2) Wege im Judentum. Aufsätze und Reden. Hrsg. von W. Licharz.

Verlag:

(1) Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 1996. 374 S. gr.8 = Leo Baeck Werke, 2. Lw. DM 148,-. ISBN 3-579-02335-7.
((2) Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 1997. 319 S. gr.8 = Leo Baeck Werke, 3. Lw. DM 98,-. ISBN 3-579-02336-5.

Rezensent:

Wolfgang Wiefel

Manchmal läßt ein meist übersehenes biographisches Detail Aspekte eines ganzen vielschichtigen Lebenswerkes in neuem Lichte erscheinen. Die dem Band 3 der Werkausgabe des jüdischen Theologen Leo Baeck beigegebene Lebensdarstellung berichtet davon, daß der 1873 in Lissa (Provinz Posen) geborene Rabbinerssohn unmittelbar an der Grenzlinie der Konfessionen groß geworden ist. "Eine calvinische Gemeinde hatte sich seit der Reformationszeit in Lissa halten können, und Leo Baecks Vater lebte gemeinsam mit seiner Familie im Haus des calvinistischen Pfarrers. Was der Junge in diesem Umfeld erlebte, mag mit ausschlaggebend dafür gewesen sein, daß Leo Baeck während seines ganzen Lebens eine besondere Affinität zwischen Judentum und Calvinismus gespürt hat" (2, 10). Dies ist nicht nur an der geistesgeschichtlichen und soziologischen Bewertung des Calvinismus einschließlich seiner angelsächsischen Ausläufer zu spüren, sondern reicht ungleich tiefer. Wollte man ein theologisches Axiom formulieren, daß seinem Gottesbild und seiner Geschichtsphilosophie, seinem Verständnis der jüdischen Existenz und ihrer religiösen Sendung zugrunde liegt, so erscheint nichts adäquater als das (freilich vom Christlichen ins Jüdische transformierte) finitum non capax infiniti. "Den Weg, welchen die Offenbarung zeigt, welchen Gott, der nie offenbarte und immer offenbarende, weist, sollte dieses Volk erkennen und gehen, um damit den Weg für Gott zu bahnen" (2, 118). Der Bund mit Gott hebt die Spannung nicht auf, sondern stellt ein Volk exemplarisch in sie hinein, eine Existenz, deren Geheimnis im Bilderverbot der Tora ahnbar wird.

Die am tiefsten schürfenden Studien sind Aufsätze von wenigen Seiten, die jeweils einen Grundgedanken entfalten und in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg in Zeitschriften publiziert und schon einmal 1933 unter dem hier wieder verwendeten Titel Wege im Judentum vorgelegt wurden. Sie sind systematisch gruppiert unter Überschriften, die Polarität ausdrücken: Vollendung und Spannung, Bindungen und Wege, Geschichte und Kampf, Ziel und Widerstreit, Menschen und Geschicke. Geht man den Orten der Erstveröffentlichungen nach, so ergibt sich ein aufschlußreiches Bild. So schreibt Baeck im Organ des deutschen Kulturzionismus, das von Martin Buber herausgegeben und gestaltet wird, über Lebensgrund und Lebensgehalt (112-122 = Der Jude 2, 1917/18, 78-86), Religion und Erziehung (129-138 = 9, 1926, 1-10) und in der Festnummer zum fünfzigsten Geburtstag des Herausgebers unter dem Nähe und Distanz andeutenden Titel Boden, Erde, Welt (123-128 = 10, 1928, 147-152).

Von Anfang an ungleich stärker präsent ist er in einer Zeitschrift, in der zum letzten Male das deutsch-jüdische Bildungsbürgertum seine Selbstdarstellung fand. Hier geht es um Themen aus dem weiten Feld der Religions- und Geistesgeschichte: Kulturzusammenhänge (101-110 = Der Morgen 1, 1925, 72-83), Das Geistige im Wohltun (91-100 = 2/3, 1926, 215-222), den Begriff der Weltgeschichte (149-153 = 5, 1929, 362-366), das Verhältnis von Volksreligion und Weltreligion (154-162 = 7, 1931, 8-11), und die Weltreligionen (162-166 = 7, 1931, 332-337), die Spannung Zwischen Wittenberg und Rom (206-217 = 7, 1931, 516-527), und Motive in Spinozas Lehre (243-250 = 8, 1932, 341-350).

In die Mitte von Baecks Denken führen die Beiträge ein, die in einer abseitigen Schriftenfolge erschienen sind und schon durch die Wahl der Überschriften die Polarität zum Ausdruck bringen, die für die religiöse Philosophie des Autors kennzeichnend ist. Sie stehen am Anfang der Sammlung: Vollendung und Spannung (29-44 = Der Leuchter, 4, 1923, 171-191), Geheimnis und Gebot (45-54 = 3, 1921, 137-153), Tod und Wiedergeburt (55-69 = 6, 1925, 195-218).

Das menschlich bewegendste Dokument ist die Rede über die Heimgegangenen des Krieges, gehalten 1919 in der Hochschule für Wissenschaft des Judentums, versehen mit dem Untertitel Über den preußischen Staat (285-296), in der ein an Kant und den preußischen Reformern gebildetes Staatsethos aufleuchtet - knapp zwei Jahrzehnte vor der Verstoßung und Auslöschung der treuesten Söhne ihrer Heimat. So mußten es auch konservative Kulturzeitschriften sein, in denen er zur außerjüdischen Welt spricht, in Eugen Diederichs Tat über die Bedeutung der jüdischen Mystik für unsere Zeit (86-90), in Josef Hofmillers Süddeutschen Monatsheften über Jüdische Religion der Gegenwart (199-205). Wie bei seiner letzten großen Vorlesungsreihe im Todesjahr in Münster spannt sich auch in diesem Band der Bogen von Moses Mendelssohn (251-266) zu Franz Rosenzweig (216-227), den gleichermaßen verehrten Meistern.

Wer von der Rezeption dieser Aufsätze kommt, hat sich damit den angemessenen Zugang zu jener zweiteiligen Schrift erarbeitet, die die Herausgeber im Blick auf den Entstehungsort den Midrasch aus Theresienstadt nennen. Mit ihm als Band 2 wird die neue Werkausgabe, die im Auftrag des Leo Baeck Instituts in New York erscheint, eröffnet.

Der erste Teil, schon zu Lebzeiten des Autors (1955) von einem engagierten kleinen Verlag (Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt) publiziert, traf auf eine Zeit, wo im Nachkriegsdeutschland jüdische Themen nicht eben gefragt waren. Das Werk war nach skizzenhaften Vorarbeiten im Theresienstädter Zwangsghetto 1942-1945 entstanden und versucht eine Phänomenologie der biblischen Grundlagen jüdischer Existenz. Es entfaltet den Bund als die elementare Gegebenheit (35-54), der der Auszug (54-78) und die (Sinai-)Offenbarung (79-119) zugeordnet werden und auf dessen Basis die Polarität von Wüste und Boden als geschichtliche Urdaten erscheinen. Es hängt nicht nur mit den Bedingungen der Niederschrift zusammen, daß er, anders als etwa Martin Buber, der das Gespräch mit der Forschung von Wellhausen bis Noth stets suchte, ausschließlich den biblischen Text, vor allem die Tora zu Wort kommen läßt. So kann am Ausgang des Jahrhunderts kritischen wie nachkritischen Lesern eine jüdische Sicht auf das Geheimnis der Geschichte dieses Volkes nahegebracht werden.

Der zweite Teil ist erst ein Jahr nach dem Tode des Autors (1957) vorgelegt worden und nahezu unbekannt geblieben, so daß von einer Erstpublikation gesprochen werden kann. Ging es zunächst um die Grunderfahrung der Bundesstiftung, so erscheint nun die israelitische und jüdische Geschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart in einem eindrucksvollen Panorama. Daten und nacherzählte Ereignisabläufe fehlen fast gänzlich. Hier wird der Geistesgeschichtler aus der Schule Diltheys erkennbar, der nicht deskriptiv-registrierend, sondern deutend an die Geschichte herangeht. Der Leser wird dafür reichlich entschädigt durch eine Vielzahl einmaliger Formulierungen, wenn etwa bei der Gegenüberstellung von Sephardim und Aschkenasim von Kulturfrömmigkeit dort, Frömmigkeitskultur hier gesprochen wird, die Polarität von Mystik des Kopfes und Mystik des Herzens betont erscheint, Chokmah und Tora als bleibende Spannungselemente jüdischer Theologie herausgearbeitet werden. Eigenartig ist die chronographische Gliederung, die jeweils ein Jahrtausend für eine Epoche nimmt. Als Zäsuren erscheinen: das Ende des Babylonischen Exils (500 a.), der Ausgang der Antike (500 p.) und der Anfang der Neuzeit mit der Vertreibung der Juden aus Spanien (1500).

In der Darstellung unseres Jh.s wirkt eines zunächst irritierend: Shoa und Staatsgründung Israels werden nicht als Epochenwende herausgehoben, sondern als Ereignisse in der Mitte des vierten Jahrtausends der Volksgeschichte eingeordnet. Vier Jahrzehnte später mag der Leser hier eine frühe Distanzierung von einer seither vielfach vertretenen geschichtstheologischen Konzeption erkennen. Für Baeck kann es weder eine Theologie des Holocaust noch einen heilsgeschichtlich überhöhten Zionismus geben. Auch diese Ereignisse gehören in den Bereich des finitum, für den das non capax gilt. Der Schluß kehrt zum Anfang zurück. "Die Frage aller Fragen, die des Eintritts des Ewigen, des Unendlichen, des Einen in die Bereiche der Vielen, des Irdischen, des Vergänglichen, diese Frage, in der das Suchen, das Denken, das Hoffen dieses Volkes seit je lebt, hatte hier das Wort, aus dem die Antwort sprach"(2, 373 f.).