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Ausgabe:

Januar/2010

Spalte:

67-68

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Wallmann, Johannes

Titel/Untertitel:

Pietismus-Studien. Gesammelte Aufsätze II.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2008. XIV, 408 S. gr.8°. Geb. EUR 109,00. ISBN 978-3-16-149504-5.

Rezensent:

Ernst Koch

In einem weiteren Band seiner »Gesammelten Aufsätze« – Bd. 1 erschien 1995 unter dem Titel »Theologie und Frömmigkeit im Zeitalter des Barock« – legt W. nunmehr 20 Studien vor, von denen eine bisher ungedruckt ist und eine erstmals in deutscher Fassung dargeboten wird. Sie beziehen sich, wie im Vorwort vermerkt, ausschließlich auf die Geschichte des Pietismus, indem sie sich mit »Grundfragen der Pietismusforschung« beschäftigen. Eine dieser Studien (»Erdmann Neumeister – der letzte orthodoxe Gegner des Pietismus« [XII], erstmals im Jahre 2000 veröffentlicht) mag zwar am Rande des so beschriebenen Themenkreises der Aufsatzsammlung stehen. Jedoch ist auch sie Zeugnis für die höchst begrüßenswerte Ausweitung des Radius’ der Pietismusforschung während des zurückliegenden Jahrzehnts.
Nicht nur das Verhältnis von Orthodoxie und Pietismus – W.s Aufsatz von 1966 steht als wiederholter Abdruck an der Spitze der Sammlung – hat das Themenfeld der Forschung beeinflusst und ist von W. selbst auch später wieder aufgenommen worden (vgl. den während des Wittenberger Symposiums zur Erforschung der Lutherischen Orthodoxie vorgetragenen Beitrag V: »Pietas contra Pietismus. Zum Frömmigkeitsverständnis der lutherischen Or­thodoxie« und den Beitrag VI: »Zur Frömmigkeitskrise des 17. Jahrhunderts«). Auch Überlegungen zum Bibelverständnis im Pietismus (XIV), zu »Frömmigkeit und Gebet im Pietismus« (XVI) und zum Neuansatz pietistischer Seelsorgepraxis bei Spener (XVII), zum Thema des Verhältnisses des Pietismus zum Judentum (XV), zum Thema »Preußentum und Pietismus« (XX, bisher ungedruckt), zu Speners Distanz zum vierten Buch von Johann Arndts Büchern vom Wahren Christentum (»Kometenfurcht und neuzeitliche Naturwissenschaft«, XIII – der Text erscheint gegenüber der Erstfassung unter einem anderen Titel und auch etwas verändertem Wortlaut; Letzteres ist auf S. 397 zu ergänzen) und zu »Goethe und der Pietismus in Frankfurt am Main«, XIX) gehören zu den in Neuland der Forschung vorstoßenden Beiträgen W.s. In die Sammlung aufgenommen sind ferner der aus dem Jahr 1978 stammende Vortrag über die Anfänge des Pietismus (II), über die schon in der Überlieferung des 17./18. Jh.s strittige Frage des Verhältnisses Martin Bucers zum Pietismus (IV), über »Lutherischer und reformierter Pietismus in ihren Anfängen« (VIII) sowie »Das Melanchthonbild im kirchlichen und radikalen Pietismus« (X). Hinzu kommen Beiträge, die sich Einzelaspekten von Speners Werk (IX sowie XI: »Philipp Jakob Speners Auseinandersetzung mit der tridentinischen Rechtfertigungslehre«) wie auch Speners Bedeutung insgesamt (VII: »Philipp Jakob Spener, der Vater des Neuprotes­tantismus«) widmen. Erstmals in deutscher Sprache erscheint ein 2006 in englischer Sprache veröffentlichter, eher biographisch orientierter Aufsatz über Johann Arndt (III). Mit dem Text einer Gastvorlesung in Basel 1992, veröffentlicht 1995 (XIII), versuchte W., »über die bisherigen Wesensbestimmungen [des Pietismus], auch über meine eigene, ein Stück hinauszukommen« (213), indem er, wie bereits in dem einige Monate früher datierten Text XIV, dem pietistischen Verständnis der Bibel im Vergleich zur Wittenberger Reformation nachging.
W. sieht in dieser Aufsatzsammlung eine Zusammenschau, in der »wie in einem Kaleidoskop eine Fülle von Einzelheiten« zusam­mengefasst werden. Er versteht sie als stückweise Einlösung seines seinerzeit gegebenen Versprechens, seiner Untersuchung »Philipp Jakob Spener und die Anfänge des Pietismus« (1. Aufl. Tübingen 1970, 2. überarbeitete und erweitere Aufl. Tübingen 1986) eine Fortsetzung folgen zu lassen (VI). Nicht aufgenommen sind in die Sammlung po­lemische Beiträge W.s, die sich gegen eine Ausweitung des his­torischen Pietismusbegriffs, wie er und andere ihn verstehen, wenden. Damit spielt er auf die teilweise erbitterten Auseinandersetzungen um die Begriffsdefinition »Pietismus« an, in denen er mehrfach dezidiert Stellung bezogen hat. Der Verzicht auf eine Neuveröffentlichung solcher Texte bedeutet für W. jedoch nicht, dass er seine Unterscheidung zwischen ›Pietismus im weiteren Sinne und im engeren Sinne‹ aufgeben möchte – im Gegenteil: Es geht ihm in den gesammelten Aufsätzen um den Aufweis, dass anders lautende Definitionen oder Beschreibungen zu »sinnwidrigen Konsequenzen« führen. Insofern dokumentieren die erneut dargebotenen Texte einerseits ein wichtiges Stück Forschungs- und Wissenschaftsgeschichte und bieten dem Interesse an begrifflicher Präzision nach wie vor eine Diskussionsgrundlage. Andererseits eröffnen sie in bequemen Zugang ermöglichender Gestalt Einblicke in viele Facetten der Erforschung der pietistischen Bewegung und der sie begleitenden Prozesse – immer wieder unter dankenswerter Berücksichtigung der älteren Pietismusforschung, von der W. mit Recht feststellt, sie sei »heute nahezu in Vergessenheit geraten« (V).
Nicht vermerkt sind die Seitenzahlen der ursprünglichen Publikationsorte der Studien. W. hat, worauf er selbst hinweist (im Vorwort: VII), lediglich an einer Stelle der (textlich veränderten) Studie XVIII (nicht: »XIX«, wie es im Vorwort heißt) (neben einer einzelnen Anmerkung auch) eine längere polemische Passage gestrichen. Sie gehörte ursprünglich zu Anm. 4 (324) und setzte sich mit Hermann Geyers Forschungen zu Johann Arndt auseinander.
Eine einzelne Textstelle schafft Verlegenheit. Auf S. 97 wird als Geburtsort des Juristen Johann Schilter »Pegau bei Meißen« ge­nannt. Die Nachsuche ergibt, dass »bei Meißen« kein Ort dieses Namens existiert bzw. existiert hat. Noch schwieriger steht es mit der zugehörigen Angabe im Ortsregister »Pergau bei Meißen«. Es mag sein, dass es sich hier um ein Druckversehen handelt, denn auch ein solcher Ort ist bei Meißen nicht aufzufinden. Die Wurzel des Problems liegt wohl bei einem Missverständnis der Notiz in ADB 31, 266: »Pegau a[n der] Elster im Meißner Gebiet«. Damit ist klar, dass es sich um den Ort Pegau handelt, gleichzeitig ehemaliger Sitz eines kursächsischen Amts im Territorium der alten Mark Meißen, südlich von Leipzig gelegen. – Im Personenregister sind unter dem Eintrag »Carpzov, Johann Benedikt« drei unterschiedliche, nicht gleichnamige Glieder der verzweigten Familie Carpzov eingetragen: Neben Johann Benedikt C. Samuel Benedikt C. (zu 113) und der Jurist Benedikt C. (zu 249). Das Register ist dementsprechend zu korrigieren.
Es handelt sich bei dieser Aufsatzsammlung auch um die Dokumentation eines großen Teils des bisherigen Lebenswerks eines namhaften, international angesehenen Fachmanns, dem die Erforschung der Geschichte des frühneuzeitlichen und neuzeitlichen Christentums viel zu verdanken hat.