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Ausgabe:

Januar/2010

Spalte:

64-67

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Schäbitz, Michael

Titel/Untertitel:

Juden in Sachsen – Jüdische Sachsen? Emanzipation, Akkulturation und Integration 1700–1914.

Verlag:

Hannover: Hahnsche Buchhandlung 2006. 510 S. m. Abb. u. Tab. gr.8° = Forschungen zur Geschichte der Juden. Abt. A: Abhandlungen, 18. Geb. EUR 58,00. ISBN 978-3-7752-5627-8.

Rezensent:

Hans-Martin Kirn

Die vorliegende Arbeit, eine gekürzte (!) Fassung der im Wintersemester 2003/2004 von der Fakultät I Geisteswissenschaften der TU Berlin angenommenen Dissertation (S. Jersch-Wenzel), widmet sich der Judenpolitik und -gesetzgebung sowie der Akkulturation und Integration der Juden in Sachsen vom 18. bis zum beginnenden 20. Jh., mit deutlichem Schwerpunkt auf der Entwicklung im bürgerlichen Kontext der Städte Dresden und Leipzig im 19. Jh. Es ist neben den vielen Einzeluntersuchungen die erste Überblicksdarstellung zum Thema mit dieser (doppelten) Zielsetzung. Dabei sollte sowohl die Außenperspektive von Integration und Akkulturation (die Sicht von Regierung, Verwaltung und nichtjüdischer Bevölkerung) sowie deren Innenperspektive (die Sicht der sächsischen Juden) Berücksichtigung finden (19). Die Untersuchung zeichnet sich vor allem durch die umsichtige Präsentation und Auswertung des breit angelegten Quellenmaterials aus, wobei u. a. ausgiebig Gebrauch gemacht wird von den Archivalien der betroffenen Institutionen, von Selbstzeugnissen und zeitgenössischen Periodika.
Im ersten Kapitel, das eher vorbereitenden Charakter hat, skizziert der Vf. die Geschichte der Juden in Sachsen im 18. Jh. (23–50), um im zweiten Kapitel das »Zeitalter der Judenemanzipation und die Politik Sachsens« zwischen 1795 und 1828 zu behandeln (51–79). Die Regierung widersetzte sich demnach von Anfang an allen Forderungen nach bürgerlicher Gleichstellung der Juden mit einer Blockadepolitik, welche die rechtliche Emanzipation nur als Endpunkt einer im Wesentlichen noch zu leistenden »bürgerlichen Verbesserung« des Judentums und damit gegen die ursprünglichen Ansätze Chr. W. v. Dohms akzeptieren wollte. So blieben weiterhin die Judenordnungen von 1746 und 1772 bestimmend (als Faksimile aus dem Codex Augusteus ohne nähere Erläuterungen im Anhang wiedergegeben). Als klassisches Legitimationsmuster etablierte sich der von religiösen Vorurteilen und wirtschaftlichen Konkurrenzängsten gespeiste »Schutz« der christlichen Bevölkerung. In den Genuss von Ausnahmeregelungen kamen allenfalls die ausländischen jüdischen Besucher der Leipziger Messe. Auf jüdischer Seite lässt sich beobachten, wie die Akkulturations- und Integrationsbestrebungen intensiviert wurden. Das dritte Kapitel (80–95) thematisiert die verstärkte öffentliche Debatte über die Judenemanzipation in der Umbruchsituation von 1830/1831, doch auch der Übergang zum Verfassungsstaat brachte keine Fortschritte, u. a. wegen der angeblich negativen Erfahrungen mit der Emanzipationsgesetzgebung in Baden und Preußen. Wie auch anderswo zählten die Hinweise der Befürworter auf die positiven Entwick­lungen in Nordamerika, Frankreich und Holland nicht. Die Verweigerung der Gleichstellung setzte sich auf den Reformlandtagen 1833/1834 und 1836/1837 fort. Charakteristisch für die mit dem aufklärerischen Erziehungsanspruch verknüpfte Verschleppungstaktik war die Einforderung von Vorleistungen und Kritik am jüdischen Religionsgesetz, wobei sich diese Kritik des Öfteren an den Vorstellungen jüdischer Radikalreformer orientierte. So sollten die Juden die Feier des Schabbat auf den Sonntag verlegen, um ihre Bereitschaft zur Anpassung an die christlichen »Gebräuche und Sitten« zu bekunden. Deutlich wird, wie vor allem unter christlichen Handwerkern und Gewerbetreibenden eine wirtschaftlich motivierte Judenfeindschaft lebte, die sich in Massenprotesten gegen die Judenemanzipation verdichten konnte. Die Idealisierung des »christlichen Staats« und die chauvinistische These, die Juden stünden außerhalb der nationalen Gemeinschaft, sorgten auf ihre Weise für eine Delegitimierung des Gleichstellungsgedankens. Dabei lassen sich Einzelfortschritte nicht leugnen. So wurde 1838 unter bestimmten Bedingungen den Juden der Erwerb des Bürgerrechts in Dresden und Leipzig zugestanden.
Mit der innerjüdischen Entwicklung der 1830er und 1840er Jahre beschäftigt sich Kapitel 5 (147–166). Zur Sprache kommen die mit staatlicher Unterstützung erfolgten Gemeindebildungen, die Kultus- und Schulreformen sowie der Synagogenbau in Dresden und Leipzig, aber auch die damit verbundenen innerjüdischen Auseinandersetzungen um die Modernisierung bzw. Konfessionalisierung des Judentums. Deutlich wird das Zusammenwirken von Kultusministerium und den um Akkulturation und Integration bemühten Vertretern des Reformjudentums, etwa im Fall des Dresdner Oberrabbiners Z. Frankel, herausgearbeitet. Gewissermaßen als Gegenstück liest sich Kapitel 6 (167–183), das die Vorgänge auf den Landtagen 1839/1840, 1842/1843 und 1845/1846 und ihre Folgen analysiert. Trotz stagnierender Rechtsentwicklung im Zeichen konservativer Politik und unverändert starkem Misstrauen gegen die Juden in der sächsischen Administration wird als Tendenz konstatiert: In den 1830er Jahren wurden Juden »in öffentlichem und privatem Rahmen zunehmend akzeptiert«, es »begann die Integration der sächsischen Juden in die Gesellschaft« (183).
Die Revolution von 1848/1849 brachte im Gefolge der in der Paulskirche erlassenen »Grundrechte des deutschen Volkes« auch den sächsischen Juden die rechtliche Gleichstellung (Kapitel 7; 184–202). Erstaunlicherweise wurde diese in der Zeit der Reaktion nicht zurückgenommen, doch eine entsprechende Verankerung in der Verfassung scheiterte. Damit begann eine Phase administrativer Benachteiligung der Juden, welche noch die 1860er Jahre bestimmte. Dazu zählten das Verbot der Mischehe, der obligatorische christliche Eid für Lehrer (das Volksschulwesen sollte evangelisch-lutherisch bleiben) sowie die weitgehende Verweigerung der Aufnahme von Juden in den Staatsdienst. Auch hier lebte die Ideologie vom »christlichen Staat« fort, wie sie z. B. der Oberhofprediger Adolf Harleß vertrat (Kapitel 8; 203–235). Entsprechend stark blieb in politischer Hinsicht die Behauptung einer »nationalen« Differenz, die das Judentum, wie ein Regierungsrat formulierte, zum »fremde[n] Volksstamm mit fremdem Character« (207) herabsetzte.
Der Entwicklung von Integration und Akkulturation der Juden in der entsprechenden Periode (1850–1870) geht Kapitel 9 nach (236–277). Trotz fortdauernder Anfeindungen konstatiert der Vf. eine zunehmende Annäherung von Juden und Christen, sichtbar etwa in der Wahl angesehener Juden in die Stadtparlamente von Dresden und Leipzig und der Teilnahme von Juden am allgemeinen Vereinsleben. Wirtschaftlicher Erfolg, Sorge um das Gemeinwohl und patriotische Gesinnung beförderten offenbar den sozialen Anerkennungsprozess, auch wenn dieser defizitär blieb. Zu den bemerkenswerten Leistungen auf jüdischer Seite gehörte die Gründung einer ersten Gesamtorganisation in Deutschland im Dienste der Emanzipation, des Deutsch-Israelitischen Gemeindebundes, 1869 in Leipzig. Dieser wurde 1882 aus Sachsen vertrieben und nahm – den wachsenden antisemitischen Angriffen nicht gewachsen – seinen Sitz als unpolitische Vereinigung in Berlin. Letzteres weist voraus auf die Zäsur, die mit Beginn der 1870er Jahre einsetzte und die 1880er und 1890er Jahre prägte: die Zunahme der antisemitischen Agitation und die Vergiftung des öffentlichen Klimas »nach einer Phase der relativen Offenheit und Liberalität« (406). Sachsen erwies sich im Vergleich mit anderen deutschen Ländern als besonders empfänglich für die antisemitische Bewegung, so­wohl in ihrer christlich-konservativen (A. Stoecker) wie in ihrer radikal rassistischen Form. Dresden und Leipzig wurden um 1900 bekanntlich zu Zentren des Antisemitismus in Deutschland (Kapitel 10; 278–314; Kapitel 11; 315–396). Die staatliche Benachteiligung der Juden, etwa in der Aufnahme von Akademikern in den Staatsdienst, setzte sich fort, ja, nahm im Laufe der Jahre rigidere Züge an als in den übrigen deutschen Einzelstaaten. So gab es offenbar an der Universität Leipzig im Kaiserreich keinen einzigen ordentlichen Professor jüdischen Glaubens. Auch in der sächsischen Justiz hatten Juden kaum eine Chance. Die Doktrin vom »christlichen Staat« verhinderte weiterhin die Gleichstellung der jüdischen Religionsgemeinschaft mit der evangelisch-lutherischen Kirche. Doch noch stets konnten sich die »jüdischen Sachsen«, d. h. die jüdische Mittel- und Oberschicht, »als integrierte Teile der sächsischen Gesellschaft betrachten« (347). Diese Integration in das Bürgertum blieb freilich prekär (396), so dass das Urteil insgesamt ambivalent ausfällt, mit dem wohl richtigen Fazit, dass »der Weg in die Vertreibung und Ermordung der deutschen Juden … keineswegs schon während des Kaiserreichs vorherbestimmt und noch weniger vorauszusehen« gewesen sei (409).
Die Arbeit liefert einen wichtigen Beitrag zum Facettenreichtum und zur Komplexität (20) der sächsischen Landesgeschichte wie der deutsch-jüdischen Geschichte. Freilich bleibt zu wünschen, dass mit der Materialfülle auch die Einsicht in die strukturellen und mentalitätsgeschichtlichen Zusammenhänge weiter wächst (etwa im Blick auf die unterschiedlichen Vorstellungen von Integration) und die komparative Perspektive in europäischer Weite ausgebaut wird. Man möge es dem Rezensenten nachsehen, dass er das abschließende Urteil des Vf.s, die Integration »changier[e] zwischen weitgehend, aber deutlich unvollständig« (409), gern als sprachlichen Hilferuf in dieser Richtung verstehen möchte.
Abkürzungs-, Quellen- und Literaturverzeichnis sowie Register (A. Harleß fehlt) und 28 Anhänge beschließen diesen vielseitigen Band.