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Ausgabe:

Januar/2010

Spalte:

60-62

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Bieri, Hans

Titel/Untertitel:

Der Streit um das kopernikanische Weltsystem im 17. Jahrhundert. Galileo Galileis Akkkomodationstheorie und ihre historischen Hintergründe. Quellen – Kommentare – Übersetzungen unter Mitarbeit v. V. Masciadri. 2., überarb. Aufl.

Verlag:

Bern u. a.: Lang 2008. 569 S. gr.8° = Freiburger Studien zur Frühen Neuzeit, 9. Kart. EUR 80,50. ISBN 978-3-03911-708-6.

Rezensent:

Dirk Evers

Der »Fall Galilei« gilt weithin als das Symbol für die Unverträglichkeit von Religion und aufgeklärter Wissenschaft. Von einer machtbesessenen Kirche durch die Inquisition gezwungen, der natur­wissenschaftlich erwiesenen Bewegung der Erde um die Sonne abzuschwören, erscheint Galilei als Märtyrer der frühneuzeitlichen Wissenschaft. Um sein Leben zu retten, musste er nachgeben, da­nach aber soll er trotzig gemurmelt haben: »Und sie bewegt sich doch ...«. Und er sollte Recht behalten, denn Obskurantismus, mittelalterlicher Aberglaube und Fanatismus können sich auf Dauer gegen die wissenschaftliche Wahrheit nicht halten. An dieser durch die Aufklärung geprägten Legende hat die historische Forschung nun schon seit vielen Jahrzehnten grundlegende Korrekturen und Differenzierungen angebracht, die eine allzu simple Gegenüberstellung von ignoranter Theologie hier und unbestechlichem wissenschaftlichen Geist dort unmöglich machen sollten. Nun ist es auch dem Nichtfachmann und Studierenden möglich, durch eigenes Quellenstudium die zentralen theologischen und wissenschaftstheoretischen Auseinandersetzungen im »Fall Galilei« nachzuvollziehen. Der Schweizer Theologe, Altphilologe und Wissenschaftshistoriker Hans Bieri hat in einer ausgezeichneten Edition, die gleich ein Jahr nach ihrem Erscheinen in zweiter, überarbeiteter Auflage vorliegt, die maßgeblichen Texte dieser theologisch wie wissenschaftsgeschichtlich bedeutenden Auseinandersetzung um den Kopernikanismus zusammengestellt und unter Mitarbeit von Virgilio Masciadri aus dem Italienischen, Französischen und Lateinischen übersetzt, kommentiert und mit einer hilf­reichen Einleitung versehen.
Viele der edierten Texte liegen damit erstmals in deutscher Übersetzung vor. Besonders verdienstvoll ist es, dass nun zusätzlich zum Brief an Castelli von 1613, der auch schon in der verbreiteten Ausgabe von Anne Mudry enthalten war, der wichtige und ausführliche Brief Galileis an Cristina, die Großherzogin der Toscana, aus dem Jahr 1615 zweisprachig zugänglich ist. Mit diesem nach gründlichem Studium (u. a. von Augustins Kommentaren zur Genesis) sorgfältig durchkomponierten Essay hatte Galilei versucht, auf die zunehmenden Angriffe und Häresievorwürfe gegen seine Person und die kopernikanische Lehre zu reagieren – allerdings vergeblich, denn 1616 kam es zum berühmt-berüchtigten Dekret durch das Heilige Offizium, das Galilei verbot, den Kopernikanismus weiterhin zu lehren oder zu verteidigen. In Galileis biblisch-hermeneutische Überlegungen, deren Akkommodationsprinzip Parallelen zu Thomas von Aquin und Johannes Kepler aufweist, deuten sich wichtige exegetische Fragestellungen an, die erst sehr viel später von der Theologie eingeholt wurden.
Zu diesen beiden Texten kommen weitere wichtige Briefe von und an Galilei, aber auch die umfangreiche Verteidigung des Kopernikanismus durch Foscarini, der durch seine Auslegung die Beweglichkeit der Erde als mit der Heiligen Schrift vereinbar erweisen wollte, aber erst recht die antikopernikanische Opposition auf den Plan rief. Bemerkenswert ist auch ein kurzes Protokoll über ein Kolloquium Galileis mit Kardinal Barberini, dem späteren Papst Urban VIII., das die fundamentale erkenntnistheoretische Differenz der beginnenden empirisch orientierten Naturphilosophie zum tra­ditionellen kirchlichen Aristotelismus zum Ausdruck bringt. Er­gänzt wird die Auswahl der Quellen, die direkt auf Galilei Bezug nehmen, durch einen Ausschnitt aus Nicole d’Oresmes Livre du ciel et du monde, das einen Höhepunkt der mittelalterlich-nominalis­tischen Debatte um die Bewegung der Erde dokumentiert, einen allerdings zu seinen Lebzeiten nicht gedruckten Text von Georg Joachim Rheticus, dem Wittenberger Mathematiker, Astronomen und Schüler des Kopernikus, der das Manuskript von De Revolutionibus nach Deutschland in den Druck gebracht hatte, sowie kurze Fragmente von Luther (Disputatio de Homine) und Calvin.
Die exzellente Einleitung ist in zehn Abschnitten thematisch und nicht chronologisch geordnet, was zwar die eine oder andere Wiederholung zur Folge hat, andererseits aber die zur Verhandlung stehenden Sachfragen systematisch erschließt. B. zeigt, wie gleich mit dem Erscheinen von Kopernikus’ De Revolutionibus eine theologische Debatte über die dort vertretenen Thesen und ihre Erkenntnisgrundlagen begann und diese Diskussion eingebettet war in den Kampf gegen die reformatorische Lehre, ihre biblische Hermeneutik und damit gegen die Auflösung der scholastischen Wissenshierarchie. Der wissenschaftstheoretische Grundansatz von Galilei befand sich zumindest in Konkordanz mit den biblisch-hermeneutischen Einsichten von Luther, Kepler und Calvin. Das hat die Inquisition erkannt und deshalb nicht Kopernikus selbst, dessen System als Rechenhypothese akzeptiert werden konnte, sondern Galilei in die Schranken gewiesen. Denn er forderte ein »libero filosofare« (320), und sein Grundsatz lautet in der Darstellung B.s: »Wissenschaft – und folglich auch die Astronomie – be­ruht nicht auf Offenbarung, sondern auf Forschung, wofür der Schöpfer den Menschen die Vernunft verliehen hat.« (118 f.) Das war von Galilei durchaus als hilfreiche Entlastung für die Theologie gedacht.
B. zeigt aber auch, dass der Durchsetzung des Kopernikanischen Weltbilds seine fast unmögliche Akzeptanz im Rahmen der scho­las­tischen Naturphilosophie und Erkenntnistheorie entgegenstand. Echtes, beweisbares Wissen schien unabhängig von der Of­fenbarung nur durch strenge Logik möglich, die allein dem Satz vom Wi­derspruch gehorcht. Ansonsten zog man sich in Fragen der Welt­erkenntnis auf ein traditionelles Grundvertrauen in die Zu­verlässigkeit der biblischen Schriften zurück, das man durch die antiken, dem ursprünglichen Wissen Adams noch nahen Quellen ergänzte. Die für induktive Argumente der neuen empirischen Naturphilosophie unverzichtbare Umkehr des modus ponens, durch die von Einzelbeobachtungen auf die diesen zugrunde liegenden realen Verhältnisse gültig geschlossen werden sollte, er­schien dagegen als klassischer syllogistischer Fehler.
Ein weiterer Abschnitt der Einleitung beschäftigt sich mit der Auslegung von Josua 10,12–14 im Rahmen der Kontroverse um das kopernikanische Weltbild. Dass Gott die Sonne zu Gibeon hatte still stehen lassen, galt bekanntermaßen auch für Luther und Melanchthon als eines der Hauptargumente dafür, dass Kopernikus mit den biblischen Aussagen nicht zu vereinbaren sei. Interessanterweise interpretiert Galilei diese Stelle nicht im Sinne seiner Akkomodationstheorie, sondern als einen Beleg für das kopernikanische Weltbild. Nach seiner Überzeugung verursacht die Eigenrotation der Sonne die Eigenrotation der Erde, so dass der Anhalten der Drehung der Sonne um ihre eigene Achse zu einem Anhalten der Erddrehung geführt habe (B. erläutert 505–510 in einem instruktiven Exkurs die astronomischen Hintergründe von Galileis Exegese). Das aber ist ebenso ein physikalisch unhaltbares Argument wie Galileis vorgeb­licher Hauptbeweis für Kopernikus, die Erscheinung von Ebbe und Flut. Die Skepsis auch der astronomisch gebildeten Zeitgenossen er­scheint im Rückblick durchaus verständlich.
Bleibt noch hervorzuheben, dass eine Übersicht zu Galileis Le­ben und Werk, eine ausführliche Bibliographie, ein Glossar wichtiger italienischer und lateinischer Begriffe, eine Zeittafel astronomischer Ereignisse von der Antike bis ins 19. Jh. und drei Register (Bibelstellen, Namen, Sachen) den ausgezeichneten Band abrunden, der systematisch-theologische, historische, wissenschaftstheore­tische und exegetisch-hermeneutische Fragen gleichermaßen be­rührt. Er ist damit hervorragend geeignet, als Textgrundlage für die interdisziplinäre Lehre und Forschung im Zusammenspiel von Na­turwissenschaft, Geschichte, Philosophie und Theologie Verwen­dung zu finden und dabei überkommene Klischees aufzubrechen.