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Ausgabe:

Januar/2010

Spalte:

55-56

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Drossbach, Gisela, u. Hans-Joachim Schmidt [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Zentrum und Netzwerk. Kirchliche Kommunikationen und Raumstrukturen im Mittelalter.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2008. 396 S. gr.8° = Scrinium Friburgense, 22. Lw. EUR 98,00. ISBN 978-3-11-019660-3.

Rezensent:

Kerstin Hitzbleck

Kommunikation ist ein schwieriges Geschäft. Hans-Joachim Schmidt und Gisela Drossbach fragen in ihrem Band nach den »Kommunikationen und Raumstrukturen« in der mittelalterli­chen Kirche und greifen damit mehrere aktuelle Forschungsinteressen auf: An die Stelle der populären Dichotomie von päpstlicher Zentrale und ortskirchlicher Peripherie treten hier die Begriffe »Zentrum« und »Netzwerk« und schaffen so eine Differenzierung, die dem Allzuständigkeitsanspruch des römischen Bischofs als Herr der Christenheit die De- und Plurizentralität der lokalen Kirchen gegenüberstellt. Kommunikation verläuft in geographisch und sozialräumlich unterschiedlichen und durchaus exklusiven Kreisen und Hierarchien.
Hans-Joachim Schmidt problematisiert in seiner um begriffliche Schärfe bemühten Einleitung (7–40) das komplexe Ineinander divergierender Kommunikationsräume und -strukturen in der Kirche. Die Notwendigkeit der Integration von beanspruchter Einheit der Papstkirche und tatsächlicher, räumlicher und lebensweltlicher Heterogenität steht am Anfang seiner Überlegungen: Angesichts der Unmöglichkeit universaler Vereinheitlichung verfestigte die Organisation der römischen Kirche eine europaweite Raumdurchdringung und vertikale Zentrierung auf den Bischof von Rom: »Die Kris­tallisierung fluider Zustände in den Institutionen führt zu stabilen Ablagerungen im Raum.« (10) Parallel zu den Bistümern verstetigten sich jedoch – etwa bei den Orden – konkurrierende kirchliche Einrichtungen. Auch Individuen und Institutionen knüpften kommunizierend horizontale Kontakte: »Beziehungsmuster lagerten sich ab und schufen als Ergebnis unterschiedlicher Entstehungszeiträume Sedimente verschiedener Aus­dehnung und Tiefe« (35).
Gisela Drossbach untersucht die Entwicklung des Kirchenrechts als raumübergreifendes Kommunikationsmodell im 12. Jh. (41–61). Indem die zirkulierenden Kirchenrechtsammlungen erst gegen Ende dieses Zeitraums päpstliche Autorisierung erfuhren, verlief die Rechtsentwicklung der Zeit »nicht vom Zentrum zum Netzwerk, sondern vom Netzwerk zum Zentrum« (61). Die Kirchenrechtsentwicklung, an der das Deutsche Reich kaum Anteil hatte, stärkte als Antwort auf lokale Herausforderungen eher »unvorhergesehenerweise« (61) die päpstliche Zentrale.
Claudia Zey fasst die päpstliche Legatenpolitik im 12. Jh. (63–92) als institutionelle Antwort des Papstes auf ein allgemeinmenschliches Problem: Weil der Stellvertreter Christi nicht überall sein kann, muss er sich vor Ort vertreten lassen. Anhand der geographischen Reichweite und der Kommunikationsstrukturen zwischen Zentrale und Peripherie verfolgt sie den Aufstieg der Kardinallegaten als Multiplikatoren päpstlicher Autorität zu einer »unverzichtbaren Konstante« (92) päpstlicher Kirchenpolitik.
Christiane Schuchard (93–125) untersucht die päpstlichen Kollektoren als Protagonisten administrativer päpstlicher Raumerfassung und Repräsentanten der Zentrale vor Ort. Dabei geht es ihr nicht zuletzt um Fragen der Informationsgewinnung und Verarbeitung an der Kurie, die sie anhand der Kameralakten des 14. Jh.s rekonstruiert.
Jens Röhrkasten (127–181) stellt seinen Ausführungen zu den Kontakten der Päpste zum englischen Königreich im frühen 14. Jh. die alte Frage nach der Bedeutung des Attentats von Anagni voran: War der Anschlag auf Bonifaz VIII. eine Epochengrenze oder nicht? Er kann keine nachhaltige Beeinträchtigung der Rolle des Papsttums in der europäischen Politik nachweisen, stellt allerdings heraus, dass ein zunehmend auf die weltliche Herrschaft ausgerichtetes Kirchensystem, die Trennung des weltlichen Rechts von dem der Kirche und zuletzt die »Verstaatlichung« der päpstlichen Territorien im 14. Jh. zu einer grundsätzlichen Neupositionierung des Papsttums in der Welt geführt hätten.
Stefan Weiß (183–246) ordnet in einer umfänglichen Synthese den Ausbruch des Großen Abendländischen Schismas in den Kontext der deutsch-französisch-päpstlichen Beziehungen ein. Er widerlegt die oft behauptete Einwirkung Karls V. auf die Erhebung Clemens’ VII. von Avignon und stellt das Kardinalskollegium als eigentlichen Akteur hinter der verhängnisvollen Wahl Roberts von Genf wie auch als treibende Kraft hinter seiner Unterstützung durch Karl V. heraus. Ein Mehr an Kommunikation muss nicht immer von Vorteil sein: Die Kardinäle konnten durch die traditionell engen Verbindungen »sehr viel leichter auf den französischen als auf den deutschen König einwirken«, während der französische Hof »unmöglich ... Informationen aus unparteiischen Quellen« (214) habe gewinnen können. Sodann geht Weiß der Frage nach, ob das vorschismatische Avignoneser Papsttum von Frankreich abhängig gewesen sei. Diese – heute wohl kaum mehr vertretene – Abhängigkeit entlarvt er als Widerhall des nationalistischen Geschichtsbildes des 19. Jh.s und erinnert damit an die grundsätzliche historische Bedingtheit historischer Erkenntnis.
Thomas Wetzsteins (247–297) untersucht, ob die allgemeinen Konzilien des Hochmittelalters einen Beitrag zur Entstehung eines durch ein »dichtes Netz informeller Beziehungsgeflechte und kommunikativer Kontakte« (255) geprägten Kommunikationsraums geleistet haben. Zwar boten die Konzilien den Päpsten zweifelsohne ein hervorragendes Mittel, einen ausgedehnten geographischen Raum kommunikativ zu beherrschen, doch trugen sie kaum zur Bildung dezentraler Netzwerke unter den Konzilsteilnehmern bei. Sie beförderten eher regionale und schon bestehende Bindungen, etwa zwischen Studienkollegen und Nachbarbischöfen.
Birgit Studt (299–328) geht anhand der Reformverbände und Reformzirkel der Frage nach der Integration der Gebiete des Deutschen Reiches in die Informations- und Organisationsstrukturen der römischen Kirche im 15. Jh. nach. Konnte der Konzilspapst Martin V. die »Kommunikation über Reform ... monopolisieren« (303), oder hatten sich bereits »dezentrale Reformkreise als weitgehend selbstständig funktionierende, multilateral organisierte Kommunikationsnetze etabliert« (304)? Ausgehend von der besonderen Kommunikationssituation der Konzilien kann sie bis zum Ende des 15. Jh.s eine intensive Kommunikation zwischen der Kurie und deutschen Reformvertretern nachweisen.
Felicitas Schmieder (329–357) fragt nach den Beziehungen der Päpste zu den Ungläubigen außerhalb der Christenheit, denn der päpstliche Weltherrschaftsanspruch stieß an den Rändern der Christenheit faktisch an seine Grenzen und erzwang völkerrechtliche Überlegungen. Schmieder zeichnet die Grundlinien päpstlicher Politik gegenüber den ungläubigen Herrschern und Völkern in Afrika, Indien und Asien zwischen Expansion und Mission nach.
Im letzten Beitrag des Bandes beleuchtet Wojciech Iwanczak (359–378) den Antagonismus von Katholiken und Hussiten in Böhmen. Die Tatsache eines »zweigeteilten Volkes« erzwang von beiden Seiten im täglichen Zusammenleben Kompromisse und bedingte eine Pluralisierung und Dezentralisierung, die zumal auf Seiten der Kalixtiner zu mehreren, teils kurzlebigen, religiösen Zentren führte.
Insgesamt vermag der Band seinem Anspruch leider kaum gerecht zu werden. Gegenüber der Kommunikation der päpstlichen Zentrale mit verschiedenen Regionen und Protagonisten der Christenheit bleiben die im Einleitungsaufsatz zu Recht thematisierten, dezentralen und plurizentristischen Strukturen und »Kommunikationen« der mittelalterlichen Kirche im Hintergrund. So werden die Orden in ihren Beziehungen zum Papst wie in ihrer Binnenstruktur kaum thematisiert, und auch die Raum- und Kommunikationsstruktur der Kirchen vor Ort erhält nur wenig Aufmerksamkeit. Der Papst und die Papstkirche mögen als Garanten der christlichen unitas unverzichtbar gewesen sein; das Leben der Christen in den partes war von lokalen Kommunikationsstrukturen bestimmt, die sich im Maßstab päpstlicher Universalität ver­lieren.