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Ausgabe:

Dezember/1996

Spalte:

1191–1193

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Hünermann, Peter

Titel/Untertitel:

Ekklesiologie im Präsens. Perspektiven

Verlag:

Münster: Aschendorff 1995. VII, 300 S. gr.8°. Kart. DM 70,­. ISBN 3-402-03290-2

Rezensent:

Klaus Bartl

Die Gegenwart, in der Peter Hünermann seine "Ekklesiologie im Präsens" ansiedelt, hält dem Religionssoziologen Peter L. Berger zufolge ein Zwillingspaar von Irrwegen für die Kirche bereit: den restaurativen und intoleranten Fundamentalismus und den gleichgültigen Relativismus. Die Anforderung, auf keinen der beiden Irrwege zu geraten, steigert sich noch einmal für einen Professor für Dogmatik an der Katholisch-Theologischen Fakultät Tübingen, der ausdrücklich nicht einfach das Faktische legitimieren, sondern "kritische Orientierung" (2) bieten ­ und vermutlich ein ebensolcher Professor bleiben will. Hünermann ist mit dem vorliegenden Buch zur Lehre von der Kirche das erforderliche Kunststück gelungen, einen dritten, einen eigenen Weg zu gehen.

Im Unterschied zu einer von Hünermann angekündigten Darlegung der "Grundzüge des Wesens von Kirche" aus einer "kritischen Relecture" (2) der Offenbarungsgeschichte des Volkes Gottes, schauen die vorliegenden systematischen Erörterungen "von der gegebenen Situation der Kirche her in die Gegenwart", um so plausible "Orientierung und Perspektiven für den Weg im Hier und Heute zu gewinnen" (3). Im Laufe der Lektüre erschließt sich der Leserin und dem Leser ein gemeinsamer Fluchtpunkt der in Gestalt von 14 Aufsätzen vorliegenden Perspektiven. Es ist "die vom Zweiten Vatikanischen Konzil ins Auge gefaßte Vision der Kirche aus und in Teilkirchen" (284, letzter Satz des Buches!). In dieser Vision wird die Kirche auf die Füße der "Gemeinschaft der Gläubigen" der "congregatio fidelium" (1) gestellt und ihre "Einheit in der Vielheit" (J. A. Möhler, 121) realisiert.

Aus dem "ekklesiologischen Grundsatz: ´Die eine und einzige Kirche existiert in und aus Teilkirchen´" (255) zieht Hünermann die Konsequenz, daß Gemeinden wie Teilkirchen die grundlegenden Subjekte ­ nicht Objekte ­ der Kirche und selbständige Subjekte göttlichen Rechtes sind (121-127, 250-265 u. ö.). In diese Vision ist zugleich das gegenwärtige (!) und nicht zu unterbietende (89) Niveau neuzeitlichen Denkens eingegangen, das Hünermann auf der Grundlage eines geweiteten Personalismus aus dem Dialog mit der zeitgenössischem Philosophie erhebt: Die Struktur der Freiheit als wechselseitige Anerkennung des jeweiligen Andersseins, die nicht nur für Individuen, sondern auch für Gemeinschaften gilt (258f. u. ö.).

An der integrierenden Gesamtperspektive wird auf verschiedenen Feldern gearbeitet. Hünermann nimmt in drei großen Abschnitten zuerst fundamentale begriffliche, dann die Kirche und Gesellschaft allgemein betreffende und schließlich innerkirchliche Klärungen vor. Die gegen die Abfolge der ursprünglichen Veröffentlichungen durchgesetzte Systematik hat auf diese Weise ein Gefälle vom Abstrakten zum Konkreten, vom Fundamentaltheologischen zum Kirchenpolitischen bekommen, das auf der Höhe der Anthropologie beginnt (13-37) und in der Frage nach Rang und Stellung der Bischofskonferenzen (266-284) ausläuft. Sowohl zur Vermeidung des Mißverständnisses einer abstrakten Deduktion aus obersten Grundsätzen, als auch zum besseren Verständnis der aktuellen kirchenpolitischen Hintergrundsproblematik als Auslöser und Zielpunkt der allgemeineren Reflexionen wäre eine umgekehrte Reihenfolge der großen Blöcke denkbar. Doch die jetzige Anordnung wurde offenbar mit Bedacht gewählt. Denn dem als Frage formulierten Verdacht "regiert bei systematisch-theologischen Reflexionen zum Thema nicht grundsätzlich ­ ein politisches Wollen?" (248), kann man nicht mit einer prinzipiellen Antwort, sondern nur durch den mühsamen Vollzug des Arguments begegnen. Hünermann bietet eine echte Alternative zu einem mit leichten Argumenten nur notdürftig bedeckten Dezisionismus, wie er auf diesem Themenfeld nicht selten anzutreffen ist.

Die verschiedenen Entfaltungen des ekklesiologischen Grundsatzes der Kirche aus Teilkirchen bringen Hünermann ­ zumindest für evangelische Augen ­ in erstaunliche Nähe zu reformatorischen Grundbestimmungen von Kirche. Die Betonung der Gemeinschaft der Gläubigen könnte aus der Confessio Augustana Art. 7 stammen.

Die geradezu definitorische Beschreibung der Kirche als creatura verbi (101), wodurch die Predigt konstitutiven Rang für die Kirche erhält (104), trifft urreformatorische Einsicht ­ bleibt allerdings unausgeglichen neben den anderen Aufsätzen stehen, die die Eucharistie als kirchenkonstitutiv hervorheben (bes. 204-247). Das Verständnis des Amtes von der je konkret als Versammlung existierenden Kirche her und nicht umgekehrt (bes. 239-247) berührt einen zentralen Aspekt des "Priestertums aller Gläubigen". Nicht zuletzt erinnert die gelegentliche, aber deutliche Unterstreichung der Sündhaftigkeit der Kirche (13, 116, 168-160 u.ö.) an Luthers Rede von der Ekklesia als "maxima peccatrix". Darüber hinaus lassen sich zu den Überlegungen zur Notwendigkeit der präziseren Selbstbestimmung und Identitätsbildung der jeweiligen Teilkirchen in der pluralen Gesellschaft (85-89, 168) in der gegenwärtigen protestantischen Theologie vergleichbare Ansätze finden (z. B. E. Herms).

Warum wird diese ökumenische Perspektive in der Regel (Ausnahmen: 127, 153) verschwiegen? Vielleicht gehört dies zu dem eingangs beschriebenen Kunststück des dritten Weges. Vielleicht aber wird das, was hier implizit geblieben ist, ja später bei dem von Hünermann in Aussicht gestellten ersten Teil der Ekklesiologie explizit. Dann ließe sich zeigen, daß manche der jetzt erhobenen "Forderungen", sich nicht nur "aus der Wechselbeziehung von Kirche und moderner Welt ergeben" (127) und also z. B. zur Stärkung der Predigt als Konstitutivum der Kirche manche theologischen Gesprächspartner mindestens ebenso nötigen (z. B. Luther oder Paulus: Röm 10,17) wie "Philosophische ´Gesprächspartner´" (90).

Eine kleine Beobachtung am Schluß: Ist es nur ein technisches Versehen, daß der Aufsatz "Glaube und Theologie ­ Momente europäischer Identität?" (171-185), der nur am dünnen Faden mit der ekklesiologischen Fragestellung verbunden ist, im Nachweis der Erstveröffentlichungen fehlt?