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Ausgabe:

Januar/2010

Spalte:

50-53

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Sellner, Hans Jörg

Titel/Untertitel:

Das Heil Gottes. Studien zur Soteriologie des lukanischen Doppelwerks.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2007. XIII, 591 S. gr.8° = Beihefte zur Zeitschrift für die neutestament­liche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche, 152. Lw. EUR 128,00. ISBN 978-3-11-019699-3.

Rezensent:

Hans Klein

Die lukanische Soteriologie ist der des Apostels Paulus nicht vergleichbar. Von einem im Kreuze Christi für jedermann erworbenen Heil weiß er nichts. Vor rund 50 Jahren ging wegen solcher defizitären Soteriologie, wie man meinte, die Parole »haut den Lukas« um. Aber die exegetische Forschung hat sich immer tiefer in die Denkweise des Apostels hineingearbeitet und die Theologie dieses Evangelisten von seinem anders gearteten Standort und Standpunkt zu erarbeiten versucht. Viele Untersuchungen zur lukanischen Theologie sind seither erschienen. Sie haben den Boden für eine Zusammenfassung der erbrachten Erkenntnisse und eine systematische Darstellung der lukanischen Soteriologie vorbereitet. In diesem Sinne ist das zu besprechende Werk von S. sehr zu begrüßen.
Es ist von einem Mann geschrieben, der die systematisch-theologische Dimension der Forschungsergebnisse nicht nur auswerten, sondern auch sachgemäß darstellen kann. Seine Analysen der verschiedenartigen Texte gehen den vielfältigen Problemen derselben nach, beginnend mit der Textkritik und Begriffsbestimmung über die Auswertung der Parallelen, der Beachtung des unmittelbaren und des weiteren Kontextes bis hin zur Auslotung der Konsequenzen der erkannten Sachlage. Dadurch werden Aussagen der Einzeltexte eingehend analysiert und bis in die kleinsten Verästelungen dargestellt. Es ergibt sich ihm dadurch ein klares Gesamtbild, das, weil Lukas kein systematisch denkender Theologe ist, erschlossen und aus ganz verschiedenen Einzelbausteinen mosaikartig zusammengestellt werden muss.
Dieses Gesamtbild, das sich in zehn Kapiteln erarbeitet, lässt sich so darstellen: Gottes Heilsangebot an Israel im Alten Testament findet seine Erfüllung in Jesu Handeln als Irdischer und in der Wirkung des Namens des Erhöhten als Heil für alle Menschen. Der Empfang dieses Heils ist an die Änderung des Sinnes und des Lebenswandels gebunden und ist bereits im irdischen Leben der Menschen erfahrbar. Es wird gekrönt bei der Auferstehung der Toten am Ende der Tage, aber für den Einzelnen spätestens mit seinem Tod. Der Tod Jesu hat Bedeutung für die Entstehung der Gemeinde (Apg 20,28), im Abendmahl gedenkt diese des Abrahambundes, also der Verheißung Gottes an Abraham. Der Schluss der Apostelgeschichte markiert nicht eine endgültige Sicht der Verstockung Israels, es ist eine Diagnose der gegenwärtigen Situation (375). Sehen wir genauer zu.
In der Einleitung (1–19) werden die Voraussetzungen der Arbeit besprochen, wobei S. zunächst die Notwendigkeit seiner Studie erläutert (1–3), dann Arbeitsdefinitionen der wichtigsten Begriffe (Soteriologie, Heilsgeschichte und Eschatologie) bietet (3–11), um sich danach der Konzeption der Studie zu widmen (11–19), wo er betont, dass er den Texten gegenüber den Themen den Vorrang gibt, und begründet, welche Texte er näher untersuchen will. In Kapitel I (21–80) untersucht S. die beiden Hymnen aus Lk 1 (Magnifikat und Benediktus), die mehrfach vom Heil oder vom Retter sprechen, sowie die Verkündigung des Engels Lk 2,11, die den Retter ankündigt. Darin geht er der Form und der Struktur der Texte sowie ihren soteriologischen Aussagen nach. Bei Lk 2,11 meint er, dass die Titel »Retter« und »Herr« von Lukas eingebracht sind und darum innerhalb des »Heilskonzeptes des Evangelisten« erhöhte Bedeutung haben. In der Erfüllung der Verheißungen des Alten Testaments mit dem Kommen des davidischen Messias setzt ein Heilswirken Gottes neu ein, das gesellschaftliche Veränderung bringt und eine neue Beziehung Gottes zu seinem Volk möglich macht. Das »heute« von Lk 2,11 zeigt den Beginn solchen Rettungshandelns an.
Die beiden zentralen Texte über Jesu Heilsangebot (Lk 4,18–21 und 7,22) werden in Kapitel II (81–105) näher betrachtet. Danach steht Jesu Wirken ganz im Zeichen der Erfüllung der alttestamentlichen Verheißung. Das Heil realisiert sich bereits am Anfang der Tätigkeit Jesu in seinem die Wirklichkeit verändernden Wort: Die Erfüllungsproklamation »entfaltet eine Wirkung, indem sie aus sich heraus die Wirklichkeit verändert« (98). In Kapitel III (107–168) wird Jesu Sünderannahme an den Texten Lk 19,1–10; 5,27–32 und 15,11–32 besprochen, wobei S. Fragen der Tradition und Redaktion nachgeht und auf diese Weise eine Tiefenschärfe in der Darstellung zu erreichen sucht. Dem bekannten Gleichnis vom verlorenen Sohn, das er unter dem Motto des »liebenden Vaters« relativ kurz be­spricht, entnimmt er, dass Gott den Menschen in die Freiheit ziehen lässt wie der Vater seinen Jüngsten, ohne diesen Wegzug zu bewerten. Hier hätte man sich eine Differenzierung zwischen Bild und Sache gewünscht. Bei der Analyse der Zachäusgeschichte (Lk 19,1–10) folgt S. der gängigen These, dass V. 8 sekundär sei. Leider hat er hier und auch sonst die Lukanismen nicht zur Geltung kommen lassen, was erstaunt, wenn man bedenkt, wie genau sein Lehrer W. Radl diese in seinem Kommentar notiert hat.
Dem Zusammenhang von Heil und Heilung wird in Kapitel IV (160–212) nachgegangen, wobei S. die Abschnitte 5,17–26; 17,11–19 ausführlich analysiert und kommentiert. In Kapitel V (213–227) werden Lk 24 und Apg 1 näher betrachtet und als »Zwischenzeit« (220) innerhalb des Heilshandelns Gottes gekennzeichnet. Darin werde versucht, die beiden Zeiten des Irdischen und des Erhöhten eng aneinander zu binden und so die Kontinuität zu bewahren. Dem neuen Modus der Heilsbewirkung in der Frühzeit der Apostel geht Kapitel VI (229–266) nach und untersucht die Pfingstpredigt des Petrus, insbesondere seinen Appell an die Hörer (2,37–40). Hier wird der Bußruf hervorgehoben und das neue Ziel beschrieben: Taufe mit Empfang des Heiligen Geistes. Der Geist wird darin als eine Form bleibender Wirksamkeit Jesu beschrieben. An diese Überlegungen schließen sich jene zum »Heil im Namen des Erhöhten« in Kapitel VII (267–317) an, wobei die Wunder und der Glaube besonders ins Blickfeld treten. S. stellt fest, dass im Namen Jesus selbst präsent ist. Zugang hat man zu ihm im Glauben, der ein gewisses Wissen vermittelt, aber vor allem die Beziehung zum Erhöhten sichert.
Stand in den vorherigen Abschnitten das irdisch erfahrbare Heil im Mittelpunkt, so wendet sich S. in Kapitel VIII (317–359) der Zukunft des Heils innerhalb der Endereignisse zu. Er stellt fest, dass es für Lukas keine brennende Naherwartung mehr gibt und dass darum die Zeit nach dem Tod als Gemeinschaft mit Jesus erwartet werden darf, wie das Gespräch mit dem Schächer am Kreuz (Lk 23,42–43) zeigt. In Kapitel IX (361–402) stellt S. fest, dass der Ort des Heils Israel ist. Trotz der Ablehnung einiger aus dem Gottesvolk bleibt der Bußruf auf dieses konzentriert, auch wenn die »Diagnose« am Ende der Apostelgeschichte (Apg 28,23–28) ungüns­tig aussieht. Der Weg zu den Heiden ist schon Lk 2,30–32 vorgezeichnet und wird in der Zeit der Apostel konsequent durchgeführt. Die Heiden werden in das eine Gottesvolk integriert, sie sind Teil des wiederhergestellten Israel (395). Das letzte Kapitel (X; 403–480) geht der umstrittenen Frage der Heilsbedeutung des Todes nach. Eingehend untersucht S. die theologischen Zusammenhänge um das für Lukas so bedeutsame »Muss« im Rahmen eines ausführlichen Nachdenkens über Gottes Plan. Er kommt zum Schluss, dass Lukas glaubt, das Motiv des Sühnetodes innerhalb seiner Theologie »nicht zu brauchen« (479). »Der Vollzug des Heilsplans und insbesondere die Sendung Jesu, die das Heil in der unmittelbaren Begegnung mit ihm vermittelt, der neue Modus der Heilswirkung in der Zeit nach Pfingsten durch den erhöhten … beschreiben in jeder Hinsicht befriedigend Heilswirkung, worin das Heil für den einzelnen besteht …« (479). Abschließend wird das Ergebnis in zehn Schritten festgehalten (480–497). Es folgen ein Literaturverzeichnis (499–551) und ein Stellenregister (553–591).
Nicht genügend zur Geltung kommt in dieser umfassenden und eindrucksvollen Studie die Sicht des Lukas, dass in sichtbarem Unheil unsichtbares Heil verborgen liegt, eine Sicht, die ihn mit Paulus und besonders mit Johannes verbindet. Das hängt damit zusammen, dass diese Sicht sich nicht in Erzählungen niederschlägt, sondern eher verborgen erscheint, was durchaus der Sache entspricht. Die Emmausjünger stellen fest: »Wir aber hofften, dass er Israel erlöst« (Lk 24,21) und müssen hören, dass der Menschensohn durch viel Leiden in seine Herrlichkeit eingeht (24.26), und analog dazu sagt der lukanische Paulus, »wir müssen durch viel Leiden in das Reich Gottes eingehen« (Apg 14,22). Dieser Sicht entsprechen die Leidensankündigungen und die Nachfolgesprüche. Weil S. dieser Zusammenhang entgeht, sieht er die Auferstehungsgeschichte als »Zwischenzeit« an, als »Lücke« des Heilshandelns Gottes innerhalb der »Heilsgeschichte«, wo sie vom Konzept des Lukas her doch wohl der Höhepunkt des Evangeliums ist, sosehr er die Bedeutung, dass Jesus der Erste der Auferstehung (Apg 26,23) und Anführer zum Leben (Apg 3,15) ist, erkennt und in sein Heilskonzept einbaut (437).